Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne

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1.1 Die griechische Polis

Etwa seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. entstanden in der kleinräumlichen, küstennahen Landschaft Griechenlands poleis, Stadtstaaten, die sich zu Stadtrepubliken entwickelten. Sie stützten sich auf eine Schicht freier Bürger (polites), für die das Recht auf Mitbestimmung in der periodisch (in Athen bis zu vierzigmal im Jahr) tagenden Volksversammlung, auf die Besetzung von periodischen Wahlämtern und der Rechtsprechung mit der Pflicht zum Kriegsdienst einhergingen. Die wohlhabenden Bürger hatten sich finanziell oder mit Dienstleistungen an Gemeinschaftsaufgaben zu beteiligen. Für diese öffentliche Tätigkeit brauchten sie Zeit: Sie mussten abkömmlich sein, und das konnten sie nur, weil der Lebensunterhalt von Sklaven erwirtschaftet wurde: Die Bürgerfreiheit der Polis war die einer kleinen Minderheit. In unterschiedlichen Ausformungen, von denen uns die athenische Demokratie die bekannteste – allerdings auch die radikalste – ist, entwickelte die Polis eine „urbane Territorialstaatlichkeit“ (Stefan Breuer), die im Inneren relativ gewaltfrei war, weil der Wettbewerb um Macht rechtlich eingehegt war, man die Mitbewerber also nicht einfach totschlagen konnte; eine Staatlichkeit mit dauerhaften Formen der Entscheidungsfindung und der Administration sowie – das war ganz neu – einer Form der breiten Partizipation, die seit dem 5. Jahrhundert mit dem Begriff der Demokratie belegt wurde.3 Die Amtsinhaber agierten im Wesentlichen ehrenamtlich; die Spitzenpositionen wurden hauptsächlich durch Los (unter der Annahme, dass alle Bürger gleich und gleich befähigt seien), aber auch durch die Wahl besetzt.4 Sie mussten sich um dieses Amt bewerben, was eine gewaltfreie Form des Wettbewerbs und die rhetorische Ansprache an die Bürger, also den öffentlichen Diskurs über politische Fragen beförderte. Sie mussten sich für ihr Tun verantworten, bis dahin, dass sie von der Volksversammlung in die Verbannung geschickt wurden, wenn man der Ansicht war, sie hätten gegen ihre Pflichten verstoßen. Durch diese Formen der wettbewerblichen Politik gelang es, der Usurpation der Macht durch kleine oligarchische Eliten einen Riegel vorzuschieben: Während in anderen Gesellschaften einzelne und ihre Familien herrschten (und zwar meist gestützt auf nackte Gewalt), war es in der griechischen Polis die Schicht der bevorrechteten Stadtbürger, und deren Herrschaft wurde im Wesentlichen für legitim gehalten.

Die griechische Polis, die auch nach Kleinasien und Sizilien exportiert wurde, hat in der Rezeption und Mythenbildung der westlich-europäischen Tradition den Status einer „Zauberformel“ (Lundgreen) erhalten; demgemäß ist der Begriff kritisiert worden.5 Abgesehen von der Vielzahl von politischen Mitbestimmungsformen, die sich dahinter verbergen, ist häufig Athen, das in mancherlei Hinsicht wohl eher eine Ausnahme war, als pars pro toto für die Polis gesetzt worden. Darüber hinaus ist die oben gegebene Schilderung bei genauerer Beschreibung auch für Athen differenzierungswürdig. So etwa war die Grenze zwischen freien Vollbürgern und mit minderen Rechten ausgestatteten Einwohnern, gar den Sklaven nicht immer trennscharf. Unter Perikles etwa wurden 457 v. Chr. Diäten für die ärmeren Vollbürger eingeführt, damit sie an den politischen Veranstaltungen teilnehmen konnten, ohne sich um ihren Unterhalt zu sorgen. Die Bürger waren also nicht alle so wohlhabend, wie man sich das denken würde.

Dennoch ist festzuhalten, dass sich in den griechischen Städten erstmals eine neue Form der politischen Integration vollzogen hat, in den Worten Uwe Walters „sicher kein Moderner Staat, aber ebenso sicher ein sehr moderner Staat“.6 Mehr noch: Speziell in Athen haben sich Mitbestimmungsformen entwickelt, die zwar nur einer relativ kleinen Schicht von Bürgern zugutekamen, die aber als historische Vorbilder bis in die Moderne gewirkt haben. Allerdings funktionierte diese Form von Staatlichkeit auf der Basis von relativ kleinen Gesellschaften. Die Polis war eine face-to-face-Veranstaltung: Die Bürger kannten sich persönlich, wussten um ihre Bindungen und Traditionen und konnten somit eine Zusammengehörigkeit aufbauen, die auf persönlichen Beziehungen beruhte. Platon dachte sich sein Konzept eines „Idealstaats“ als eine kleine Gemeinschaft mit nicht mehr als 5040 Vollbürgern. Als aber im 5. Jahrhundert Athen über die eigentliche Stadt hinauswuchs und sich über ganz Attika ausdehnte, umfasste die athenische Polis vielleicht 30–40.000 Vollbürger – Platon hätte ihr die Funktionsfähigkeit abgesprochen.

Die griechische Polis und vor allem Athen hat nicht nur Institutionen hervorgebracht, die die moderne Staatlichkeit schon in nuce aufwiesen. Sie hat vor allem eine Selbstbeobachtung und Selbstreflexion entwickelt: Die ersten modernen Staatstheorien sind in der griechischen Polis entstanden.7 Besonders wichtig ist Aristoteles geworden, der in seiner „Politeia“ eine politische Philosophie entworfen hat, die zu einer normativen Grundlage moderner Staatlichkeit geworden ist. Er entwickelte die Lehre von den Staatsformen, die – vereinfacht – eine Abfolge der drei „guten“ Formen mit drei „schlechten“ Formen kennt, die jeweils aufeinander folgen. „Gut“ heißt: am Gemeinnutz orientiert; „schlecht“: es geht um den Eigennutz:

(1.) Die Einzelherrschaft: Monarchie – nicht notwendig ein König, wohl aber eine dem Gemeinwohl dienende Alleinherrschaft; sie kann zur Tyrannis degenerieren, einer Alleinherrschaft, die nicht dem Gemeinwohl dient.

(2.) Die Herrschaft von wenigen ist die Aristokratie, die Herrschaft „der Besten“, der „Tugendhaftesten“; ihre Degenerationsform ist die Oligarchie, also die Herrschaft von wenigen, die aber nur am Eigennutz interessiert sind.

(3.) Die Herrschaft von vielen nennt Aristoteles „Politie“: die Herrschaft der Besonnenen, der Vernünftigen. Degeneriert sie, wird sie zur Demokratie oder auch Ochlokratie (die Herrschaft der Armen, des Pöbels).

[Das Schulwissen, dass „Demokratie“ die gute, „Ochlokratie“ die schlechte Form sein soll, ist postfaschistische Geschichtspolitik, jedenfalls insoweit sie sich auf Aristoteles beruft, der ausdrücklich die politie so bezeichnet und die Demokratie eher negativ, als Herrschaft der kleinen Leute beschreibt. Allerdings herrschte in der athenischen Alltagssprache wohl „Demokratie“ vor – vielleicht ein Hinweis darauf, dass die realen Bürger der Polis weniger wohlhabende Sklavenhalter als eher Handwerker und kleine Händler waren. Die positive theoretische Besetzung des Demokratiebegriffs geht auf den griechischen Historiker Polybios zurück, der 200 Jahre nach Aristoteles lebte; seine Begriffsbildung reflektiert die gewandelten sozialen Bedingungen der griechischen Stadt, die damals nur im Ausnahmefall noch eine selbständige politische Einheit war.]

Die politische Philosophie des Aristoteles hat zwei weitere, bis weit in die Neuzeit reichende Vorstellungen von Staatsformen entwickelt: Erstens die Theorie der gesetzmäßigen Abfolge von Verfassungsformen und zweitens die Idee, dass es die Mischverfassungen sind, die beste Ergebnisse zeitigen. Noch die Diskussion der amerikanischen Verfassung in den 1780er Jahren war von dieser Vorstellung geprägt, dass es eine Mischverfassung von monarchischen (Präsident), aristokratischen (Senat) und „demokratischen“ (Repräsentantenhaus) Momenten sei, die ein politisches System stabil mache. Vor allem in Europa hat sich die Mischverfassungstheorie etwa im Zwei-Kammern-Prinzip gezeigt: Ein Ober- und ein Unterhaus wie in England repräsentiert bis heute die Vorstellung, dass die verschiedenen Klassen der Gesellschaft in eine institutionell harmonierende Form gebracht werden müssen.

1.2 Das römische Imperium

Der Stadtstaat Rom, der in etwa zur selben Zeit (der Legende nach 753 v. Chr.) in Italien entstand, war zunächst eine Monarchie und wurde im 5. Jahrhundert ebenfalls eine Stadtrepublik, allerdings von aristokratischen Eliten (Patriziern) geleitet, die in steter Auseinandersetzung mit den nichtadligen Freien der Stadt (Plebeiern) standen. Es handelte sich um einen Territorialverband, ähnlich wie moderne Staaten. Auch die römische Wirtschaft und Politik basierten natürlich auf Sklaverei. Die Römische Republik, die im 3. Jahrhundert den größten Teil des italienischen Festlandes umfasste, in damaligem geographischen Verständnis global auszugreifen begann und um 200 (nach dem Zweiten Punischen Krieg) zum Weltreich wurde, entwickelte wie die Polis eine höchst differenzierte Fülle von Institutionen, (Wahl-) Ämtern und Regeln des Machterwerbs.8 Drei Institutionen bildeten in „Gewaltenteilung“ (Demandt) die höchsten Instanzen: Erstens das Volk, das in verschiedenen Formen der Versammlung Entscheidungen über Gesetzgebung, Krieg und Frieden und die Wahl von Staatsbeamten traf, das aber in der Volksversammlung, der contio (die keine Entscheidungen traf), auch ein Resonanzraum für den politischen Diskurs war.9 Zweitens der Senat, der aus gewählten erfahrenen Mitgliedern der Oberschicht bestand, sich zu allen wichtigen Fragen, namentlich der Außenpolitik, äußerte, Finanzaufsicht wahrnahm und dem die höchste Autorität zugesprochen wurde. Der Magistrat als dritte maßgebliche Institution war mehr als eine Exekutive, sondern umfasste Einzelämter mit hoher politischer Selbständigkeit bis hin zu kriegerischen Unternehmungen: etwa Quästoren (Finanzen), Prätoren (Rechtsaufsicht) oder Konsuln, die Leitungsfunktion, insbesondere in militärischer Hinsicht hatten. Zur Seite standen ihnen entlohnte und zunächst nur auf Zeit, später auf Dauer bestellte ausführende Diener, die Apparitoren.

 

Die Magistrate wurden von Volksversammlungen gewählt, und zwar maßgeblich nach Regeln einer Ämterlaufbahn, dem cursus honorum, und das bedeutete: Es waren Mitglieder der aristokratischen Oberschicht, die gewählt wurden. Auch „Plebeier“ wie Pompeius oder Cicero stammten aus aristokratischen Familien. Insofern handelte es sich um einen anderen Typ von Mischverfassung, einen fluiden zumal, denn Plebeier und Patrizier handelten die Macht immer wieder neu aus. Volksversammlungen muss man sich dabei nicht als Zusammenkünfte des ganzen männlichen Bürgervolks von Rom vorstellen, sondern eher als Versammlungen derjenigen, die Zeit hatten und sich auf dem Forum herumtrieben.10

Auch das römische Kaisertum, das mit Augustus 27. v. Chr. angesetzt wird, bedeutete in der Entwicklung der Staatlichkeit keinen Bruch, und die Zunahme des Personenkults stellte die Rationalität der Institutionen nicht in Frage. Im Gegenteil: Die religiöse Aura hat es wohl eher erleichtert, in der höchst traditionalen, auf Ehre und Rang bedachten römischen Gesellschaft politische Reformen durchzusetzen. Die Reformen Diokletians (284–305) und Konstantins des Großen (306–337), die die Reichskrise des 3. Jahrhunderts beendeten, führten leistungsfähige Provinzialverwaltungen, eine umfassende Steuerpolitik und tragfähige Rechtsinstitute (die bis in die Moderne reichen) ein. Meist wird zwar zu dieser Zeit das Römische Reich schon auf dem absteigenden Ast gewähnt; aber seine höchste Ausprägung an Staatlichkeit erreichte Rom erst Anfang des 4. Jahrhunderts – imperiale Macht und staatliche Organisation gingen hier nicht überein.

Damit sind einige zentrale Momente römischer Staatlichkeit angesprochen oder zumindest angedeutet:

(1.) Es gab stabile, überpersönliche Institutionen zur Regierung und Gesetzgebung, die (auch wenn sie den jeweiligen Machtverhältnissen häufig nachgeben mussten) ein Gerüst darstellen konnten, das Macht verteilte.

(2.) Es gab eine kontinuierliche und reformierbare Verwaltung, die (jedenfalls im Prinzip) nicht nach Willkür, sondern nach Verfahrensgrundsätzen operierte und in vieler Hinsicht vorbildhaft für moderne Verwaltungen geworden ist. Allerdings wird man nicht von Institutionen im modernen Sinn sprechen. Vielmehr waren es einzelne Amtsträger und ihre Stäbe (also Verwandte und Klienten), die jeweils diese Aufgaben übernahmen und vom nächsten Amtsträger und seinen Leuten abgelöst wurden. Insofern wurde kontinuierlich verwaltet – aber sozusagen von je unterschiedlichen Verwaltungen.

(3.) Vielbegehrt war das römische Bürgerrecht, das Mitsprache in der Volksversammlung und Wahlrecht sicherte, eine bestimmte Rechtsbehandlung (z. B. Verschonung von Folter und Todesstrafe) garantierte und äußere Symbole wie das Tragen der Toga kannte. Mit der Expansion des Römischen Reichs wurde es auch auf außerhalb der Stadt ausgeweitet. Man kann es als eine Protoform der modernen Staatsbürgerschaft verstehen – lange Zeit nur für eine kleine Minderheit der Menschen. Doch im Jahre 212 n. Chr. dehnte Kaiser Caracalla das römische Bürgerrecht auf alle freien Bewohner des Römischen Reichs aus und beförderte damit die politische Integration, entgrenzte aber auch die politischen Zugehörigkeiten.

(4.) Das römische Recht war ein Rechtssystem, das auch private Rechtsverhältnisse zu regeln beanspruchte, das zunehmend auf geschriebene Rechtssätze anstatt auf Gewohnheitsrecht setzte und das im 6. Jahrhundert als „corpus iuris civilis“ zu einem Rechtstext (genauer: einer Sammlung von Rechtssätzen) wurde, der im 19. Jahrhundert die Staatsbildung in Europa nachhaltig beeinflusste und z. B. vorbildhaft für den Code Napoleon wurde.

(4.) Das Römische Reich war bei Weitem der größte Militärstaat der Antike, und Reinhards Diktum, dass Staatlichkeit eine Funktion der Kriegsführung ist, ist hier in jedem Fall am Platze. Die militärische Dienstpflicht, die zunächst die Kehrseite des römischen Bürgerrechts war, dauerte im Prinzip 30 Jahre (!), so dass mit der Zeit eine Proletarisierung der Armee stattfand. Wohlhabende Bürger kauften sich lieber frei. Aber noch lange wurden diejenigen als Soldaten eingesetzt, die auch als Bauern tätig waren – und deren Getreide brauchte man ja auch. Deshalb gab es zur Zeit der Republik und in der frühen Kaiserzeit regelrechte Feldzugsaisons: Die Kriege wurden fast ausschließlich im Frühling (nach der Aussaat) geführt und möglichst vor Beginn der Ernte wieder beendet. Je größer das Reich wurde, desto schwieriger wurde das und desto weniger konnte Rom auf seine eigenen Bauern als Soldaten zurückgreifen, sondern musste diese aus den unterworfenen Völkern herauspressen oder sich Söldner einkaufen.

(5.) Rom hat nicht nur versucht, seine Untertanen zur Steuerleistung heranzuziehen, sondern auch Informationen über sie zu gewinnen, wie rudimentär auch immer. Es ließ Volkszählungen durchführen, um die wehrfähigen Männer zu erfassen und ihren Besitz zu verzeichnen. Die Volkszählung des Augustus, die Josef und Maria nach Bethlehem zu reisen veranlasst, ist das bekannteste Beispiel, das sich allerdings nur auf einen Provinzialzensus bezieht. Dass Kaiser Augustus sein gesamtes Reich erfassen ließ: Das war nicht der Fall.

(6.) Darüber hinaus erbrachte das Römische Imperium auch infrastrukturelle Leistungen, die man unter dem Begriff „Innere Staatsbildung“ verzeichnen könnte und die ihrerseits Verwaltungen hervorbrachten. Zu erwähnen wären vor allem Wasserleitungen, das imperiumsweite Straßensystem und eine umlaufende Währung. Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. war das der Sesterz; 309 führte Konstantin der Große den Solidus ein, der bis ins Hohe Mittelalter als Leitwährung in Europa im Umlauf war. Aber auch die Einführung von Latein als Lingua franca, die eine Verständigung im ganzen Imperium ermöglichte, könnte darunter gerechnet werden.

Allerdings wurden viele dieser Institutionen gewissermaßen nur im Prinzip entwickelt. Wie es in der Praxis aussah, steht vielmals auf einem anderen Blatt. Insofern war manches an der römischen Staatlichkeit mehr Idee als durchgehaltene Wirklichkeit. Viele der Momente moderner Staatlichkeit waren auch noch gar nicht oder kaum entwickelt. Das „Staatsvolk“ blieb jenseits des römischen Bürgerrechts, das, wie gesagt, lange Zeit nur für eine Minderheit galt, eine opake Sache; ein klares Staatsgebiet ließ sich jenseits der Stadt Rom nur schwer beschreiben; alle farbigen Eintragungen in historischen Atlanten, die so etwas wie ein Staatsgebiet mit klaren Grenzen suggerieren, sind reine Annäherung, wenn nicht gar Fiktion; der Staat war zwar gewalttätig, aber seine Staatsgewalt hatte Grenzen: Die öffentliche Sicherheit war nach modernen Maßstäben nur in engen Grenzen gegeben, denn eine Polizei im modernen Sinn – als bürokratisch organisierten Erzwingungsstab – gab es nicht.11

Das Römische Reich war ein Imperium; damit ist ein Typ von großflächiger Herrschaft gemeint, der im 19. Jahrhundert seine größte Ausdehnung erlangte und der gewöhnlich dem Typ der Nation (den es zu römischen Zeiten noch nicht gab) entgegengesetzt wird. Wenn man das Römische Imperium mit der griechischen Polis vergleicht, so wird deutlich, dass die soziale und kulturelle Homogenität der Polis weitaus größer war. Das Römische Reich lebte mit der Heterogenität und kümmerte sich nicht viel um die sonstigen Belange der Untertanen. Die Griechen kannten eine gemeinsame Götterwelt. Im imperialen Rom galt das Prinzip, das im Pantheon baulich umgesetzt wurde: ein Tempel für alle Götter, die man sich so vorstellen mochte. Nicht nur Jupiter und Hera, sondern auch Isis, Mithras oder Jesus wurden hier verehrt. Der moderne Staat zieht es demgegenüber vor, eine einheitliche ideologische Grundlage (die meist nicht mehr religiöser Art ist) zu haben.

Eine solche einheitliche Grundlage zeichnete sich ab, als das Christentum in Rom unter Konstantin dem Großen 313 zunächst erlaubt und schließlich unter Theodosius dem Großen im Jahr 380 faktisch zur Staatsreligion wurde. Die christliche Kirche ist einer der Gründe dafür, warum die moderne Staatlichkeit sich in Europa herausbildete. Die Kirche leistete nämlich eine innere Durchdringung der Gesellschaften, die ebenso protostaatlich war und die mit den Institutionen des Reichs enge Verbindungen einging. Die kirchliche Verwaltungsgliederung der Diözesen und Pfarreien ging einher mit einer planvollen Ausbildung von gebildeten Verwaltungseliten, den Priestern. Spezialisierte Bildungs-, Kultur- und Wirtschaftsinstitutionen entstanden in den Klöstern, die die Bildungszentren des Reichs wurden. Nach dem Niedergang des Römischen Reiches bildeten Klöster und Bischofshöfe im Frühmittelalter die Kerne protostaatlicher Funktionen – allerdings auf regionaler und nicht auf zentraler Ebene. Mit den Geistlichen gab es in einer Zeit, in der kaum jemand lesen und schreiben konnte, ein in der schriftlichen Verwaltung geschultes Personal, weshalb die hohen Beamten an den Königshöfen sehr häufig Geistliche waren. Die Kirche stellte ein weitläufiges Netz an Kommunikation zur Verfügung, das Latein war weiterhin eine Sprache, in der sie sich verständigen konnte. Nicht zuletzt verfügten die kirchlichen Amtsinhaber über eigene militärische Kapazitäten – man darf sich die Bischöfe zu dieser Zeit nicht allzu friedfertig vorstellen. In der ottonischen Zeit, also im 10. Jahrhundert, stellten sie bis zu zwei Drittel des Reichsheeres.

1.3 Entstaatlichung im Mittelalter

Auch wenn eine neuere Forschung Momente von Staatlichkeit auch im Mittelalter entdeckt und auch auf den neuen Begriff der Governance Bezug nimmt, vor allem aber gegen die Vorstellung einer Linearität argumentiert, wird man trotzdem am Befund einer Entstaatlichung im Mittelalter nicht vorbeikommen.12 Über lange Zeit kam die soziale Ordnung weithin ohne staatliche Momente aus. Dieser Umstand war im 19. Jahrhundert und bis weit darüber hinaus lange Zeit nicht wirklich zur Kenntnis genommen worden. Vor allem für die deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts war der mittelalterliche „Staat“ eine Etappe auf dem Weg zum modernen Staat. Sie konstatierten eine kontinuierliche, aufsteigende Linie und begründeten die Momente der Staatlichkeit mit einer (wie sich bald herausstellte: recht imaginierten) Konstruktion einer spezifisch germanischen Staatlichkeit. Otto Brunners These und Begrifflichkeit von „Land und Herrschaft“ ist in der Rezeption selbst in die Kritik geraten, nicht zuletzt deshalb, weil Otto Brunner die nationalsozialistische Imprägnierung seiner Denkfiguren auch mit vielerlei Korrekturen nicht aus der Welt schaffen konnte. „Herrschaft“ war eben auch ein sehr deutscher Begriff. Dennoch ist festzuhalten, dass man die mittelalterlichen politischen Ordnungen nicht einfach als Vorgeschichte des modernen Staates sehen kann, viel weniger als die antiken Ordnungen. Anders gesagt: Rom und Griechenland sind unserem Verständnis von politischer Ordnung viel näher als das europäische Mittelalter. Dieses allerdings dürfen wir uns ebenso wenig als eine aufsteigende Linie (sozusagen: Das finstere Mittelalter wird mit der Zeit immer ein wenig heller.) vorstellen, sondern als unterschiedliche Stufen der Intensität von Staatlichkeit, die mal besser, mal schlechter funktionierte und die sich etwa in Frankreich eher und stabiler ausbreitete als im deutschen Sprachraum.

Die globale Ordnung des Römischen Reichs zerfiel mit der sogenannten Völkerwanderung13, also seit dem 5. Jahrhundert, in fluide und fragile Stammesgesellschaften (die man sich keineswegs als ethnische Verbände vorstellen muss, wie dies eine ältere Forschung annahm!), die wenig soziale und politische Struktur hatten, die weithin auf mündlichen Beziehungen beruhten und vielfach auch ohne überregionale Wirtschaftsbeziehungen auskamen. Allerdings überlebten noch längere Zeit spätrömische Momente von Staatlichkeit, die von den germanischen Stammeskönigen (die ja oft Militärs in römischen Diensten gewesen waren) teilweise übernommen wurden: Römische Verwaltungsbezirke blieben, Infrastrukturen wie das Straßensystem (soweit es nicht verfiel), die Funktion der Bischöfe, teilweise sogar das Steuersystem. Aber die politische Macht lag weitgehend auf dem Land, das Ernährung bot. Sehr viel besser organisiert war in diesen Jahrhunderten das von Mohammed begründete islamische Reich, das seit dem 7. Jahrhundert mit überlegener militärischer und kultureller Kompetenz nach Europa expandierte. Es wies im Übrigen eine vergleichbare Verbindung von religiöser Kultur und politischer Institutionalisierung auf.

 

Erste Momente der Staatlichkeit bildeten sich im früheren provinzialrömischen Bereich aus: Ober- und Mittelitalien (Langobarden, Ostgoten), Frankreich (Westgoten, Franken, Burgunder). „Germanische“ (mit aller Vorsicht des Begriffs) Völker gingen hier Verbindungen mit römischer Kultur ein, die im Wesentlichen aber nur kirchlich überliefert wurde. Die aktuelle Forschung konstatiert durchaus Ausprägungen von Staatlichkeit, die weiter entwickelt war als man das bisher angenommen hatte, die aber auch Auf- und Abschwünge erfuhr. Beispielsweise wird Karl der Große, der ein Großreich aufgebaut hatte, das sich explizit als Nachfolge des Römischen Reichs verstand, ein intensives Bemühen um den Aufbau einer Beamtenschaft, einer Kirchen- und Schriftreform oder einer stärkeren Kontrolle der lokalen Machthaber attestiert. Unter den Ottonen im 10. Jahrhundert ging die Schriftlichkeit der Herrschaft wieder zurück. Sie wurde dezentraler, und zentrale Herrschaft musste sich mehr den lokalen und regionalen Adelsfamilien unterordnen und war von kirchlichen Institutionen abhängig. Allgemeine Steuern wurden nicht erhoben, eine allgemeine Heeresfolgepflicht gab es offenbar nicht.14

„Weltliche“ politische Herrschaft war im Früh- und Hochmittelalter nur in enger Verbindung mit kirchlicher Herrschaft vorstellbar, und in dieser Hinsicht ruhte die frühmittelalterliche Staatlichkeit (wenn man sie denn so nennen will) auch auf der spätrömischen Grundlage auf. Ämter erwuchsen hauptsächlich aus religiöser oder aus militärischer Kompetenz. Bischöfe bekleideten meist auch hohe Reichsämter, Klöster übten Gerichtsbarkeit aus oder hatten das Recht, Münzen zu prägen und Zölle zu nehmen. Politische Herrschaft wurde, so die Vorstellung, im göttlichen Auftrag ausgeübt, denn das christliche Mittelalter lebte weiterhin in der Erwartung eines nahen Endes der Zeiten, die schon die römische Christlichkeit geprägt hatte.

Im späten 11. Jahrhundert änderte sich das: Der Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst gilt als Wegmarke, dass diese enge Verwiesenheit aufeinander aufbrach und Konflikte schuf. Wer ist dem anderen vorgesetzt? Dürfen weltliche Fürsten geistliche Würdenträger einsetzen? Der Kaiser sagte: Ja; der Papst argumentierte umgekehrt, dass im Gegenteil er als Nachfolger des Apostelfürsten Petrus berufen dazu sei, die kirchlichen Fürsten einzusetzen. Nach jahrzehntelanger, teils kriegerischer Auseinandersetzung konnte der Papst den Anspruch des Kaisers abwehren; aber die langfristige Folge war eine Entzweiung von kirchlicher und politischer Herrschaft. Konnte die politische Herrschaft bisher nur als Ausdruck der Heilsgeschichte gesehen werden, so gewann sie nun eigene Legitimität (etwa als Friedenswahrerin); für die kirchliche Herrschaft wurde immer schwerer begründbar, dass sie auch Teil der politischen Herrschaft sein müsse. Das sollte freilich noch Jahrhunderte dauern.

Für die größeren Herrschaftsbildungen (das Reich Karls des Großen erstreckte sich von Polen bis Spanien und von Dänemark bis Rom!) bedurften die Könige der Statthalter: Herzöge und Grafen, die in königlichem Auftrag regieren sollten. Diese gingen aber sogleich daran, eigene Herrschaften aufzubauen. Versuche Ottos des Großen, so etwas wie eine Reichsbeamtenschaft heranzubilden, scheiterten, weil die Ressourcen dafür fehlten. Die Ressourcen: Das war im Wesentlichen das Land. So kam es zu einer typisch mittelalterlichen Form von Herrschaft: dem Lehenswesen (Lehen = Leihe). Ausgehend von der Fiktion, dass alles Land dem König gehörte, erhielt der Gefolgsmann (Vasall) im Austausch für seine Folgebereitschaft Land (später auch Ämter, die Geld einbrachten, wie beim Zollwesen), das er ausbeuten (lassen) oder auch an Untervasallen für deren Folgebereitschaft weitergeben konnte. Formal waren diese Länder und Ländereien nur verliehen. Faktisch tendierte das Lehenswesen aber dazu, dass die Lehensnehmer selbst politische Herrschaft aufbauten und dynastisch sicherten.

Das Lehenswesen als Moment politischer Herrschaft ist in den letzten Jahrzehnten Gegenstand lebhafter Diskussionen gewesen.15 Dabei hat sich ergeben, dass seine Bedeutung keineswegs für das ganze Mittelalter gelten konnte. Vielmehr bildete es sich erst im Hohen Mittelalter langsam heraus; seine ganze Bedeutung erhielt es erst im Spätmittelalter. Die Bindungen des Vasallen waren bis dahin (und darüber hinaus) sehr viel mehr personaler Art (Gefolgschaft, Freundschaft) als nur gewissermaßen politische Geschäftsbeziehungen. Als solche stabilisierte es die politischen und sozialen Ordnungen. In Hinsicht auf die Staatlichkeit ist diese Personalität wichtig zu bemerken; sie war bis weit in die Neuzeit hinein ein Grundstein politischer Herrschaft. Der Mediävist Theodor Mayer hat demzufolge – gleichzeitig und in Auseinandersetzung mit Otto Brunner – diese Form einen „Personenverbandsstaat“ genannt und diesen dem modernen „institutionalisierten Flächenstaat“ gegenübergestellt.16

Für das Heilige Römische Reich galt, dass die Lehen dauerhaft vergeben wurden.17 Vor allem die großen Lehensnehmer, allen voran die Herzöge und Grafen von Bayern, Sachsen, Böhmen oder Österreich, entwickelten hier ihre eigene Herrschaft, aus den Lehen wurden mit der Zeit selbständige politische Einheiten: Es entstanden territorialstaatliche Gebilde. Anders war das in Frankreich, wo der (spätere) König von der Île de France aus seit dem 12. Jahrhundert in endlosen Kriegen seine Lehensnehmer, die gleichzeitig Konkurrenten waren, unterwarf. In England führte der Einfall der Normannen unter Wilhelm dem Eroberer (der selbst ein Vasall des französischen Königs war!) im 11. Jahrhundert zu einer Ausbildung von Machtstrukturen und -ressourcen, die vor allem die unterworfene Bevölkerung niederhalten sollten. Das zentrale Herrschaftssymbol, der von Wilhelm dem Eroberer erbaute Tower in London, war zunächst nichts anderes als eine Burg inmitten von Feinden. In England ist eine frühere und intensivere Ausbildung staatlicher Strukturen festzustellen, die nicht nur, aber auch auf diese Eroberung zurückzuführen ist. Hier bildete sich eine modifizierte Lehensverfassung aus, die anders als auf dem Kontinent die (großen) Lehen nicht erblich ausgab, sondern immer wieder neu verteilte, was ein treffliches Instrument der Machtkonzentration darstellte. Bereits vor dem Einfall der Normannen hatte der Aufbau einer Zentralverwaltung begonnen, und schon Anfang des 12. Jahrhunderts gab es ein Schatzamt, das eine Übersicht über Einnahmen und Ausgaben führte. Der König beanspruchte ein Burgenbaumonopol, und noch aus angelsächsischer Zeit gab es Volksgerichte, die nach Grafschaften organisiert waren; seit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert gab es einen ständigen Gerichtshof: Recht war ein Gut, das in England sehr früh zu einem staatlichen Zentralbereich wurde. Die Magna Charta von 1215 hat zwar die Macht der hohen Adligen gegenüber dem König gestärkt. Gleichzeitig hat sie zur Ausbildung von Verfahren geführt, die Rechtssicherheit und politische Mitsprache (in den Parlamenten) ermöglichten.

England ging mithin voran und ist in gewisser Weise eine Ausnahme. Insgesamt gilt (mit charakteristischen Abweichungen): Zentrale akzeptierte Herrschaft zu etablieren, gelang bis ins Spätmittelalter den meisten Herrschern nur sehr unvollständig und instabil. Nur selten schafften sie es, eine kontinuierliche Militärmacht aufzubauen, die zentrale Herrschaft blieb darin von ihren Vasallen, den hohen Adligen abhängig. Ein Gewaltmonopol des Staates nach innen ließ sich nicht durchsetzen, vielmehr beharrten die Freien auf ihrem Recht, Konflikte selbst gewaltsam auszutragen: dem Fehderecht.18 Eine einheitliche Administration oder eine bürokratische Elite entwickelten sich nicht auf Dauer. Auch eine integrierte Rechtslandschaft entstand nicht; vielmehr überlagerten sich die Rechtstitel und waren mit den jeweiligen Territorien nicht identisch. So gab es beispielsweise in mittelalterlichen Städten nicht nur das Gebiet, über das die Stadt als Korporation verfügte, sondern auch Areale, die dem Recht anderer Herrschaftsträger unterstanden, sei es dem Kaiser oder Adligen, sei es die sogenannte „Kirchenfreiheit“: Die Distrikte um die Kirchen und Friedhöfe unterstanden kirchlichem Recht, hier galt das Recht der Stadt nicht. Auch die Universität war im Mittelalter ein Ort eigenen Rechts. Und mit diesem territorialen Recht ging immer auch das Recht über Personen oder Personengruppen einher.