Der Unterhändler der Hanse

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KAPITEL 2 • LÜBECK, FEBRUAR 1370

»Schachmatt!« Pietro nahm einen tiefen Schluck Wein aus seinem Becher, während Reinekin Kelmer die Bernsteinfigur mit dem Kreuz umkippte.

»Weißt du, früher habe ich mich gefühlt wie ein König, wenn ich gegen dich gewonnen hatte – es kam selten genug vor. Heute denke ich, was spielt er da für einen Mist. Non è vero, come un stupido.«

»Morgen ist es ein Jahr.«

»Lo so. Ich weiß. Deshalb bin ich hier, weil ich dich nicht alleine lassen möchte.« Pietro schenkte sich italienischen Rotwein in seinen Messingbecher.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich alleine bin.«

»Reinekin, du bist schwermütig wie dieses Land. Trink noch einen Becher mit mir, dann wirst du dich leichter fühlen. Dieser Wein schmeckt nach der Erde des Veneto. Er bringt Sonne in dein Herz.« Pietro nahm die noch gut gefüllte Kanne und goss seinem Freund den Becher voll. Sie saßen in der Diele von Reinekin Kelmers Haus am Kohlmarkt. Der einäugige Claas legte zwei dicke Holzscheite in den Kamin und schürte das Feuer.

»Kannst du dich noch an den Abend erinnern, an dem du diesen Wein zum ersten Mal probiert hast? Wahrscheinlich nicht, denn du warst so betrunken, dass Niccolò und ich dich nach Hause tragen mussten. Und Messer Ammaniti hätte mir fast den Kopf abgerissen.«

»Du solltest auf mich aufpassen. Stattdessen hat es dir gefallen, einen sechzehnjährigen Jüngling, der zuvor noch nie einen Fuß aus seiner Heimatstadt gesetzt hatte, schamlos abzufüllen.« »Stimmt. Wir haben uns köstlich amüsiert, weil du den Wein gesoffen hast, als sei es euer deutsches Dünnbier.«

»Ich war zwei Tage krank.«

»Beschwer dich nicht, schließlich hat der Wein dich reich gemacht.«

»Ja, der Wein hat mir Glück gebracht.« Reinekin nahm einen tiefen Zug aus seinem Becher und dachte an das Frühjahr des Jahres 1358 zurück, als er sich nach dem Ende seiner Lehrzeit bei Messer Ammaniti mit sechs Fuhrwerken voller Weinfässer über die Alpen und quer durch Deutschland gequält hatte. In Frankfurt und Köln hatten die reichen Kaufleute und Ratsherren noch gezögert, des hohen Preises wegen und weil man nur den billigen deutschen Wein kannte und den französischen. Als er nach Lüneburg und Hamburg kam, war ihm der Ruf seines Weines schon vorausgeeilt, und die Fässer wurden ihm vom Wagen gerissen, ohne dass die reichen Käufer die Köstlichkeit vorher auch nur probierten. Jeder wollte etwas von dem besonderen Wein abhaben, und der Preis spielte keine Rolle. Mit dem letzten Wagen war er in Lübeck angekommen. Auch hier hatte sich die bevorstehende Ankunft dieser Rarität schon herumgesprochen. Reinekin wurde in das Haus des Bürgermeisters gebeten. Und während Balthasar Grevenrode den Wein probierte und sich nach dem Preis erkundigte, war sie hereingekommen.

»Soll ich später wiederkommen?«, hatte sie höflich gefragt.

»Nein, setz dich zu uns. Ich stelle dir Reinekin Kelmer vor, einen Kaufmann aus Frankfurt, oder sollte ich besser sagen: aus Venedig.«

Während Reinekin auf die junge Frau starrte, sagte Balthasar Grevenrode: »Meine Tochter hilft mir bei den Geschäften. Sie ist talentiert. Ich habe keine Söhne. Nur dieses eine Kind, und da blieb mir nichts anderes übrig, als einen Kaufmann aus ihr zu machen.« Grevenrode lachte laut, und seine Tochter blickte verlegen zu Boden. Sie war eine Schönheit, groß und schlank, mit braunen Locken, die sich nicht mit Haarnadeln bändigen ließen. Sie berichtete von einem Schiff, das aus Brügge eingelaufen sei, und dass die Preise für Pelze in ganz Flandern gefallen seien und man deshalb die Kogge aus Nowgorod besser nach England schicke.

»Aber wir brauchen die Tuche aus Brügge«, hatte Grevenrode eingewandt und sie hatte ihm vorgerechnet, dass er an die dreißig lübische Mark mehr gewinnen würde, wenn die Kogge London anlaufen würde, um dort die Pelze zu verkaufen, und dann mit englischer Wolle nach Brügge fahre und von dort die Tuche mitbringe. Balthasar Grevenrode hatte lächelnd genickt. Dann hatte er Reinekin die Fuhre Wein abgekauft.

»Kommt morgen zum Abendessen, Reinekin, und erzählt uns von Italien.«

Reinekin hatte die Einladung gerne angenommen, diese und noch viele andere bis zu seiner Abreise nach Frankfurt. Schon damals wusste er, dass seine Zukunft nicht in Frankfurt oder Italien lag, wie es sein Vater geplant hatte, sondern in Lübeck.

»Kommst du wieder, Reinekin?«, hatte Johanna gefragt.

»Ja«, hatte er geantwortet und sie zum ersten Mal geküsst.

Im nächsten Jahr hatte er noch einmal die beschwerliche Reise vom Mittelmeer an die Ostsee auf sich genommen, doch diesmal war er in Lübeck geblieben, hatte sich die Bürgerschaft der Stadt gekauft und das Haus eines Kaufmanns, der auf der Ostsee mit Schiff und Waren untergegangen und dessen Besitz mangels Erben an die Stadt gefallen war. Im Jahr darauf hatte er Johanna Grevenrode, die Tochter des Bürgermeisters, geheiratet.

»Der Wein hat mir wahrlich Glück gebracht.«

Die Haustür flog auf und riss Reinekin aus seinen Erinnerungen. Jan und Geseke schossen herein. Sie schleuderten die hölzernen Trippen in eine Ecke und stürzten auf Reinekin und Pietro zu.

»Papa, Pietro, schaut euch das an: ein Pferd.« Der achtjährige Jan hielt Reinekin eine Holzfigur vor die Nase.

»Und eine Puppe«, ergänzte seine Tochter, die ein Jahr jünger als ihr Bruder war. »Sogar mit Haaren. Mit richtigen Haaren.«

»Nein, das stimmt gar nicht. Das sind Pferdehaare, frag Opa.«

Balthasar Grevenrode tauchte in der Tür auf.

»Richtige Pferdehaare«, sagte er, trat in die Diele, schloss die Tür hinter sich und schüttelte sich vor Kälte.

»Papa, das schenken wir morgen der kleinen Johanna zum Geburtstag, und Opa hat mir versprochen, dass ich auch so eine Puppe kriege.«

»Los, komm in die Kemenate, wir zeigen es Sarah.«

»Seid bitte leise, Johanna schläft«, rief Reinekin ihnen nach, aber da waren sie schon im Hinterhaus verschwunden.

»Setz dich, Balthasar. Wie kommt es, dass der Bürgermeister persönlich die Kinder bringt?«

»Sie müssen ins Bett. Es hat schon zur Nacht geläutet. Und …«, Grevenrode zögerte und schaute die beiden Männer an, »… ich muss mit dir reden.«

»Va bene, signori, ich wollte ohnehin gerade aufbrechen.«

»Nein, bleib da. Es ist möglich, dass es auch dich betrifft«, sagte Grevenrode, nahm einen Becher von dem verzierten Messingtablett, das auf dem massiven Eichentisch stand, goss sich ein, trank, schaute Reinekin an und zog die Stirn in Falten. »Immer wenn du so schaust, gibt es Probleme. Was ist – ein Schiff verloren, eine Ladung gestohlen oder Ärger mit den Dänen?«

»Ich glaube, es ist schlimmer. Vor sechs Wochen ist Heinrich Molteke ertrunken. Ich habe es gestern erfahren. Sie haben ihn tot aus dem Hafenbecken in Danzig gefischt – mit eingeschlagenem Schädel. Vor zwei Wochen ist Hermen Wackerowe, ein Bremer Ratsherr, in einem Wirtshaus in Hamburg tot zusammengebrochen. Er hatte Schaum vorm Mund und ist unter qualvollen Krämpfen gestorben. Hermen war ein ehrenwerter Mann, ein verlässlicher Kaufmann und ein Freund. Man könnte meinen, dass es ein dummer Zufall war, dass Hermen und Molteke fast gleichzeitig und auf merkwürdige Weise starben. Aber es kommt noch dicker: Heute Mittag kam ein Schiff aus Wismar und brachte die Kunde, dass Hildebrand Karbow abends auf der Heimkehr von einer Ratsversammlung hinterrücks mit einer Armbrust ermordet wurde. Der Mörder ist entkommen.«

»Sie waren alle Geschäftsfreunde von dir. Richtig?«

»Geschäftsfreunde, ehrenwerte Kaufleute, Ratsherren und Sendboten ihrer Städte bei den Hansetagen. Und alle drei sollten zu den Friedensverhandlungen nach Stralsund entsandt werden.«

»Und du vermutest, dass der Tod dieser Männer damit im Zusammenhang steht.«

»So ist es. Molteke, Wackerowe und Karbow wollten zu einem fairen Ausgleich mit den Dänen kommen, und es gibt genügend andere, die genau das nicht wünschen.«

Reinekin wiegte skeptisch den Kopf.

»Es geht um Macht, Reinekin, darum, wer das Sagen hat rund um die Ostsee, und es geht um Geld, sehr viel Geld. Die Holsteiner wollen weiter Krieg und der Mecklenburger auch. Sie wollen sich auf Kosten der Dänen bereichern, und Hamburg, Bremen und die Westfalen haben sich ihnen angeschlossen. Sie treiben Handel mit England, Süddeutschland und bis hinunter nach Italien. Was auf dem baltischen Meer passiert, ist ihnen egal.« Allmählich spürte Balthasar Grevenrode die wärmende Kraft des Feuers und schlüpfte aus seinem Pelzmantel.

»Lübeck hat den größten Teil der Flotte bezahlt. Und dein Wort, Balthasar, das Wort des Lübecker Bürgermeisters, zählt mehr als das des schwedischen Königs.«

»Unsere Schiffe waren wichtig, um den Sieg zu erringen. Aber jetzt, wo die dänische Flotte zerstört ist und Dänemark schutzlos, genügen ein paar Koggen, um zu plündern und zu rauben. Vor der großen Pest im Jahre 1350 hatte ich zehn, manchmal fünfzehn Schiffe, die nur zwischen Lübeck und Dänemark unterwegs waren. Als König Waldemar vor zehn Jahren Gotland eroberte und Visby besetzte – eine Hansestadt«, Balthasar erhob seine Stimme, um seiner Entrüstung Ausdruck zu geben, »da waren wir gerade wieder dabei, uns dem alten Handelsaustausch anzunähern. Das baltische Meer ist für uns so wichtig wie das Mittelmeer für Venedig. Nur wenn wir hier Frieden haben, werden unsere Städte gedeihen.«

»Ich kenne keinen Besseren als dich, um einen guten Frieden auszuhandeln.«

»Ich bin ein alter Mann, und wenn ich stürbe, müsste ein anderer für mich verhandeln. Nach Lage der Dinge wird das Burskup sein, und was das bedeutet, kannst du dir ausmalen. Burskup würde für seinen eigenen Vorteil die Seele seiner Mutter verkaufen.«

 

»Henning Brödersen ist ein guter Mann oder der junge Rech.«

Eine Pause trat ein, bevor der Bürgermeister das Gespräch wieder aufnahm.

»Sicher hast du Recht«, meinte Balthasar, stand auf, trat näher an das Kaminfeuer und griff zu dem Argument, das er sich bis zuletzt aufgespart hatte und das er nur ungern anführte.

»Es geht auch um dich. Ich will, dass du mich begleitest, weil ich möchte, dass du dich wieder mit etwas anderem beschäftigst als mit unnützen Selbstvorwürfen. Niemandem ist damit gedient, wenn du dich ständig bei den Franziskanern herumtreibst und dich zurückziehst. Johanna ist jetzt seit fast einem Jahr tot. Sie ist gestorben aufgrund des Ratschlusses unseres Herrn. Dich trifft keine Schuld. Nimm deine Arbeit wieder auf. Hilf mir im Rat und versteck dich nicht hinter Klostermauern oder auf der Werft von Swartekop.«

»Und wozu das alles? Genügt es nicht, dass unsere Speicher gefüllt sind? Unser Wohlstand, Balthasar, wird reichen für unsere Kinder und Enkel und für deren Kinder und Enkel, und ich will nicht …«

Balthasar Grevenrode unterbrach seinen Schwiegersohn mit ärgerlichem Tonfall.

»Wir sind Kaufleute. Ohne uns gibt es im ganzen Land keine Fastenspeise, weil wir es sind, die Heringe von Gotland bis nach Köln, Nürnberg und bis nach Italien bringen. Ohne uns gibt es keinen Wein zur Feier des Abendmahls in Schweden und in Dänemark und keine Gewürze in den Speisen.«

»Wir befriedigen vor allem die Wünsche unserer besonders reichen Kunden nach immer neuen Luxuswaren. Je reicher der Kaufmann, umso schärfer sind die Speisen gewürzt. Kein vornehmer Mann läuft mehr ohne Biberkragen, Luchsfell, schönes Eichhörnchenfutter oder Marderbesatz auf Umhang und Mantel herum. In Venedig tragen die Männer bei festlichen Gelegenheiten sogar im Sommer Luchsfell und die Frauen Zobel und Hermelin.«

»Wir bringen Getreide nach Flandern und in die Niederlande, wo nicht genug produziert werden kann, und wir bringen Getreide an die kargen Küsten Norwegens.«

»Und wir häufen dabei ungeheure Reichtümer an.«

»Mit unserem Reichtum stiften wir Kirchen und Klöster und speisen die Armen. Es ist der Platz, an den uns der Herr gestellt hat.«

Balthasar trat hinter Reinekin, der noch immer am Lucht stand, dem großen Fenster zum Hinterhof des Dielenhauses, und den Blickkontakt mit seinem Schwiegervater mied.

»Vielleicht ist es dir egal, was ich denke, aber ich kann dir mit größter Gewissheit versichern, dass Johanna ebenso denken würde. Frag dich, was sie davon halten würde, dass du den größten Teil deiner Zeit mit einem Zimmermann und einem Franziskanermönch verbringst. Komm endlich zu dir, Reinekin!«

»Du übertreibst. Mit dem Prior von St. Katharinen habe ich ein neues Geschäft durchgerechnet, und mit Swartekop werde ich ein Schiff bauen, wie es die Ostsee noch nicht gesehen hat. Und deine Befürchtungen hinsichtlich der Verhandlungen in Stralsund mögen berechtigt sein, aber die Ratsherren von Bremen, Danzig und Wismar werden andere Unterhändler schicken. Das ändert doch nichts am Verlauf der Friedensverhandlungen.«

»An Stelle von Wackerowe wird Sudermann den Rat von Bremen vertreten. Seine Interessen liegen nicht in der Ostsee. Er handelt zwischen Köln und London. Für Molteke wird Sievert Classoen den Rat von Danzig vertreten. Er ist ein Dummkopf, der nur deshalb im Rat sitzt, weil sein Vater seit einem Jahr das Bett hütet. Der Kerl ist strohdumm und unberechenbar. Und für Karbow wird unser alter Freund Ghulsowe teilnehmen, und den kennst du so gut wie ich.«

»Thymme Ghulsowe?«

»Genau der.«

»Habgierig und korrupt.«

»Pietro, du hast noch eine Rechnung mit ihm offen«, sagte Reinekin grinsend.

»Das Schwein hat uns verdorbenen Fisch verkauft, hat oben in die Fässer eine Schicht guten Hering gelegt, und unten drunter war alles verrottet. Der Hund, wenn ich ihn treffe, wird er es bereuen.« Pietro schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Und du wirst am Pranger landen. In Wismar darfst du dich ohnehin nicht mehr blicken lassen, seit du dem ehrenwerten Ratsherrn zwei Zähne ausgeschlagen hast.«

»Wenn er mir noch mal begegnet, wird er den Rest seines Gebisses auch noch verlieren.«

»Sehr unklug, lieber Pietro. Du hast den Prozess verloren. Wenn du Ware kaufst, musst du dich über deren Zustand vergewissern. Es war dein Pech, dass ihr Italiener keine Ahnung habt, wie Hering riechen muss«, sagte Balthasar Grevenrode.

»Allerdings. Hering stinkt. Verrottet oder nicht. Er stinkt.« Reinekin schaltete sich grinsend ein: »Wir haben alle Lehrgeld bezahlt. Heute wissen wir, wer von wem kaufen kann. Aber eins ist sicher: Ein Mann, der kein ehrenwerter Kaufmann ist, wird auch kein ehrenwerter Unterhändler sein.«

»So ist es. Molteke, Wackerowe und Karbow sind tot, und an ihrer Stelle haben wir es in Stralsund mit Classoen, Sudermann und Ghulsowe zu tun.«

»Wer steckt dahinter? Die Mecklenburger?«

»Oder die Holsteiner, vielleicht die Schweden, selbst den Jütländern ist das zuzutrauen, und es gibt genügend Städte, die kein Interesse am Handel mit den Dänen haben, Städte, die es gerne sehen würden, wenn Lübeck unter den Einfluss der holsteinischen Grafen geraten würde. Es gibt Fürsten und Landesherren, die den Dänen am Boden halten wollen, um sich selbst ein Teil des dänischen Reiches einverleiben zu können. Es dürfte unmöglich sein herauszufinden, wer dahinter steckt.«

»Was willst du tun?«

»Ich werde morgen Boten nach Danzig, Bremen und Wismar senden und versuchen, den Gang der Dinge zu beeinflussen. Und ich möchte dich bitten, dass du mich nach Stralsund begleitest, zusammen mit Pietro. Ich weiß, dass du nicht willst, aber du solltest es dir durch den Kopf gehen lassen. Ich brauche jemand, dem ich vertrauen kann. Und ich brauche vielleicht auch einen, der das Schwert zu führen weiß.« Balthasar schaute die beiden Männer an.

Reinekin Kelmer senkte den Blick. Er schwieg und zögerte, bis er schließlich sagte: »Morgen ist es ein Jahr, dass ich meiner Frau bei Gott versprochen habe, dass ich mich um die Kinder kümmern werde und dass ihr Wohl alles ist, wonach ich trachte.«

Balthasar Grevenrode hatte sich erhoben. »Du hast deinen Schwur gehalten. Die Kinder sind tadellos versorgt. Sie lieben dich und haben alles gut verkraftet. Jetzt sind wir vielleicht an einem Punkt angelangt, wo du wieder über den Horizont der Familie hinausschauen musst. Ich brauche dich. Lübeck braucht dich.«

Balthasar Grevenrode hatte seinen Mantel ergriffen.

»Un momento. Ich verstehe von Eurer Politik nicht viel, aber eins solltet Ihr umgehend veranlassen. Die Wachen an den Stadttoren würde ich verdoppeln und jeden Fremden, der in die Stadt will, kontrollieren. Und an Eurer Stelle, Bürgermeister, würde ich keinen Schritt mehr ohne Leibwache tun.«

KAPITEL 3

Der Mann, der sich Albert Puster nannte, hatte die Nacht in einem Gasthaus an der Handelsstraße von Lüneburg nach Lübeck verbracht – etwa einen halben Tagesmarsch vor den Toren der Stadt an der Trave. Er ließ sich Zeit mit dem Frühstück, bestellte eine zweite Pfanne mit Eiern und Speck und genoss das Gefühl des schweren Geldbeutels, der in seiner Gürteltasche hing und der bald noch schwerer werden würde. Er war ein wohlhabender Mann, und er war ein freier Mann. Albert Puster sah einer strahlenden Zukunft entgegen. Sein Vater hatte ihn geschlagen, gequält, eingesperrt und schließlich aus dem Haus geprügelt. Er hatte in der Gosse gelebt, gehungert und sich vor hohen Herren verneigt. Erst mit dem Krieg gegen die Dänen hatte sich das geändert. In Rostock suchte man damals Armbrustschützen, um eine Kogge zu bemannen. Sie lachten ihn aus, als er sich bewarb, weil er zu klein und zu schwach sei. Darauf hatte er sich zum Beweis seiner Fähigkeiten eine Armbrust von dem Hauptmann erbeten und auf einen Weinkrug gedeutet, der gut 150 Meter weiter vor einem Gasthaus stand. Der Bolzen zerschmetterte den Weinkrug, und Albert Puster führte fortan das Leben eines gut bezahlten Söldners. 1362 hatten sie vor Kopenhagen die Dänen schon fast besiegt, als dieser Idiot von Bürgermeister, Johan Wittenborg, die Hälfte der Flotte nach Helsingborg abzog. Zwölf Koggen eroberten die Dänen damals, und Albert Puster fiel mit einer dieser Koggen in die Hände der Dänen. 1362 war kein gutes Jahr für ihn gewesen, und zu den zahlreichen Narben auf seinem Körper, die er dem Alten verdankte, waren neue hinzugekommen. Aber es war wieder die Armbrust gewesen, die ihn rettete.

»Auf 150 Meter den Weinkrug«, hatte er mit dem Kerkermeister gewettet – und gewonnen. Danach arbeitete er zwei Jahre für die Dänen. Eine schöne Zeit: Raubzüge auf Gotland, Überfälle auf Hansekoggen und Plünderungen, bis dieser Hauptmann gekommen war – Henning von Putbus –, weil er in Schonen eine Frau erschossen hatte. Eine Frau! Henning ließ ihn auspeitschen, bis das Fleisch in Fetzen von seinem Rücken hing. Das lag jetzt sechs Jahre zurück, und seitdem hatte er seine Armbrust eingesetzt, wo immer man ihn dafür bezahlte, und er erledigte seine Aufträge mit der Präzision eines unterschätzten, kleinen, gewissenhaften Mannes.

Er befestigte seinen Reisesack, in dem sich die Armbrust befand, am Pferdesattel und schwang sich geschmeidig auf die Stute. Der Wirt stand in der Tür, nickte ihm freundlich lächelnd zu, drehte sich um und ging in die Wirtsstube.

»Ist die Ratte endlich weg?«, flüsterte seine Frau.

»Ja, Richtung Lübeck.«

»Gott sei Dank!«

»Er hatte Geld.«

»Das hat er gestohlen. Hast du die kalten Augen gesehen, die Narben, dieses überhebliche Grinsen und wie er mich von oben herab behandelt hat, als sei er ein Herr?«

»Hier, nimm und scher dich nicht mehr drum.« Der Wirt warf ihr zwei Pfennige zu – das Doppelte dessen, was »die Ratte« eigentlich hätte bezahlen müssen.

Zwei Stunden vor Lübeck hatte Albert Puster eine Gruppe von Fuhrwerken eingeholt.

»Gott sei mit Euch, Kutscher. Salz nach Lübeck?«

»Gott mit Euch. So ist es, und Ihr?«

»Nach Lübeck. Geschäfte.«

Zehn Minuten später hatte Albert Puster sein Pferd an das Fuhrwerk gebunden und saß neben dem Kutscher, den sie Langheinrich nannten, auf dem Bock. Es war unauffälliger, die Lübecker Tore in Begleitung einer Lüneburger Salzlieferung zu passieren. Kein Mensch würde sich an ihn erinnern. Viel schwieriger dürfte es werden, die Stadt wieder zu verlassen, nachdem er den Bürgermeister getötet hatte.

Nachmittags um vier erreichten sie das äußere Mühlentor, das südliche der drei Lübecker Stadttore. Die Fuhrwerke holperten über die Travebrücke, passierten das innere Mühlentor und wurden von einem Wachmann gestoppt. Albert Puster war nervös. Wusste man von seinem Vorhaben?

»Kutscher, hier herüber zum Wiegen«, rief der Wachmann.

»Ja, ja, Soldat, ich kenne mich aus, komme jedes Jahr fünfmal nach Lübeck, und das schon seit einer Zeit, in der du noch in die Hosen geschissen hast.« Die Fuhrleute lachten über Langheinrichs Scherz, und der junge Wachmann verschwand mit rotem Kopf in der Wachstube.

Als der letzte Wagen das Tor passiert hatte, erschien eine Gruppe von vier Wachmännern unter dem Kommando eines blonden Hauptmanns, der sich bei seinen Kollegen in der Wachstube meldete, die ihn fragend anschauten.

»Die Ablösung kommt zwei Stunden früher als erwartet, Kameraden«, witzelte einer der Männer, die sich mit Würfeln die Zeit vertrieben.

»Die Wachen werden verdoppelt. Anordnung des Bürgermeisters. Jeder, der die Stadt betritt, soll durchsucht und befragt werden. Jeden Verdächtigen sollen wir festhalten und dem Hauptmann vorführen.«

»Scheiße.«

»Verdammte Scheiße.«

»Und warum?«

»Sie befürchten einen Mordanschlag auf den Bürgermeister.«

»Wonach suchen wir denn?«

»Nach einer Nadel im Heuhaufen.«

Einer der Spieler schob den Würfelbecher beiseite. »Na dann ans Werk. In einer guten Stunde schließen wir das Tor, und bis dahin bringt ihr mir diesen Satan bei.«

Die Männer lachten und zogen ihre Mäntel an.

»Alsdann, habt Dank für den gemütlichen Ritt und macht Euch einen schönen Abend.« Albert Puster legte eine Münze auf den Kutschbock. Der Kutscher setzte ein strahlendes Lächeln auf, als er das Geldstück sah. Die Lüneburger hatten vor dem Zollhaus gehalten. Albert Puster nahm sein Pferd an die Zügel und ging in Richtung Hafen davon.

»Wer war das?«, wollte einer der Zöllner von Langheinrich wissen.

 

»Er arbeitet für einen Nürnberger Kaufmann und will Hering kaufen, und er hat mir ein Loch in den Bauch gefragt, wollte alles über Lübeck wissen und über Euren Bürgermeister. Dabei hat er hier eine Schwester, die mit einem Paternostermacher verheiratet ist.«

»Die Paternostermacher wohnen aber da drüben.« Der Knecht deutete in die entgegengesetzte Richtung, in die Albert Puster verschwunden war.

»Genug geschwätzt. Bringen wir das Salz auf den Hof, und danach gehen wir einen saufen.«

Albert Puster führte unterdessen sein Pferd an der Stadtmauer entlang zum Hafenviertel. Hier hatte er vor acht Jahren schon einmal übernachtet, bevor es gegen die Dänen ging. Heute besaß er genügend Geld, um sich in jedem Wirtshaus einzuquartieren, selbst in der »Ratsschenke«, aber das wäre zu auffällig gewesen. Die Stute gab er in einem Mietstall ab und bat den Pferdeknecht, nach einem geeigneten Käufer für das Tier Ausschau zu halten. Dann machte er sich auf die Suche nach dem Haus der jungen Hure, bei der er vor sechs Jahren gewohnt hatte.

Nur wenige Gassen des Hafenviertels waren gepflastert. Die meisten waren schlammige Wege, auf denen die Menschen ständig auf der Suche nach einem Pfad zwischen den zahlreichen Pfützen und dem Kot von Pferden, Ochsen, Schweinen und anderem Viehzeug waren. Die Häuser, die sich hier aneinander reihten, waren kaum mehr als Bretterbuden. Es stank nach Urin und Fisch und nach nahezu allen anderen Gerüchen, die von Verrottung und Verwesung ausgehen. Zwei Schweine trotteten langsam über die Straße. Albert Puster klopfte an die Tür einer windschiefen Holzhütte. Eine Frau mittleren Alters mit einem Kleinkind auf dem Arm öffnete. Fast hätte er sie nicht wieder erkannt. Ihre Reaktion zeigte ihm aber, dass sie es sein musste. Die Frau erschrak, als sie den Mann mit den Narben sah, und wollte die Tür sofort wieder schließen. Albert Puster hatte inzwischen eine Silbermünze aus seiner Tasche gezogen, die er mit dem Geschick eines Spielers über die Fingerrücken laufen ließ. Die Frau hielt inne, ein Grinsen offenbarte die Tatsache, dass sie schon die Hälfte ihrer Zähne eingebüßt hatte. Sie öffnete die Tür, und Albert Puster betrat einen niedrigen dunklen Raum, in dem es nach dem Rauch eines Herdfeuers roch.