Leyendecker

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7. Kapitel

So hatte Leyendecker der Ortsansässigkeit Lebewohl sagen müssen und sich trotz seines seit seiner Kindheit lädierten Beins auf Wanderschaft durch den Hunsrück begeben. Wenn es zwar in seinem Heimatdorf kein Auskommen für einen Schuhmacher mehr gäbe, so dann vielleicht doch für einen reisenden Schuster in irgendeiner anderen Ortschaft. Schuhe gingen kaputt. Das war schon immer so. Wenn er seine Arbeit nur billig genug feilbieten würde, würden sich schon Leute finden, die um ein paar Kreuzer bereit wären, ihre Schuhe bei ihm reparieren zu lassen.

Doch auch diese Zuversicht war ihm Tag für Tag ein kleines Stück genommen worden. Die nächstliegenden Dörfer waren Leyendecker bekannt und er wiederum war den Leuten dort bekannt. Gleich in der ersten Ortschaft, in die er kam, wartete Arbeit auf ihn, denn einen ansässigen Schuster gab es dort nicht. Der Schuster ist da! Mit diesem Ausruf wanderte Leyendecker kreuz und quer durchs Dorf und siehe, er zeitigte Erfolg. Sein guter Leumund und der niedrige Lohn, den er jetzt für seine Leistung beanspruchte, brachten ihm fünf Paar Schuhe, die es zu reparieren galt. Leyendecker war’s zufrieden. In der Scheune eines Bauern nahm er Unterkunft, packte sein Werkzeug aus und begann trotz klammer Kälte seine Tätigkeit. Gleich sein erster Auftrag bereitete ihn einiges Kopfzerbrechen. Einen Schuh galt es wieder zusammen zu flicken, der eigentlich nicht mehr zusammen zu flicken war. Flickschuster, ging Leyendecker durch den Kopf, aus dir ist ein Flickschuster geworden, als er die gequälte Fußbekleidung mehr schlecht als recht wieder in Form gebracht hatte.

Der erste Nachmittag und Abend war darüber vergangen. Der Bauer bot Leyendecker als Gegenleistung für ein paar Kreuzer eine kleine Kammer zur Nachtruhe an. Als er sich, in eine alte Pferdedecke gehüllt, auf der strohgepolsterten Pritsche ausstreckte und langsam in Schlaf versank, fühlte er eine unbestimmte Zufriedenheit in sich.

Der nächste Morgen sah ihn zeitig bei seiner Arbeit. Drei schwierige Reparaturen schaffte er an diesem Tage. Drei Aufträge heute, einer am Vortag, ergaben vier. Neues war nicht mehr hinzu gekommen, blieb also noch ein Auftrag, machte Leyendecker seine einfache Rechnung auf. Und dabei hatte er noch lange nicht einen Gulden verdient. Als er an diesem Abend einschlief, war die unbestimmte Zufriedenheit des Vorabends konkreten Sorgen gewichen.

Die letzte Reparatur erledigte er in den frühen Vormittagsstunden des nächsten Tages. Dann packte er wieder sein Bündel zusammen, erstand bei dem Bauern noch ein paar Vorräte und zog weiter.

Der Schuster ist da! Das nächste Dorf, in das er kam, hielt drei kaputte Paar Schuh für Leyendecker bereit. Drei Paar Schuh bedeuteten anderthalb Tage Aufenthalt bei magerem Verdienst. Ein Arbeitsplatz im Freien, unter dem Dach eines offenen Heuschobers. Ein Nachtquartier im Stroh. Kurzer, unruhiger, ob des strengen Frosts oftmals unterbrochener Schlaf. Eine unwürdige Unterkunft, für die der Bauer, dem sie gehörte, auch noch Entlohnung haben wollte. Leyendecker konnte sich leicht ausrechnen, wie lange es noch dauern mochte, bis die Kosten für seine Unterkunft und Verpflegung seine Einkünfte übersteigen würden.

So zog Leyendecker weiter, von Ortschaft zu Ortschaft.

Der Schuster ist da!

Hier gibt’s schon einen Schuster! hörte er ein ums andere Mal. Einmal wurde er sogar vom Schuster höchstpersönlich zum Dorf hinaus gejagt.

Und Leyendecker zog weiter. Seine Kleidung war ob des wanderhaften Lebens nicht unbeschadet geblieben und wand sich fadenscheinig um seinen abgemagerten Körper. Zudem hatte die Kälte sich längst in seinem Inneren festgesetzt. Sie machte Leyendeckers Gedanken träge und sich in seinem lädierten Bein immer schmerzhafter bemerkbar.

Kälte, Hunger, Schmerzen: jedes für sich ist aushaltbar, ertragbar, dachte Leyendecker im Stillen. Aber zusammen können sie einen Mann zermürben, ihm alles rauben, was ihn am Leben erhält. Zusammen sind sie tödlich. Wenn es doch bloß wärmer werden wollte. Mit der Wärme kommt auch wieder die Zuversicht.

Die Zuversicht... die Zuversicht...

Und dann kam der Moment...

Der Moment, an dem Leyendecker zum ersten Mal seine Hand einem des Wegs kommenden Händler entgegenstreckte und um ein Almosen bat, hat sich so tief in seine Erinnerung eingegraben, dass er ihn in diesem Leben nicht mehr vergessen wird. Irgendwann benannte er die Zeit nicht mehr mit Tagesnamen, zählte sie nicht mehr nach Wochen. Heute ist der Tag, an dem du vor fünf Tagen zuletzt Arbeit hattest. Heute ist der Tag, an dem du vor zwei Tagen zuletzt gegessen hast. So hieß es jetzt bei ihm. Heute ist der Tag, an dem etwas geschehen muss, sonst stirbst du.

Dann stand plötzlich das Fuhrwerk vor ihm, beladen mit allen möglichen Waren. Ein reisender Händler mit zwei Fuhrknechten als Bedeckung. Leyendecker sprach sie an. Hatten sie Arbeit für ihn? Nein, sie hatten keine Arbeit für ihn. Leyendecker hielt einen Moment inne. Wenn einem nichts mehr geblieben ist, bleibt einem nur noch der Lebenswille. Der Lebenswille stirbt zuletzt.

Habt Ihr ein Stück Brot für mich? Nur ein kleines. Ich verhungere sonst.

War sich Leyendecker darüber bewusst, was er sagte? Sprach er selbst oder sprach vielmehr die Not in ihm? Wie hatte es nur dazu kommen können? Was war aus ihm geworden?

Ein solcher Moment ist das Ende allen Hoffens, das Ende aller Wünsche, das Ende allen Stolzes. Doch war dieses Ende gleichsam nur der Anfang der Demütigung. Der Händler hatte einen Moment gezaudert, sich dann jedoch von seinem Kutschbock herab gelassen, unter seinen Waren nach der Proviantkiste gekramt, schließlich einen mageren, schon ziemlich trockenen Kanten Brot hervor geholt und Leyendecker überlassen. Der bedankte sich artig, machte zwei Diener und sah zu, dass er weiter kam, nur fort von diesem Platz der Scham, fort von dieser Demütigung. Hat er das erbettelte Brot dann schnell gegessen? Nein, hat er nicht, denn beim Anblick dieses Schandbrotes wurde ihm zuerst speiübel. Doch dann, am Abend des Tages, dort, in der kalten Feldscheune, in die er sich für die Nacht zurück gezogen hatte, ohne lange Erlaubnis einzuholen, so, wie er halbtrockenes Stroh über sich gehäuft hat, um ein Kleinteil Wärme zu erfahren, hat er angefangen, an dem Brotkanten zu knabbern. Erst hat er vorsichtig, verschämt, kleine Krümel abgebrochen und sie sich in den Mund geschoben. Dann hat er hinein gebissen, hat gekaut, hat wieder hinein gebissen, hat wieder gekaut, bis er die Hälfte des Kantens aufgegessen hatte. Das Gefühl, das sich daraufhin von seinem Magen aus langsam über seinen ganzen ausgezehrten Körper zu verbreiten begann, war unbeschreiblich.

Nur ein halber Kanten Brot, dachte Leyendecker selig, ein halber Kanten bringt die neue Hoffnung für den nächsten Tag. Einen zweiten halben Kanten hast du noch. Den musst du dir aufheben. Das ist die Hoffnung für Übermorgen.....

Nur wenige Tage später hatte die Demütigung begonnen, für Leyendecker zum Ausweg zu werden. Ein wenig Brot, ein Stückchen Speck, ein paar Kreuzer waren doch allemal einen kurzen Moment der Selbstaufgabe wert. Das Überleben hatte seinen Preis, doch Leyendecker war bereit, ihn zu zahlen. Einige wenige Nächte verbrachte er noch in Heuschobern und Feldscheunen, danach aber unzählige Nächte unter freiem Himmel. Denn die Bauern wurden immer wachsamer, fürchteten Räuber und Diebsgesindel. Mehrfach hatte mitten in der Nacht ein Bauer oder ein Knecht mit der Mistgabel oder einem Knüppel in der Hand vor ihm gestanden, um Leyendecker aus seiner freien Unterkunft zu vertreiben. Einmal war sogar eine Feldstreife direkt auf sein Nachtquartier losgezogen, so dass Leyendecker in aller Hast das Weite suchen musste.

Ohne dass es ihm bewusst gewesen wäre, wartet auf Leyendecker dann die zweite Stufe der Demütigung. Es war der Tag, an dem seine Bitte nach etwas Essen oder ein wenig Geld zum ersten Mal abgeschlagen wurde, der Tag, an dem seine bittend ausgestreckte Hand leer blieb. Wir haben nichts für dich, nichtsnutziger Bettler, hatten sie gesagt. Sieh zu, dass du fort kommst. Und Leyendecker sah zu, dass er fort kam. Nichtsnutziger Bettler. Dieser Ausdruck sank tief in Leyendeckers Selbst hinab. Tief in sein Herz, in seine Seele. Zu wissen, dass man bettelt, ist eine Sache. Eine Sache, die man mit sich selbst ausmachen muss, eine Sache, die einem noch ein kleines Stück Ehre belässt. Jedoch von Fremden als Bettler gescholten zu werden, als jemand, der zu nichts nutze ist, das schlägt eine tiefe Wunde.

Wie viele Wunden kann die Seele eines Mannes ertragen, bis sie schließlich zugrunde geht? Wann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem alles, was im Leben jemals Bedeutung und Wert besessen hat, ausgelöscht ist?

8. Kapitel

Seit zwei Stunden kauert Leyendecker nun schon hinter dem alten, halb verfallenen Viehstall, von dem aus man das großzügige Bauernhaus, die Scheuer und die ganze Hofreite so gut überblicken kann. Es ist eine klare Neumondnacht, ideal für Leyendeckers Vorhaben. Vor einer Stunde hat der Bauer zusammen mit seinem Knecht die Abendronde gedreht. Das hat eine ganze Zeit gedauert, eine knappe halbe Stunde, schätzt Leyendecker. Danach sind beide zusammen ins Haus gegangen. Kurze Zeit später wurde in der Knechtkammer im Obergeschoss Licht entzündet. Das bedeutete, dass der Knecht im Begriff war, zu Bett zu gehen. Das Licht in der Wohnstube brannte noch, also saßen Bauer und Bäuerin noch zusammen. Leyendecker stellte sich auf ein gutes Stück Wartezeit ein. Immer wieder wanderte sein Blick dabei zu dem kleinen Scheunenanbau, in dem der Bauer seine Kaninchen hielt. Auf die oder doch zumindest auf einige von ihnen hatte Leyendecker es abgesehen. Es würde das erste Mal sein, dass Leyendecker sich etwas nahm, ohne vorher lange zu fragen.

 

Den Ort und den Gegenstand seines Trachtens hatte er sich wohlüberlegt erwählt und auskundschaftet. Stahl man einen Hammel von der Weide, konnte man ihn nur verkaufen. Dabei lief man in Gefahr, der Feldstreife aufzufallen. Zum Schlachten und selber Essen war ein Hammel für einen Wanderer zu groß. Hühner machten ein Riesenspektakel, wollte man sie sich greifen. Das war also auch nichts Rechtes. Kaninchen aber, die waren ideal. Machten keinen Lärm, waren Verpflegung und Kapital zugleich.

Leyendecker schreckte aus seinen Gedanken hoch. Das Licht in der Knechtkammer war ausgegangen. In kurzer Zeit würde der Knecht schlafen. Jetzt verlosch auch das Licht in der Wohnstube, dann erhellt sich das Fenster eines anderen Zimmers. Die Schlafstube, schloss Leyendecker. Hier war es nur ganz kurz hell, danach lag das gesamte Gebäude im Dunklen. Ein halbes Stündchen warte ich noch, beschloss Leyendecker. Der Bauer hielt sich keinen Hofhund. Schlecht für den Bauern, gut für mich, dachte er.

Schließlich zog er den kräftigen Jutesack hervor, den er sich vorsorglich organisiert hatte. In einem der Dörfer, durch die Leyendecker vor ein paar Tagen gekommen war, vermisste ein Müller jetzt einen Futtersack...

Vorsichtig schleicht Leyendecker nun durch die Dunkelheit. Er hat sich alles eingeprägt. Richtung, Entfernung, mögliche Fußangeln, wie der Riegel der Stalltüre zu betätigen ist. Nur, wie es im Kaninchenstall aussehen wird, das weiß er nicht. Drinnen ist er noch nicht gewesen. Schnell hinkt er von seinem Beobachtungsposten zu der großen Scheuer hinüber. Er versucht dabei, sich gleichmäßig zu bewegen. Eine gleichmäßige Bewegung fällt weniger auf als eine plötzliche. Wo hat er das nur gehört… ? Jetzt steht er mit dem Rücken zur Scheunenwand, jetzt an der Türe zum Kaninchenstall. Klapp, die Tür ist auf. Leyendecker dringt ein warmer Geruch nach Heu entgegen, gleichzeitig der Dunst altgewordener Rüben und welken Salats. Leises Kratzen, fast unhörbare Bewegungen verraten Leyendecker, wo die Ziele seines Tuns zu finden sind. Wenn es bloß nicht so dunkel wäre! Hier drinnen ist es dunkler als dunkel, und Licht ist in Leyendeckers Plan nicht vorgesehen. Mit ausgestreckten Händen tastet er sich vor, spürt Käfiggitter an seinen Händen, sucht nach der kleinen Türe, die dort irgendwo sein muss, findet sie, sucht den Riegel, erkennt den Mechanismus, mit dem er funktionierte, öffnet ihn, öffnet die Tür, tastet in dem Käfig herum, spürt einen schmerzhaften Stich.....verdammt, das Vieh hat ihn gebissen, tastet weiter, ertastet weiches Fell, greift zu, greift dann mit beiden Händen zu, wird nochmals gebissen, spürt ein Sträuben, zieht kräftig an, klammert das Gegriffene mit einer Hand fest, schüttelt mit der anderen Hand den Jutesack auf, versenkt das Gegriffene in dem Sack, der Sack pendelt wild hin und her, etwas fällt polternd zu Boden, nichts wie hinaus hier, denkt sich Leyendecker, hinkt mit zwei Schritten ins Freie, über die kurze Wiese hinter den alten Viehstall, in dem Moment, wo in der Schlafstube des Bauernhauses das Licht angeht, läuft hinkend den Abhang hinab, stolpert, fällt hin, dreht sich mehrmals um die eigene Achse, da ist der Hohlweg, nimm die Beine in die Hand, Leyendecker, und ist in diesem Moment in der Dunkelheit entschwunden.....

So etwas machst du nie wieder, schwor sich Leyendecker. Nie wieder wirst du nehmen, was dir nicht gehört, gerade wie ein gewöhnlicher Tagedieb, es fehlt nicht viel, und du wirst Wegelagerer, schalt er sich. Die Geschehnisse der vergangenen Nacht hatten ihm den Schreck gehörig in die Glieder getrieben. Darüber hinaus hatten sie ihn zur Besinnung kommen lassen, ihn dazu gebracht, sich die Schwelle bewusst zu machen, an der er sich befand. Blieb der nächtliche Diebstahl eine Einzeltat, könnte sich Leyendecker nach einiger Zeit wieder zur Gesellschaft der ehrbaren Bürger zählen. Stahl er weiter, wäre er für immer ein Gesetzloser, ein Ausgestoßener......

Noch immer zappelt an diesem späten Vormittag seine in ihrem Jutesack sorgsam eingeschlossene Beute. Leyendecker war bis zur Morgendämmerung marschiert und hat sich dann abseits der alten Handelsstraße in den tieferen Wald zurück gezogen. Seit gestern hat Leyendecker nichts mehr gegessen. Nun vermeldet ihm sein Magen mit umso schmerzhafterem Druck, dass es Zeit wäre, Nahrhaftes zu sich zu nehmen.

Na, mein kleiner Freund, wollen doch mal sehen, wie du aussiehst.

Vorsichtig öffnet Leyendecker den Jutesack. Sein Gesicht verzieht sich zu einer freudigen Grimasse, als er des fetten Langohrs ansichtig wird, das er sich da gegriffen hat.

Ein schönes, dichtes Fell hast du, denkt sich Leyendecker, das wird mir bestimmt einige Kreuzer einbringen. Und dein Fleisch wird mich die nächsten drei Tage satt machen.

Einen Moment überkommt Leyendecker so etwas wie Trauer, das er seine Beute dafür ins Jenseits befördern muss, dann denkt er jedoch an die beiden Bisse, die ihm das Biest unbotmäßig zugefügt hat, greift sein Messer und erledigt die Sache.

Mit geübten Handgriffen zog er dem Kaninchen das Fell über die Ohren. Ein guter Schuster muss so etwas können. Dann ließ er das Fleisch ausbluten. Das Fell spannte er zum Trocknen über zwei Stecken. Eine Stunde später zerteilte er auch das Fleisch, entzündete ein kleines Feuer, briet sich die beiden Keulen und wickelte den Rest in seinen Jutesack. Im nächsten Dorf würde er das Fell verkaufen und für einen kleinen Teil des Erlöses einen ordentlichen Fuder Salz erstehen. Damit würde er das übrig gebliebene Kaninchenfleisch einpökeln.

Es gab keine Zeit zu verlieren. Leyendecker machte sich auf den Weg.

Spät an diesem Abend befand er sich wieder in seiner gut geschützten Zuflucht im dichten Unterholz. Alles war nach seinen Wünschen verlaufen. Das Kaninchenfell hatte ihm gutes Geld eingebracht. Nicht so viel, wie erhofft, aber immerhin. Das Fleisch war gesalzen, einige Kreuzer klimperten in seiner Tasche, die Nacht versprach mild zu werden.

Leyendecker war zufrieden. War eigentlich recht einfach, die Kaninchenbeschaffung, dachte er sich. Wenn es nur nicht so dunkel gewesen wäre. Das war der Haken an seinem Plan. Immerhin ist’s doch recht gut gelaufen fürs erste Mal und schließlich hat es sein müssen, erteilt sich Leyendecker selbst Absolution. Noch einmal gehe ich so ein Risiko aber nicht ein, beschließt er. Der nächste Plan muss besser werden…

Der nächste Plan wurde besser. Er brachte Leyendecker vier große frische Würste und ein Kuhfell ein. Dann suchte er nochmals den Bauern heim, dem er schon beim ersten Mal einen Besuch abgestattet hatte, griff sich diesmal drei Kaninchen und ließ nebenbei ein nagelneues Stallhalfter mitgehen. Als er das Halfter ein Paar Dörfer weiter versetzen wollte, wurde er auf einen Steckbrief aufmerksam, der an der Kirchentüre angeschlagen war. Nach einem Dieb wurde gesucht, der in diesem Bezirk schon mehrfach.... Leyendecker musste die Bekanntmachung zweimal lesen, bis ihm bewusst wurde, dass er damit gemeint war. Er ließ das Stallhalfter unauffällig in seinem Jutesack verschwinden und machte sich aus dem Staube. Ihm war klar geworden, dass es besser für ihn wäre, die Gegend bis auf Weiteres zu verlassen.

So zog er Nächtens weiter, schlief am Tage, bettelte nicht mehr, sondern stahl sich zusammen, was er brauchte, und langsam, ganz allmählich erkannte er, dass er sich nicht mehr auf Wanderschaft befand. Er war auf einer ziellosen Flucht. Vor den Bauern, die er bestohlen hatte, vor den Behörden, die wahrscheinlich nach ihm suchten, vor sich selbst.

So durchquerte Leyendecker den Hunsrück, planlos, hinkend, ein kleines Bündel auf dem Rücken, betrogene Hoffnungen im Herzen. Vielleicht wäre er tatsächlich irgendwann einmal von einem flinken Bauern gestellt, von ein paar Feldgendarmen aufgegriffen worden oder einfach nur erschöpft umgefallen, hätte ihn sein Weg nicht eines Tages und durch Zufall in das kleine Städtchen Simmern geführt. Denn dort fiel ihm der verletzte Hannes Bückler unversehens und direkt vor die Füße, damals, im August des Jahres 99.....

9. Kapitel

Das fliegende Gespinst der Erinnerung stoppt abrupt. Das war er gewesen, der aller erste Gedanke, den Leyendecker zu seiner Erleichterung, zur Genesung seiner überlasteten Seele so sehnlich gesucht und vom Schicksal so unverhofft zugeworfen bekommen hat. 99, das Jahr 1799, in dem alles begonnen hat. 99, nicht mehr als eine Zahl, unbedeutend für sich allein, doch gleichzeitig Initial für das Werden von Gedachtem zu Gegenständlichem, von Unausgesprochenem zu Gesagtem. Zu dem, was Leyendecker in seinem kleinen Sekretär gut verschlossen hält.....

Leyendecker hat sich nun wieder in seinen Lehnsessel gesetzt. Ob des nachgelegten Holzes flackert das Kaminfeuer jetzt lebhafter und macht mit seiner Wärme die Feuchtigkeit im Raum nur noch umso fühlbarer. Kalte Schweißtropfen stehen auf Leyendeckers Stirn. Er greift zur Portweinkaraffe, schenkt sich nach, leert das Glas in einem langen, wilden Zug, schenkt sich wieder ein. Der Wein ist dein bester Freund, denkt er sich. Der Wein ist dein einziger Freund, der dir noch geblieben ist, korrigiert er sich sogleich. Doch er muss sich zurückhalten, darf die Karaffe nicht austrinken. Schließlich erwartet er heute noch einen Besucher.

Leyendecker zieht ein Sacktuch aus der Tasche seines Hausgewands, tupft sich die Stirn, behält das Tuch danach in der Hand. In seiner Jugend waren ihm Schweißausbrüche solcher Art gänzlich unbekannt. In letzter Zeit macht sich sein Körper in dieser unangenehmen Weise immer öfter bemerkbar, einhergehend mit einem unbestimmbaren Gefühl des Schwindels. Den Gedanken an eine körperliche Erkrankung drängt Leyendecker resolut zurück. Sein Leben, so, wie er es geführt hat, hat ihn bis heute nicht umbringen können, also wird auch eine mögliche Krankheit darin nicht mehr Erfolg haben.

Der Regen, der bisher in langen, geraden Schnüren gefallen war, prasselt nun direkt auf die Scheiben von Leyendeckers Fenster. Der Wind muss sich gedreht haben, denkt sich Leyendecker und denkt dabei gleichzeitig an seinen Besucher. Der wird vollkommen durchnässt sein, wenn er die Mühle schließlich erreicht hat. Leyendecker spürt eine Veränderung im Raum und horcht auf. Das gleichförmige Knirschen des Mahlsteins hat aufgehört und fast gleichzeitig mit ihm das Dröhnen des Mühlrades. Der Müller hat wohl seinen Mahlauftrag beendet und macht nun Feierabend. Günstig, denkt Leyendecker, sehr günstig, dann bleibt das Geheimnis weiterhin gut beschwiegen. Wieder tupft er sich die immer noch feuchtkalte Stirn. Wenigstens das Gefühl des Schwindels ist kaum noch wahrnehmbar. Leyendecker erhebt sich erneut und begibt sich zu dem raumhohen Bücherregal, das die gesamte rechte Wand des Zimmers einnimmt. Mit präzisen Handgriffen entnimmt er von rechts das dritte, vierte und fünfte Buch der mittleren Reihe und legt den kleinen Stapel auf dem Salontisch neben ihm ab. Nun greift Leyendecker in die so entstandene Lücke, sucht nach etwas, was sich hinter den Büchern verbirgt, findet es. Leyendecker hält einen dunkelbraunen, hochgefüllten, mehrfach eingeklappten und mit Lederschnallen fest verschlossen Aktendeckel in der Hand. Nun, nachdem er die drei entnommenen Bücher sorgsam an ihren Platz zurückgestellt hat, sitzt er da, starrt mit halbgeschlossenen Augen die Akte an, die vor ihm im Halbdunkel auf dem Salontisch liegt. Leyendecker erhebt sich, hinkt schwerfällig zu seinem Schreibtisch hinüber, nimmt dort die Petroleumlampe, hinkt vorsichtig zum Salontisch zurück, stellt die Lampe ab. Petroleumlampen bereiten Leyendecker immer noch Unbehagen. Es ist zwar praktisch, dieses Licht, aber wenn es hinfällt, geht es nicht aus, man kann es auch nicht mit dem Fuß austreten, es brennt weiter und weiter und weiter.....vor Feuer hat Leyendecker eine panische Angst.

Der dick gefüllte Aktendeckel auf dem Salontisch ist nun in warmes Licht getaucht. Vorher, im Halbdunkel, wirkte er auf Leyendecker, der seinen Inhalt gut, zu gut kennt, noch irreal, ungreifbar. Jetzt, im Schein der Petroleumlampe, nimmt er für Leyendecker eine beängstigende Wirklichkeit an. Wie diese Akte in Leyendeckers Hände geriet, war für ihn selbst das Geheimnis eines Rätsels, das in einem Geheimnis steckte. An einem Tag im Spätsommer des Jahres 1802 war sie von einem unheimlichen Boten gebracht worden. Als Leyendecker des Nachmittags einer seiner seltenen Wege ins nahegelegene Dorf geführt hatte, hatte die Akte bei seiner Rückkehr in die Mühle auf seinem Schreibtisch gelegen. Ein Unbekannter musste also über Leyendeckers Abwesenheit wohlinformiert gewesen sein, sich dann am helllichten Tage unbemerkt Zutritt verschafft haben und ebenso unbemerkt wieder verschwunden sein. Der Müller, den Leyendecker natürlich sofort zur Rede stellte, schwor beim Andenken seiner Mutter, nichts gehört oder gesehen zu haben. Mit fliegenden Schritten hinkend war Leyendecker daraufhin in sein Zimmer zurück geeilt, hatte die Tür hinter sich zugeworfen, lehnte nun mit dem Rücken an ihr und starrte gebannt auf das mysteriöse Objekt. Der unheimliche Bote schien sich sicher gefühlt zu haben, hatte er sich doch die Zeit genommen, die Akte exakt in der Mitte von Leyendeckers Schreibtisch zu platzieren, grad so, als habe der, vor wenigen Augenblicken nur, eben noch den Inhalt studiert. Nun riss sich Leyendecker los, war mit wenigen Schritten am linken Fenster, entriegelte es, riss es auf, schaute sich wild umblickend hinaus. Stürmte dann zum rechten Fenster, tat dort das gleiche. Hatte er erwartet, den Unbekannten noch unter einem der Fenster lauernd anzutreffen? Leyendecker, du leidest unter Verfolgungswahn. Nein, Leyendecker, jemand ist hier eingedrungen. Das ist eine unumstößliche Tatsache. Diese Mühle, dieses Zimmer ist dein Leben. Jemand Fremdes ist in dein Leben eingedrungen. Dieser Jemand wollte nichts stehlen, hat nicht zufällig deine Mühle, dein Zimmer, dein Leben ausgewählt. Es geht um dich. Um niemand anderen als um dich. Du solltest eine ganz spezielle Botschaft erhalten... Leyendeckers jagende Gedanken stolpern, haken sich an dem Begriff „Botschaft“ fest. Die Bedrohung, soeben noch von der Körperlichkeit der Akte dort auf seinem Schreibtisch ausgegangen, begann für Leyendecker nun in ihren Inhalt zu sickern. Vorsichtig, nach jedem Schritt einhaltend, trat er näher, begann, das rätselhafte Objekt in Augenschein zu nehmen. Eine Mappe, von ihrer Größe dazu geeignet, eine beträchtliche Anzahl von Schriftstücken aufzunehmen, tatsächlich wohl auch gut gefüllt, aufwändig bezogen mit dunkelbraunem Leder, vor unbeabsichtigtem Öffnen durch zwei kräftigen Lederschnallen gesichert. Leyendecker schien nach der Mappe greifen zu wollen, streckte seine Hände aus, hielt inne, zog sie abrupt wieder zurück. Wenn du diese Akte aufnimmst, wenn du sie erst in Händen hältst, wirst du sie auch öffnen. Aber wenn du sie öffnest, wird nichts mehr so sein wie früher. Diese Erkenntnis, gleich einer Eingebung in seinem Bewusstsein aufgeblitzt, ließ Leyendecker nicht nur in seiner Bewegung erstarren, sondern ihn vor dem drohenden Schicksal und seinem Schreibtisch zurückweichen. Er fand sich in seinem Lehnsessel wieder, die Armlehnen mit den Händen krampfhaft umklammernd. Einige Minuten saß er so da. Dann ging eine Verwandlung in ihm vor. Leyendeckers Gesichtszüge waren leer geworden. Seine um die Lehnen gekrampften Hände öffneten sich, fielen herab. Wie in Trance oder als ob jemand Fremdes seine Bewegungen steuerte, erhob sich Leyendecker, ging hinüber zu seinem Schreibtisch, nahm die Mappe, zog entschlossen die Lederriemen auf, klappte den Deckel zur Seite, öffnete die Seitenteile und starrte dann auf das zuoberst liegende Dokument. Es ist das abschließende Protokoll einer Urteilverkündung des französischen Spezialgerichts zu Mainz, abgefasst in deutscher Sprache, datiert auf den 23.Tag des Monats November im Jahre des Herren 1803. An diesem Tage werden zwanzig Männer zum Tode durch das Fallbeil verurteilt. Einer von ihnen heißt Johannes Bückler mit Namen, besser bekannt als der Schinderhannes.

 

Lange hat Leyendecker bewegungslos da gestanden, hat auf seinen Schreibtisch hinunter gestarrt, auf das Protokoll, auf diesen einen Namen. Johannes Bückler. Damit hatten sich alle die Gerüchte von damals und gleichzeitig Leyendeckers schlimmste Befürchtungen bestätigt. Hannes war hingerichtet worden. Allerdings, wie es dazu gekommen war, dass er den Greifern in die Hände fallen konnte, darüber gab das Protokoll keine Auskunft. Oder doch? Leyendecker legte das oberste Blatt beiseite, nahm das nächste, überflog es, legte es zur Seite, nahm das nächste und so weiter, bis zum letzten Schriftstück. Er fand zwar nicht, was er suchte; dennoch, diese Papiere legten über nichts weniger als das Schicksal von 68 Menschen Zeugnis ab, viele davon Gefährten von Leyendecker, manche Freunde sogar. Leyendecker nahm die beiseitegelegten Dokumente wieder auf, ordnete sie, begann, sie nun erneut durch zu sehen, diesmal genauer. Das Bild, das daraufhin von den Geschehnissen des Sommers 1803 vor seinen Augen entstand, wurde zwar deutlicher, rundete sich jedoch nicht ab, enthielt vielmehr Lücken, warf mehr Fragen auf, als es Antworten enthielt. Ein Teil der Bande war tatsächlich durch Leyendeckers Verrat hochgegangen. Einige der Männer waren nach Saarbrücken verbracht und dort abgeurteilt worden, andere saßen zu diesem Zeitpunkt noch in Mainzer Kerkern und erwarteten ihren Prozess. Von einem bestimmten Tag an, Mitte des Monats Juni, erhöhte sich ihre Zahl jedoch schnell Tag um Tag, was für Leyendecker den Schluss nahe legte, dass jemand, der viele Zusammenhänge kannte, viel wusste, also in der Bandenhirarchie weit oben gestanden hatte, ein umfangreiches Geständnis abgelegt haben musste. An diesem Punkt begannen sich Leyendeckers Gedanken zu überschlagen. Hannes? Hannes sollte gestanden, alle seine Gefährten, seine besten Freunde ans Messer geliefert haben? Nein, Hannes und er, Leyendecker, hatten einen anderen Plan gehabt. Also kaum glaubhaft. Doch wenn nicht Hannes, wer dann? Vielleicht der Müllerhannes? Nein, der wusste zwar Einiges, aber beileibe nicht genug. Vielleicht der Scheele Franz? Der war mit Vielem vertraut. Was hatte sie ihm wohl geboten, damit er auspackte? Straffreiheit? Straffreiheit. Straffreiheit!

Leyendecker hatte nun wieder begonnen, die Seiten hastig durch zu blättern. Hannes hatten sich mit seinen beiden treuen Paladinen, Christian Reinhard und Christoph Erhard auf die Flucht begeben. Diese beiden Namen waren es, die Leyendecker nun in den Prozeßprotokollen suchte. Auf Christian Reinhard, auch Schwarzer Jonas genannt, stieß er nach kurzer Zeit, Christoph Erhard konnte er in den Akten jedoch nicht finden, Christoph Erhard, dem Hannes so viel Vertrauen geschenkt hatte.

Erhard war der Verräter. War Erhard der Verräter? Hannes war geschnappt worden und er scheinbar nicht. Zufall? Vielleicht. Oder eher doch Resultat eines wohlausgedachten Plans? Oder eines Geständnisses? War Hannes, der sich mit Leyendeckers Hilfe zum Verräter seiner Bande machte, selbst zum Verratenen geworden? Wäre Christoph Erhard in der Lage gewesen, einen solchen Plan zu schmieden? Leyendecker bezweifelte es, so, wie er den Christoph kennen gelernt hatte. Der war treu, willig, Hannes zutiefst ergeben und schreckte vor keiner schmutzigen Arbeit zurück. Der würde Hannes eher beschützt haben, als dass er ihn verriet. Und trotzdem. Warum war er nicht verhaftet worden? Oder doch? Leyendecker überlegte, eine Szene entstand vor seinen Augen. Christoph Erhard erledigt gerade einen Auftrag, als Hannes und die anderen hochgenommen werden, ist einfach nicht da, kommt womöglich grad hinzu, als sie Hannes abführen. Dann eine andere Szene. Christoph Erhard, der sich längst abgesetzt, Hannes und die anderen Leute hinter sich gelassen hat. Noch eine Szene. Christoph Erhard, der in einem dunklen Verhörzimmer sitzt, um Gnade winselt und auspackt, alles, was er weiß. Leyendecker schüttelte den Kopf und mit ihm die Bilder aus seinen Gedanken. Du weißt nichts, du ahnst nichts, du spekulierst nur, sagte er sich.