Leyendecker

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In der Zwischenzeit war Leyendecker in die Prozessprotokolle völlig vertieft, hatte seine Angst vor der Akte, die Angst vor ihrem Inhalt, die Frage, wie dessen Kenntnis sein Leben verändern würde und sich selbst vollkommen vergessen. Halb in seinem Unterbewusstsein nahm er wahr, dass es immer dunkler um ihn herum geworden war. Ohne darüber nachzudenken stand er auf, hinkte zum Salontisch, nahm die dort stehende Petroleumlampe, hinkte zum Kamin, entzündete einen Span an der nur noch schwachen Glut, entzündete damit die Lampe, warf den Span in den Kamin, schlurfte zurück zum Schreibtisch, stellte die Lampe ab, setzte sich, war sich gar nicht bewusst geworden, was er tat, war bereits wieder in der Vergangenheit entschwunden. Er suchte nach einem Hinweis, unter welchen Umständen Hannes verhaftet worden war und begegnete stattdessen einer Vielzahl von Hannes Anschlägen, wie dieser sie nannte. Die Erpressung von Hallgarten im März 1802, ein Plan, den Leyendecker selbst noch entwickelt hatte, durchgeführt zu einer Zeit lange nach seiner Abreise ins Hessische. Der Pächter des Montforter Hofes hatte kräftig zahlen müssen. Dann die Sache auf dem Neudorfer Hof im Februar. Die war von Leyendecker ebenfalls als Erpressung geplant worden, ging aber schief. Der Pächter wollte nicht zahlen, machte Krakeel und wehrte sich. Das Mainzer Gericht bezeichnete das als gemeinschaftlichen bewaffneten Raubüberfall. Pech. Dann im Januar die Kratzmühle bei Merxheim. Damit hatte Leyendecker nichts zu tun. Hannes hatte wieder einmal keine Geduld gehabt, hatte zugeschlagen, ohne lange nach zu denken. Wenig Beute und einen Überfall mehr auf dem Konto. Alles Taten der letzten Tage vor der Flucht. Hannes war zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich unruhig gewesen. Im Herbst des voran gegangenen Jahres hatte es hintereinander zwei Fehlschläge gegeben. Einen in Waldgrehweiler, einen in Obermoschel. Die Beute war kaum nennenswert gewesen, dafür hatten sie aber ordentlich eins auf den Pelz gebrannt bekommen. Dass die Überfallenen und die Bürger sich wehrten, war für Hannes etwas völlig Neues gewesen, so was kannte er noch nicht, das machte ihn nervös.

Für Leyendecker war das Studium der Protokolle, die laut Hannes‘ angeblichem Geständnis die Taten der Bande in dürrer Amtssprache verzeichneten, gleichsam zu einer Reise durch seine eigene Geschichte geworden. Während sein Blick, seine Aufmerksamkeit von Anklagepunkt zu Anklagepunkt wanderte, hatte er begonnen, im Geiste ein „war ich“ oder „war ich nicht“ dahinter zu setzen. Die größten Erfolge, dachte sich Leyendecker unweigerlich, hat Hannes in der Zeit gehabt, in der er ausschließlich auf mich gehört hat, nämlich vom Sommer 1800 bis zum Sommer 1801. Vorher war er doch nichts anderes als ein einfacher Wegelagerer und Straßenräuber gewesen, danach drohte er, zum Mordbuben zu verkommen. Natürlich hatte es einige Zeit gebraucht, bis Hannes ihm, Leyendecker, richtig vertraute. Wie lange war das eigentlich? Leyendeckers Erinnerung reist weiter rückwärts. Kennen gelernt hast du ihn ...wann war das? Richtig, im Spätsommer 99. Dann begann er, sich eine richtige Bande zusammen zu suchen und du wurdest Mitglied. Dann hieß es, dich zu bewähren, dann merkten sie, dass du der einzige warst, der richtig Lesen und Schreiben konnte, dann kamst du selbst auf die Idee mit den Passierscheinen und den Erpresserbriefen, von denen Hannes so begeistert war. Johannes-durch-den-Wald, dieser Name ist auch auf deinem Mist gewachsen...

Mit einem Schlage ist Leyendecker zurück in der Gegenwart. Der gegenwärtigen Gegenwart. Braucht einen Moment, um sich klar zu werden, das er an seinem Salontisch sitzt, die ganze Zeit gesessen und vor sich hin gestarrt hat, auf die Akte vor ihm. Leyendecker schaut sich unsicher um, schaut auf den alten Regulator neben der Türe. Halb acht. Mehr als eine Stunde muss er dort gesessen haben auf seiner Reise durch die Vergangenheiten. Als die Akte zu ihm kam, als Hannes verhaftet wurde, seine Zeit mit Hannes, als er Hannes kennenlernte. Als Hannes ihm vor die Füße fiel... sein erster aufgeschriebener Gedanke...

10. Kapitel

Man schrieb das Jahr 1799. Ein heißer Juli war zu Ende gegangen und hatte einem noch heißeren August Platz gemacht. Zumindest schien es Leyendecker damals so, als ihn seine Wanderschaft durch den Hunsrück in das Städtchen Simmern führte. Offiziell bezeichnete Leyendecker das, worauf er sich befand, immer noch als „Wanderschaft“; wenn er jedoch ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass es eigentlich mehr einer Flucht glich. In verschiedenen Bezirken wurde bereits steckbrieflich nach ihm gesucht, allerdings nur anhand seiner Beschreibung, nicht dem Namen nach. In die Gegend von Simmern war Leyendecker bisher jedoch noch nicht gekommen, so dass er es als ein nur geringes Risiko ansah, seinen Weg dorthin zu lenken. Immerhin war Simmern groß genug, um Aussicht auf ein paar zu verdienende Kreuzer zu geben. Denn wenn Leyendecker die Wahl hatte, sich das, was er zum Leben brauchte, zu erarbeiten oder zu erstehlen, dann wählte er stets die Arbeit. Nur hatte er eben schon zu lange nicht mehr vor dieser Wahl gestanden. Vielleicht aber eröffneten sich ihm in Simmern neue Möglichkeiten. Allerdings, ein gewisses Risiko bestand in Simmern schon, war es nicht nur Hauptstadt des Arrondissements, sondern beherbergte damit auch gleichzeitig das Bezirksgefängnis, in dem schon so mancher „Wanderer“ auf Nimmerwiedersehen verschwunden sein sollte, wie man sich in einschlägigen Kreisen zu erzählen wusste.

Bereits kurze Zeit nach Leyendeckers Einzug in die Stadt hatte sich erwiesen, dass sich Simmern zwielichtigen Wanderern gegenüber äußerst abweisend verhielt. Seinen Ruf „Der Schuster ist da!“ hatte sich Leyendecker damals längst abgewöhnt. Erstens hatte eine Stadt wie Simmern bereits einen, wenn nicht sogar mehrere Schuster, davon war auszugehen. Zweitens gab es für einen reisenden Schuster sowieso praktisch keine Aufträge mehr. Dies hatte Leyendecker leidvoll erfahren müssen. Und drittens war anderenorts auf einem Fahndungsblatt der Vermutung Ausdruck gegeben worden, dass die Ankunft eines fahrenden Flickschusters im Dorfe und der Diebstahl von vier frisch geschossenen Rebhühnern aus einem Forsthaus in der Nähe in direktem Zusammenhang stehen könnten. Also hielt sich Leyendecker fortan in dieser Hinsicht zurück. Außerdem war Leyendecker in der Zwischenzeit bereit, jede Arbeit, die ob seines lädierten Beins zu verrichten ihm möglich war, anzunehmen, Hauptsache, sie brachte Geld.

In diesem Sinne zog Leyendecker also durch Simmern. Die Not ist in den Städten groß, aber auf dem Lande ist sie wohl noch größer, musste er erkennen. Die Knute Napoleons hatte alle getroffen, die Bevölkerung auf dem Lande allerdings früher und härter als die in der Stadt. So hatten viele Arbeitskräfte, Knechte und Mägde, auf der Suche nach mehr Glück das Land verlassen und waren dorthin gezogen, wo es mehr Menschen gab, mehr Verkehr, mehr Arbeit, mehr Geld. Die Bauern indes saßen plötzlich allein auf ihrer Scholle, wussten die Arbeit nicht mehr zu schaffen und waren für einen des Wegs kommenden Gehilfen dankbar. In den Städten jedoch kehrte sich diese Situation um. Zu viele waren es, die arbeiten wollten, zu wenige waren es, die Arbeit anzubieten hatten. Diejenigen, die Arbeit fanden, freuten sich diebisch und rieben sich die Hände. Diejenigen jedoch, die leer ausgegangen waren, blieben in der Stadt oder in deren Nähe, versuchten ihr Glück in Gelegenheitsarbeiten oder ließen sich vom Militär anwerben. Den Weg zurück aufs Land hingegen fand kaum einer, schien das Einschlagen dieses Wegs doch gleichbedeutend zu sein mit Scheitern und Zukunftslosigkeit.

Dies bekam auch Leyendecker schnell zu spüren. Gab es Arbeit für ihn? Nein, es gab keine Arbeit. Für einen Krüppel schon gar nicht, rief ihm ein alter Stellmacher nach, den Leyendecker gewagt hatte anzusprechen. Was also tun? Ein Plan musste her, und zwar schnell! Leyendecker überlegte. Wäre das Militär nicht etwas für dich? Nein, das ist kein guter Plan, Leyendecker. Außerdem wird dir dieser Weg von deinem steifen Bein versperrt. Welche Möglichkeiten hast du noch? Du kannst einfach weiterziehen. Oder auch nicht. Wie lange reichen deine Vorräte noch? Zwei Tage? Vielleicht drei, wenn du sparsam bist. Wo wirst du schlafen? Da findet sich schon etwas, du musst nur danach suchen. Und dann? Dann wirst du weitersehen. Mit dem neuen Tag kommen auch neue Ideen. Das war schon immer so. Also auf, Leyendecker, der Tag geht zur Neige. Die erste Nacht in Simmern wartet auf dich. Mach dich auf die Suche nach einem freien Logis.

Tatsächlich hat Leyendecker im unverschlossenen Schuppen einer Schmiede Unterschlupf gefunden. Die Nacht war ohnehin schon warm genug, neben der Schmiede aber war es brütend heiß, und auch der festgestampfte Lehmboden erwies sich zum Nachtlagern als nicht besonders komfortabel. Trotzdem hat Leyendecker recht gut geschlafen und blinzelt nun aus der Tür seiner Unterkunft in den frühen Morgen hinein. Die Luft ist noch frisch, der Dunst, den Leyendecker zwischen den Dächern hindurch über den umliegenden Hügeln erkennen kann, verspricht jedoch wieder einen heißen Tag. Die Uhrzeit schätzt Leyendecker auf knapp die sechste Stunde. Aus dem Anbau der Schmiede, in dem der Schmied mit seiner Familie wohnt, dringen noch keine Geräusche. Dort scheint man also noch nicht wach zu sein. Mit wenigen Handgriffen hat Leyendecker seine Siebensachen zusammen gepackt und sich auf den Weg gemacht. Frühstücken wird er woanders, etwas außerhalb der Stadt vielleicht. Er hat Glück gehabt, auf eine Schmiede mit einem so verschlafenen Schmied zu stoßen. Vielleicht würde ihm Leyendecker die nächste Nacht wieder einen Besuch abstatten. Mal sehen. Denn man soll sein Glück bekanntlich niemals zu sehr beanspruchen.....

Zwei Stunden später ist Leyendecker zurück in Simmern. Vorher hat er vor den Toren der Stadt etwas abseits im Schatten einer Linde sein Frühstück verzehrt. Vielleicht ist`s ausgerechnet die frühere Gerichtslinde, hat Leyendecker gedacht und sich von dem Gedanken nicht weiter stören lassen. Er hat ein wenig von dem kalten, gepökelten Fleisch genascht, dazu eine dicke Scheibe Brot (Butter, hat er sich gedacht, ich muss mir endlich einmal wieder Butter besorgen....), hat ein paar Schlucke Wasser genommen und fühlte sich dann ausreichend gestärkt und zuversichtlich für den bevorstehenden Tag. Dann ist er wieder nach Simmern hinein marschiert, wo er nun recht ziellos, doch zufrieden durch die Gassen streicht. Leyendecker fühlt sich wohl. Er hat noch genug Vorräte, eine Adresse für die Nacht, er kann sich frei bewegen, denn hier wird er nicht gesucht, niemand ist hinter ihm her, und er ist der Überzeugung, dass sich ihm heute ein guter Plan eröffnen wird. Deswegen lässt er sich auch Zeit, schaut sich dieses und jenes an, bleibt bei einem Händler stehen, der Eisenwaren feilbietet, kauft natürlich nichts, sondern geht weiter, wieder stehen bleiben, ein paar Worte wechseln, weitergehen, den ganzen Vormittag hindurch.

 

Der anbrechende Mittag hielt dann mit seiner Hitze alles das, was der dunstige Morgen einstmals versprochen hatte und brachte Leyendecker dazu, sich eiligst nach Schatten umzusehen. Unter einer Kastanie nahe dem Dorfbrunnen verbrachte er daraufhin die heißesten Stunden des Tages, nun hat die Sonne zu sinken begonnen und Leyendecker den Entschluss fassen lassen, sich einmal die alte Stadtbefestigung näher anzusehen.

Warum hat Leyendecker diesen Entschluss gefasst? Warum gerade diesen? Warum hat er sich die alte Stadtbefestigung ansehen wollen, in der zudem das Bezirksgefängnis für Schwerverbrecher untergebracht war, und nicht etwa das Gebäude der französischen Militärverwaltung von Simmern? Was bringt einen Menschen dazu, grundlos etwas Bestimmtes zu tun, wo er mit dem gleichen Grund auch etwas ganz anderes hätte tun können? Hat sich sein Gewissen gemeldet? Oder sein Unterbewusstsein?

Gleichwohl, kurze Zeit später stand Leyendecker vor den hohen, dunkel anmutenden Turm und schaute hinauf. Erschauerte er bei diesem düsteren Anblick? Mitnichten. Vielmehr schien es, als warte er, warte auf etwas ganz Bestimmtes, etwas ganz Besonderes.

Er wartete lange, bewegungslos, den Blick nach oben gerichtet. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont versunken. Plötzlich ein unbestimmtes Geräusch, das von der Höhe des Turms zu vernehmen war. Leyendeckers Erstarrung löste sich, hastig sah er sich nach allen Seiten um. Dann kehrte das Geräusch wieder, ließ sich jetzt als Knirschen, als Scharren ausmachen. Leyendeckers Blick begann, sich auf ein bestimmtes Fenster des Turms zu konzentrieren. Was geschah mit diesem Fenster? Bewegte es sich? Ja, es schien sich nach vorne zu neigen. Dann ein dumpfer Schlag. Noch einer. Dann fielen kleine Steine und Steinbrocken herab, dann das ganz Fenster. Es landete direkt vor Leyendeckers Füßen, der in seiner Spannung nicht einmal beiseitegetreten war. Als er nun wieder den Turm hinauf blickte, hing ein Seil aus der Fensteröffnung, das fast bis auf den Grund des alten Grabens am Fuße des Turms reichte. Dann schwang sich ein Mann aus dem Fenster und begann, sich an dem Seil hinab zu lassen. Was sollte Leyendecker tun? Weglaufen? Unsinn! Dem Mann das Seil halten? Ebensolcher Unsinn. Man konnte sehen, dass der ganz gut alleine zurecht kam. Also verlegte sich Leyendecker weiter aufs Zuschauen. Der Kletterer hatte nun gut die Hälfte des Wegs nach unten hinter sich. Noch ein Stück.

Als das Seil riss, war der Mann fast unten angekommen, aber eben nur fast. Er schrie auf, als er aus knapp zwölf Fuß Höhe abstürzte und am Grund des Grabens aufschlug. Dann schrie er ein zweites Mal auf, diesmal nur lauter, als der schwere Stein, der aus dem Mauerwerk der Fensteröffnung oben im Turm ausgebrochen war, auf seinem rechten Bein landete. Seinen dritten Schrei gab er von sich, als der hinzu geeilte Leyendecker den rechten Arm des Mannes mit einem kräftigen Ruck um seine Schulter schwang und den Kletterer selbst daran hochriss. Komm, lass uns abhauen, sie sind bestimmt gleich hinter uns her, keuchte Leyendecker, indem er begann, ihn vom Gefängnisturm weg zu zerren, hinein in die beginnende Dunkelheit.

Der erste Abschnitt ihrer Flucht war nur von kurzer Dauer. Der Mann, erkannte Leyendecker, stand noch unter Schock. Erst der Ausbruch, dann der Absturz, dann eins aufs Bein bekommen, letzteres wahrscheinlich mit dem Resultat Beinbruch, das konnte einem Mann schon ganz schön zusetzen. Der hatte noch kein Wort von sich gegeben, nur manchmal kurz aufgestöhnt, wenn Leyendecker unvorsichtig war und das gebrochene Bein irgendwo anschlug. Weite Strecken waren so nicht zurück zu legen. Deshalb hielt Leyendecker nach einem Versteck Ausschau, das ihnen für eine Weile Deckung geben könnte. Am Rande einer von dichtem Buschwerk umstandenen, verlassenen Weide bemerkte er einen roh zusammen gezimmerten Bretterverschlag, von mächtigen Bäumen gut gedeckt, ehemals wohl als Unterstand fürs Vieh gedacht. Ideal für uns, befand Leyendecker, sandte einen ärgerlichen Blick gen Himmel, zum Mond hinauf, der in seiner ganzen Pracht dort stand und schickte sich an, mit seiner Last die Weide zu umrunden, anstatt sie zu überqueren. Dann könnt ich ja gleich eine Lampe mit mir herumtragen, dachte er sich.

In dem Verschlag angekommen, ließ er den Verletzten vorsichtig auf die Erde hinab, bemühte sich, es ihm etwas bequemer zu machen, vermied es, sein Bein zu berühren, setzte sich ihm dann gegenüber, kramte seine Trinkflasche hervor und reichte sie dem Mann.

Trink Bruder, hast dir einen ordentlichen Schluck verdient.

Der Mann ergriff die Flasche, setzte sie an, tat einen tiefen Zug, verzog dann leicht das Gesicht. Wasser! meinte er feststellend.

Natürlich Wasser, versetzte Leyendecker, was hast du denn sonst erwartet?

Wein, meinte der Mann. Wenn sie dich schon zu meinem Empfang schicken, hätten sie dir ruhig Wein mitgeben können.

Schicken? empört sich Leyendecker nun, zu deinem Empfang schicken? Mich hat niemand geschickt!

Und wieso hast du dann gewusst, dass ich diesen Abend abhauen würde, will der Mann jetzt wissen.

Hab ich ja gar nicht, meint Leyendecker. Irgendwie hat er das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Wieso eigentlich?

Schließlich... schließlich hab ich dich aus dem Schlamassel geholt, empört sich Leyendecker nun. Eigentlich könntest du mal Danke sagen und überhaupt, wie heißt du eigentlich?

Der Mann grinst, macht eine unvorsichtige Bewegung, verzieht schmerzhaft das Gesicht, grinst wieder. Nenn mich einfach Hannes, meint er. Und dein werter Name ist...?

Leyendecker heiß ich, antwortet Leyendecker.

Der andere streckt Leyendecker nun seine Hand hin. Danke, Leyendecker! sagt er.

Eine Zeitlang unterhalten sich die beiden noch. Dann bemerkt Leyendecker, das der andere, der sich Hannes nennt, immer öfter das Gesicht verzieht und darüber ganz glasige Augen bekommen hat.

Wir müssen etwas für dich tun, sagt Leyendecker, der im Stillen beschlossen hat, vorerst das Kommando zu übernehmen. Hier können wir nicht bleiben und abwarten, bis es dir immer dreckiger geht.

Nach Sonnschied, flüstert Hannes und Leyendecker erkennt, das er Fieber hat. Wir müssen nach Sonnschied, da kenn ich Leute.

Das sind gut vier deutsche Meilen, widerspricht Leyendecker. Wie willst du das schaffen mit deinem gebrochenen Bein? Leyendecker denkt an vier Meilen mit einer solchen Last an der Seite, denkt daran, wie unsinnig es doch ist, einen solch idealen Unterschlupf freiwillig vorzeitig zu verlassen, denkt an die Nachtmärsche, die nun folgen werden, denn bei Tage kann sich zwar ein kleiner Dieb sehen lassen, nicht aber zusammen mit einem verletzten, ausgebrochenen Gefangenen.

Bring mich nach Sonnschied, wiederholt Hannes und macht Anstalten, aufzustehen.

In Gottes Namen, denkt Leyendecker, hilft Hannes auf die Beine, schlingt dessen Arm wieder um seine Schulter, dann machen sich die beiden auf den Weg.

11. Kapitel

Einige Minuten später haben sie, wieder im Schutz des Gebüschs, die Weide umrundet und einen schmalen Feldweg gefunden, der in südliche und damit in die richtige Richtung zu führen scheint, denn sie müssen sich nach Kirn orientieren. Kirn liegt ziemlich genau südlich von Simmern, und Sonnschied liegt nur ein ganz kleines Stück östlich von Kirn. Ganz einfach. Zumindest hatte es so einfach geklungen, als Hannes dem Leyendecker den einzuschlagenden Weg auseinander setzte. Hannes kennt sich in dieser Gegend aus, Leyendecker nicht, und es war doch immerhin möglich, dass Hannes wegen seines Fiebers den Überblick verlor.

Es ist ein mühsam‘ Ding, wie die beiden dort einher hinken und, ganz ehrlich, keiner von beiden glaubt in diesem Moment, dass sie den Weg nach Sonnschied schaffen werden. Der Feldweg ist gar nicht so lang, aber wenn der eine humpelt und sich auf den anderen stützt, der hinkt, dann erscheint auch ein kurzes Stück des Wegs meilenweit. Sprechen die beiden miteinander? Nein, dafür ist das Laufen viel zu anstrengend. Sie sind zwar zusammen, doch jeder ist dabei für sich allein.

Endlich mündet der unebene Feldweg auf eine besser befestigte Straße.

Das ist die Straße nach Kirchberg, meldet sich Hannes. Auf der können wir nicht bleiben. Falsche Richtung. Aber ein paar Schritt weiter zweigt, glaub ich, ein Weg links ab. Der ist gut.

Sie gehen weiter. „Die paar Schritt“ geraten viel länger, als gedacht. Leyendecker beginnt, nervös zu werden, führt die Handelsstraße doch meist ohne Deckung die Feldraine entlang, die klare Vollmondnacht macht die beiden Wanderer weithin sichtbar.

Wenn uns jetzt eine Nachtstreife sieht, sind wir geliefert, flüstert Leyendecker.

Unsinn, flüstert Hannes zurück, die Nachtstreifen sind nur um die Ortschaften herum unterwegs und von Simmern sind wir schon viel zu weit entfernt. Kaufleute und Wanderer sind nur des Tags unterwegs. Bei Nacht triffst du hier höchstens auf Leute wie uns.

Ja, richtig, denkt sich Leyendecker, auf Mörder und Diebe und andere Verbrecher, auf entlaufene Gefangene, eben auf Leute, die das Licht scheuen, Leute wie uns. Gedanken wie diese bereiten Leyendecker immer noch Unbehagen, doch er sagt nichts. Einer, dem die Zukunft ungewiss ist, kann nicht wählerisch sein.

Hier links. Hannes hat abrupt angehalten, damit auch Leyendecker aus seinen Gedanken gerissen und zum Stillstand gebracht. Leyendecker selbst hätte den schmalen Wiesenpfad gar nicht bemerkt, der am Rande einer Weide ein Stück ins Tal hinab führt, um dann in dichtem Mischwald zu verschwinden. Die Aussicht auf Deckung lässt Leyendecker seinen Schritt beschleunigen, doch Hannes stöhnt auf und Leyendecker geht sogleich wieder langsamer.

Dann haben sie den sicheren Wald erreicht, humpeln noch einige Schritte weiter, setzt mich ab, sagt Hannes und Leyendecker setzt ihn ab und setzt sich neben ihn.

Wir müssen einen Plan machen, meint Leyendecker.

Können wir nicht was für mein Bein tun, fragt Hannes.

Ja, eben deswegen brauchen wir ja einen Plan, antwortet Leyendecker.

Was hast du denn vor, will Hannes wissen.

Ich will mir dein Bein ansehen, antwortet Leyendecker, und wenn’s schief ist, will ich’s gerade rücken. Dann binden wir einen Knüppel dran, damit’s auch gerade bleibt.

Hast du so was schon mal gemacht, fragt Hannes.

Nein, meint Leyendecker, aber ich hab schon mal gesehen, wie’s bei einer Kuh gemacht wurde......

Sie einigen sich schließlich darauf, die Sache anzugehen, sobald es hell genug ist. Hannes hätte es am liebsten sofort hinter sich gebracht, doch Leyendecker hat darauf bestanden, den Anbruch des Tages abzuwarten. Wenn es dunkel ist, sehe ich nicht, ob dein Bein schief ist, hat Leyendecker gesagt. Und wenn es schief ist, kann ich’s bei Dunkelheit nicht einrichten. Und einen passenden Knüppel finde ich im Dunklen auch nicht. Außerdem beginnt der Mond schon zu verblassen. Lang ist’s nicht mehr bis zum Tag. Versuch ein wenig zu schlafen. Ich passe auf und weck dich, wenn’s soweit ist.

Tatsächlich schien Hannes kurz darauf eingeschlafen zu sein. Zumindest sagte er nichts mehr, lag still und atmete ruhig und gleichmäßig. Derweil saß Leyendecker neben seinem neuen Gefährten und hielt Wache. Auch er war zum Umfallen müde, aber wenn man sich bereit erklärt, wach zu bleiben und auf einen anderen aufzupassen, dann musste man das auch tun, das war Ehrensache.

 

Nach einiger Zeit begann der nachtschwarze Himmel, sich ein wenig bläulich zu verfärben. Oh nein, es war wirklich nicht einfach, die Augen offen zu halten. Leyendecker schraubte leise seine Wasserflasche auf, nahm einen kleinen Schluck, goss sich einen winzigen Schluck der kostbaren Flüssigkeit in die Hand, rieb sich damit durchs Gesicht. Solange du nicht weißt, wo du das nächste Wasser her bekommst, musst du mit dem, was du hast, geizig sein. Außerdem war da auch noch Hannes.....

Wieder einige Zeit später schien der neue Tag nun endgültig beschlossen zu haben, anzubrechen. Es wurde hell. Leyendecker schüttelte kräftig den Kopf und damit die Müdigkeit aus seinen Augen, rüttelte vorsichtig Hannes Schulter, der schlug seine Augen auf, die immer noch fiebrig glänzten und war übergangslos wach. Dann konnte Leyendecker jedoch an Hannes Gesicht ablesen, wie dem die Geschehnisse des vergangenen Tages und der Nacht Stück für Stück wieder einfielen. Soll es jetzt sein, fragte Hannes. Ja, antwortete Leyendecker, jetzt musst du eine Weile aufpassen, ich mach mich auf die Suche nach einem guten Stück Holz.

Ein solches Stück Holz zu finden zeigte sich schwieriger, als Leyendecker erwartet hatte. Alles, was er auflas, war entweder zu kurz oder zu krumm, zu nass, zu morsch oder zu schmal. Dann jedoch fiel sein Blick auf einen umgestürzten Baum, scheinbar vom Winde gefällt und kurz oberhalb seiner Wurzel gebrochen. Leyendecker betrachtete sich den zersplitterten Stamm genauer, fand, was er suchte, versuchte, das festsitzende Scheit aus dem Stamm heraus zu brechen, riss sich einen Splitter in die Hand, zog ihn mit seinen Zähnen wieder heraus, zog nun wieder an dem Scheit, drehte es aus dem Stamm und hatte es in der Hand. Leyendecker suchte sich einen großen Stein am Boden, zog das Scheit von allen Seiten mehrmals darüber, um die lose sitzenden Holzsplitter zu entfernen, legte das Scheit dann schräg an den Stein an und stellte sich mit seinem gesunden Bein darauf. Das Scheit hielt. Zufrieden klemmte sich Leyendecker seine Beute unter den Arm und machte sich auf den Rückweg zu Hannes.

Hannes hatte sich in der Zwischenzeit etwas aufgesetzt, in Leyendeckers Sachen nach der Wasserflasche gesucht, diese auch gefunden und sich entsprechend bedient. Dann hatte er die Flasche jedoch nicht wieder in Leyendeckers Bündel zurück gesteckt, sondern neben sich liegen lassen. Erstens glaubte Hannes nicht, dass Leyendecker etwas dagegen gehabt hätte, wenn er sich einen Schluck Wasser nähme und zweitens: unter Gleichgesinnten war man ehrlich zueinander, da machte man sich gegenseitig nichts vor. Tatsächlich zeigte sich Leyendecker auch nicht weiter erstaunt, als er seine Wasserflasche neben Hannes sah. Hast du noch Wasser übrig gelassen, fragt Leyendecker. Wir werden gleich noch Wasser brauchen.....

Hannes fühlt nichts Gutes auf sich zukommen. Zu fragen, wofür sie das Wasser gleich noch brauchen würden, traut er sich nicht. Leyendecker fordert ihn jetzt auf, seinen Hosenbund zu öffnen und beginnt dann, ihn seiner Beinkleider zu entledigen. Als sie beide nun zum ersten Mal des Bruchs ansichtig werden, fährt beiden ein gehöriger Schreck in die Glieder. Zwei Zoll unter dem rechten Kniegelenk lässt sich deutlich eine Spitze unter der Haut erkennen, die von einem blauroten Ring umgeben ist; der ganze Unterschenkel ist deutlich aus der Linie gerückt. Lieber Herr Jesus, denkt sich Hannes. Da müssen wir nun durch, denkt sich Leyendecker, der übrigens genau so aschfahl im Gesicht ist wie Hannes selbst. Leyendecker sucht nach einem passenden Holzspan auf dem Boden um sich herum, findet einen, zieht nun aus seinem Beutel ein Stück Stoff, wickelt es um den Holzspan, heißt Hannes, seinen Mund auf zu machen, der gehorcht, steckt ihm den Span zwischen die Zähne, greift sich Hannes Bein, holt tief Luft, drückt den Bruch zurück, drückt das Bein in die Richtung, von der er meint, dass es die richtige wäre, Hannes keucht erstickt auf, will losbrüllen, kann aber nicht, denn der Holzspan steckt zwischen seinen Zähnen, Leyendecker dreht ein letztes Mal an dem Bein, so müsste es gerade sein, wir haben’s geschafft meint Leyendecker und sieht Hannes an, der schon längst ohnmächtig geworden ist.....

Eine gute Zeit später kommt Hannes wieder zu sich. Leyendecker hat Hannes Besinnungslosigkeit genutzt, das Holzscheit mit seinem Messer noch etwas zurecht zu schnitzen, es dann am Bein seines Gefährten entlang des Bruchs anzupassen und mit einigen Streifen Stoff festzubinden. Der Stoff entstammt Leyendeckers zweitem Hemd, das er einstmals mit auf Wanderschaft genommen und bisher noch nie benutzt hat. Für diesen Zweck nun hat er es bedenkenlos geopfert. Schließlich hat Leyendecker noch den Holzspan zwischen Hannes kraftlos gewordenen Kiefern entfernt und den umgesunkenen Verletzten vorsichtig in eine bequeme Lage gebracht. Dann hat sich Leyendecker endlich selbst ausruhen können, dabei jedoch Wache gehalten, Hannes ständig im Blick und mit Knurren im Magen.

Doch Leyendecker durfte noch nicht essen. Wenn du jetzt etwas isst, schläfst du gleich darauf ein, dachte er sich. Und hier, so nahe am Wegesrand, musste einer von Zweien immer wach bleiben. Auch wenn der Weg so einsam gelegen war wie dieser; gerade dann.

Doch da schlug Hannes die Augen auf.

Wie geht es dir, erkundigte sich Leyendecker mitfühlend.

Furchtbar, entgegnete Hannes, aber Leyendecker bemerkte, dass der fiebrige Schimmer in Hannes Augen nachgelassen hatte.

Du musst schlafen, Leyendecker, meinte Hannes nun.

Gut, entgegnete Leyendecker, kannst du derweil wach bleiben?

Ich weiß es nicht, gab Hannes zu.

Dann kann ich auch nicht schlafen, befand Leyendecker. Entweder muss ich wach bleiben, oder wir versuchen, tiefer in den Wald hinein zu kommen. Jedenfalls fort von dem Weg hier.

Die Vorstellung, aufstehen zu müssen, um sich mit dem geschienten Bein, in dem es wie rasend pochte, über Stock und Stein in den Wald hinein zu schleppen, erfüllte Hannes mit Schrecken. Doch dachte er gleichzeitig auch an Leyendecker. Der hatte viel für ihn getan. Außerdem war er auf Leyendecker angewiesen, jedenfalls für den Moment. Ohne Leyendecker würde Hannes keine zehn Schritt weit mehr kommen und einen total erschöpften Leyendecker konnte er nicht gebrauchen. Also fassten sich die beiden Gefährten wieder an ihren Schultern und hinkten, humpelten, begleitet von schmerzvollem Stöhnen, tiefer in den Wald hinein.

Kurze Zeit später hatten sie in einer Gestrüpp überwucherten und von trockenem Laub bedeckten Mulde einen angenehmen Ruheplatz gefunden. Leyendeckers für einen Esser auf zwei Tage bemessenen Vorrat hatten sie nahezu aufgebraucht und auch die Wasserflasche war bedenklich geleert. Darüber war es später Vormittag geworden. Die Sonne stand schon recht hoch am Himmel, die Bäume um sie herum spendeten jedoch angenehmen Schatten und strahlten dabei eine wohltuende Kühle aus. Die rechte Zeit also, um ein wenig zu schlafen und neue Kräfte zu sammeln für die kommende Nacht.

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