Der Palast des Poseidon

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6

Werden Sie den Auftrag annehmen?«, erkundigte sich Oskar, nachdem die beiden Griechen gegangen waren.

Humboldt deutete auf die Stühle rund um den Tisch. »Setzt euch.«

Oskar ließ seinen Blick über die vielen Karten, Papiere und Dokumente gleiten, die dort ausgebreitet lagen. Der Forscher nahm auf der anderen Seite Platz, putzte seine Brille und lächelte dann in die Runde. »Meine lieben Freunde«, begann er theatralisch. »Ich weiß, unser letztes Abenteuer ist gerade mal ein paar Monate her – und ich bin mir unsicher, ob ich euch erneut der Gefahr aussetzen darf – aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir diesen Auftrag annehmen sollten. Dieses Projekt scheint mir ein idealer Start für unser kleines Unternehmen zu sein. Die Reise ist überschaubar und die Risiken halten sich in Grenzen.«

Oskar runzelte die Stirn. »Überschaubar? Dieser Kapitän hat von einem Seeungeheuer gesprochen! Von riesigen Fangarmen, die sein Schiff in die Tiefe gezogen hätten! Ich finde, dass das äußerst bedrohlich klingt.«

Charlotte stieß ein kleines Lachen aus. »Und so etwas glaubst du?«

»Du etwa nicht?«

»Mein lieber Oskar, deine Abenteuerromane in allen Ehren, aber du solltest wirklich etwas realistischer sein. Das ist Seemannsgarn. Die Wahrscheinlichkeit, dass es so ein Lebewesen wirklich gibt, ist so gering wie die Chance, innerhalb der nächsten hundert Jahre zum Mond fliegen zu können.« Sie strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

»Und die Rieseninsekten in Peru? Wie groß waren die Chancen, dass wir auf solche Kreaturen stoßen? Und vorhin erzählt mir dieser Nikomedes, dass es den Minotaurus vielleicht doch gegeben hat. Also wenn du mich fragst, meine Abenteuerbücher sind alle noch nicht abenteuerlich genug. Ich habe keine Lust, gleich wieder dem nächsten Monstrum in die Hände zu fallen.«

Charlotte gab ein abfälliges Schnauben von sich. Zuerst sah sie so aus, als wäre das Thema damit für sie erledigt, doch dann schien ihr noch etwas einzufallen. Sie neigte den Kopf und fragte mit einem verschmitzten Augenaufschlag: »Hast du etwa Angst?«

»Ob ich …? Quatsch!«

»Klang aber so.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Bleiben wir doch bei den Fakten. Der Mann war betrunken. Er steuert sein Schiff gegen eine Klippe und behauptet, ein Seeungeheuer habe ihn angegriffen. Klingt für mich nach einem Fall für die Schifffahrtsbehörde.«

»Ja, wenn es nach dir ginge, wäre immer alles erklärbar«, murrte Oskar. »Was für eine trostlose Welt.«

Humboldt hob beschwichtigend die Hände. »Halt, halt. Ehe ihr beide euch an die Gurgel geht, möchte ich auch noch etwas dazu sagen. Zum einen: Du hast wahrscheinlich recht, Charlotte. Vermutlich war der Mann betrunken und vermutlich gibt es gar kein Seeungeheuer. Aber wir dürfen die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass irgendetwas anderes den Untergang des Schiffes bewirkt hat. Vielleicht ein Tornado oder eine Anomalie im Wasser. Man hört ja immer wieder von sogenannten Malströmen.« Er ließ seine Hände auf den Tisch sinken. »Für mich gibt es gute Gründe, diesen Auftrag anzunehmen. Wie ihr wisst, habe ich vor, mein Luftschiff in naher Zukunft zu modernisieren. Mein Labor bedarf einer dringenden Überholung und ihr benötigt eine neue Ausrüstung. Alles Dinge, die Geld kosten. Nikomedes hat mir für die Aufklärung des Falles einen beträchtlichen Betrag angeboten. Wenn es uns gelingt herauszubekommen, was am 19. Mai dieses Jahres tatsächlich geschehen ist, sind wir gemachte Leute. Dieser Auftrag, zusammen mit dem Patent für ein Luftschiff, das ich Graf von Zeppelin verkauft habe, spült einiges an Bargeld in unsere Kassen. Damit können wir eine ganze Weile gut leben und forschen. Abgesehen von der Reputation, die uns ein solcher Auftrag einbringt.« Er zwinkerte ihnen zu. »Wenn ihr mich fragt: Ich halte das Risiko wirklich für überschaubar und werde den Auftrag, wenn nötig, auch alleine übernehmen. Meine Frage an euch lautet also: Seid ihr mit dabei oder wollt ihr lieber hierbleiben?«

»Ob wir …?« Charlotte verschränkte die Arme vor der Brust. »Natürlich kommen wir mit, nicht wahr, Oskar?«

Oskar stieß einen tiefen Seufzer aus. So richtig große Lust verspürte er keine, aber als Feigling wollte er auch nicht dastehen.

»Klar«, murmelte er.

»Fein.« Humboldt rieb sich die Hände. »Dann können wir gleich zum nächsten Punkt kommen. Ich habe die Angaben des Reeders überprüft und festgestellt, dass er vertrauenswürdig ist. Die Familie Nikomedes zählt zu den reichsten in ganz Griechenland. Sie ist sehr alt und einflussreich. Ihr gehören nicht nur die erwähnten Frachter, sondern auch eine Fischfangflotte sowie die daran angeschlossenen Betriebe. Fabriken, die den Fisch zu Konserven verarbeiten, Lagerhallen, Versandunternehmen, das ganze Programm.« Humboldt seufzte. »Tja, das ist die Zukunft, meine Lieben: Fisch aus der Dose, wann immer man Appetit darauf hat. Wahlweise natürlich auch Muscheln oder Tintenfische.«

Charlotte rümpfte die Nase. Oskar hingegen hatte nichts gegen Dosenfisch. Wenn man Hunger hatte, schmeckte alles lecker, selbst irgendein matschiges Seelebewesen in Öltunke.

»Morgen werden wir die Pachacútec aus ihrem Heuschober in Spandau befreien«, fuhr der Forscher fort. »Die alte Dame dürstet danach, wieder mal Wind unter ihrem Rock zu spüren. Unser Ziel ist Athen.« Er tippte auf die Karte. »Laut Nikomedes’ Angaben sind auch andere Reedereien von den Angriffen betroffen. Es wird gemunkelt, dass sich die Gesamtzahl der verschwundenen oder gesunkenen Schiffe auf ein Dutzend beläuft. Das Merkwürdige ist, dass bisher nur Metallschiffe betroffen waren. Holzschiffe wurden verschont. Die Berichte stammen von den Inseln Milos, Ios und Anafi, alle im Bereich des Kretischen Meeres. Wenn es einen ersten Anlaufpunkt gibt, dann die Schifffahrtsbehörde in Athen.«

»Und was ist mit dem Seeungeheuer?«, fragte Oskar unbehaglich. »Sollten wir uns nicht wenigstens irgendwo erkundigen, ob ein solches Wesen schon mal gesichtet worden ist?«

»Gute Idee«, sagte Humboldt. »Wie es der Zufall so will, befindet sich in Athen das größte Institut für Meeresbiologie im gesamten Mittelmeerraum. Auch wenn die Chancen gering sind, dass wir dort etwas über das Ungeheuer erfahren, so ist es doch ein guter Anlaufpunkt für weitere Nachforschungen.«

»Warum nehmen wir nicht den Zug?«, schlug Charlotte vor. »Wir könnten die beiden Herren begleiten und bei der Gelegenheit noch mehr Informationen einholen.«

»Im Prinzip wäre dagegen nichts einzuwenden, aber es gibt einen Grund, warum ich lieber per Luftschiff reisen möchte.«

»So? Welchen denn?«

»Ich glaube, dass es das Beste ist, wenn wir vor ihnen in Athen sind. Nikomedes hat eine Andeutung gemacht, die mich stutzig werden ließ. Er sagte, unsere Nachforschungen könnten nicht überall auf ungeteilte Zustimmung stoßen. Was er damit genau meinte, habe ich nicht herausbekommen, aber es hat gereicht, um bei mir die Alarmglocken schrillen zu lassen.« Humboldt warf ihnen einen ernsten Blick zu. »Es ist gut möglich, dass die beiden überwacht werden. Es wäre also ganz hilfreich, wenn wir unsere Untersuchungen schon abgeschlossen hätten, ehe sie wieder in Athen eintreffen.« Er fuhr mit dem Finger über die Karte. »Um unentdeckt zu bleiben, werden wir nachts und über unbebautes Gebiet fliegen. Zuerst geht es über die Alpen, dann ab nach Triest, über die Adria und runter bis nach Griechenland.« Sein Finger beschrieb eine Linie quer über den Plan. »Wenn wir über den Golf von Korinth manövrieren, können wir uns Athen ungesehen bis auf wenige Kilometer nähern. Ich habe vor, die Pachacútec irgendwo in den Hügeln hinter Chaidari zu landen, einem kleinen Dorf in den Hügeln außerhalb Athens. Es gibt dort ein entlegenes Tal, wo man unser Schiff nicht finden wird. Von dort aus mieten wir uns eine Kutsche und fahren nach Athen. Es ist eine großartige Stadt, sie wird euch gefallen.«

Eliza warf Humboldt einen skeptischen Blick zu. »Hast du keine Angst, dass jemand das Schiff findet und damit davonfliegt?«

»Ich kenne die Gegend von früheren Reisen«, erwiderte der Forscher. »Sie ist absolut menschenleer. Aber selbst wenn sich mal ein einsamer Hirte dorthin verirren sollte, die Pachacútec ist mit einigen technischen Neuerungen ausgestattet, die jeden Dieb in die Flucht schlagen würden. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.«

Oskar blieb skeptisch. Wenn ihn das Leben eines gelehrt hatte, dann das: Wenn etwas schiefgehen konnte, ging es in den meisten Fällen auch schief. Diese Einstellung hatte ihm schon oft das Leben gerettet. Er wagte aber nicht darüber nachzudenken, was das in ihrem speziellen Fall wohl bedeuten mochte.

»Keine Fragen mehr? Gut.« Der Forscher klatschte in die Hände. »Ich denke, dann wäre wohl alles besprochen. Morgen früh geht’s los. Ich muss gestehen, ich kann es kaum erwarten, endlich wieder einmal Griechenland besuchen zu dürfen. Die sanften Hügel, die Zypressen und der Wein …«, er warf Eliza ein Lächeln zu. »Wir haben bis dahin allerdings noch einiges zu erledigen. Eliza, du bist wie immer für den Proviant zuständig, ich selbst werde die Geräte packen und ihr beiden solltet auf den Dachboden gehen und die Koffer holen. Zack, zack, wir haben keine Zeit zu verlieren!«

7

Es ging bereits auf vier Uhr zu, als Oskar und Charlotte die Tür zum Dachboden erreichten. Der Eingang lag nicht weit von Charlottes Zimmer entfernt, aber Oskar hatte ihn noch nie bemerkt, weil er gut versteckt war. Er war nur über eine herausziehbare Holzleiter zu erreichen, die beinahe unsichtbar in die Decke eingelassen war.

»Da wären wir«, sagte Charlotte. »Kannst du mal kurz die Lampe halten?« Sie nahm einen Holzstab mit einem Metallhaken von der Wand, hängte ihn in den Ring am unteren Ende der Luke und zog daran. Die an Federn aufgehängte Ausziehleiter kam ihnen entgegen und Charlotte ließ sie am Boden einrasten. »Vergiss Wilma nicht.« Der kleine Vogel saß in seinem Körbchen und blickte erwartungsvoll zu den beiden Jugendlichen hoch. Er hatte unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass er bei der Exkursion dabei sein wollte, und da er die Treppe nie alleine hochgekommen wäre, war das die praktikabelste Lösung.

 

»Warst du schon mal hier oben?« Oskar gab Charlotte die Lampe zurück und nahm stattdessen das Körbchen.

»Ist schon eine ganze Weile her«, sagte sie, während sie nach oben kletterte. »Das erste Mal war ich etwa vier oder fünf Jahre alt. Meine Eltern hatten mich auf einen Sonntagnachmittagsbesuch mitgenommen und ich habe mich fürchterlich gelangweilt. Ich weiß noch, wie mein Onkel mich an die Hand genommen und hier hinaufgeführt hat. Seitdem war ich von diesem Haus fasziniert. Am besten, du schaust es dir selbst an.«

Oben angekommen, schloss Charlotte die Luke und schob den Riegel vor. Oskar öffnete Wilmas Körbchen. Die Kiwidame sprang heraus und fing sogleich an, die dunklen Winkel zu durchstöbern.

Verwundert blickte Oskar sich um. Wenn er geglaubt hatte, einen düsteren, unaufgeräumten Dachboden vorzufinden, sah er sich getäuscht. Der Raum war an die fünf Meter breit und mindestens zwanzig lang. In der Mitte standen Regale, die bis zu dem spitzgiebeligen Dach emporragten und in denen unzählige Präparate und Fundstücke lagen. Rechts und links waren flache Vitrinen angebracht, in denen Versteinerungen, Mineralien, Kristalle, ausgestopfte Tiere, Totems, hölzerne Masken, Steinfiguren, Schnitzereien und Musikinstrumente aufbewahrt wurden. In den schrägen Dachfirst waren große Fenster eingelassen, durch die man einen fantastischen Blick auf die Parkanlagen rund um den Plötzensee hatte. Warmes Nachmittagslicht strömte herein. Charlotte löschte die Lampe. »Na, habe ich dir zu viel versprochen?«

»Du meine Güte«, sagte Oskar. »Und ich dachte, es wäre nur eine einfache Abstellkammer.«

»Da kennst du deinen Herrn aber schlecht«, erwiderte sie. »Bei Humboldt ist nie etwas nur einfach. Ich glaube, es gibt keinen anderen Menschen, der so akribisch Ordnung hält. Gegen ihn bin ich geradezu schlampig veranlagt. Schau dir nur diese Fundstücke an. Alles fein säuberlich nach Ländern und Volksstämmen geordnet.« Sie nahm eine hölzerne Maske aus dem Regal und hielt sie sich vors Gesicht. »Das ist eine Maske der Makonde aus Deutsch-Südwestafrika. Die Eingeborenen verwenden sie dort für Fruchtbarkeitsrituale.« Vorsichtig legte sie die Maske wieder weg und griff nach einem gebogenen Aststück, das irgendwie hohl zu sein schien. Ein langer Spalt durchtrennte das Holz von einem Ende zum anderen. »Das ist eine Schlitztrommel. Hör mal.« Sie schlug mit einem dünnen Stab auf das Holz.

Ein melodischer Klang ertönte.

»Hm.« Oskar runzelte die Stirn. So faszinierend das alles auch war, sie hatten eine Aufgabe zu erledigen. »Wo sind denn nun die Koffer?«, fragte er. »Ich habe sie bisher noch nicht finden können.«

Charlotte warf ihm einen schrägen Blick zu. »Du bist der ungeduldigste Mensch, den ich kenne, habe ich dir das schon mal gesagt?«

»Schon öfter.« Er grinste übers ganze Gesicht. »Also, wo sind sie?«

Charlotte bedachte ihn mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Ehe wir uns mit den Koffern befassen, wollte ich noch eine andere Sache untersuchen. Eliza sagte mir, es gäbe hier irgendwo eine Truhe, die wir uns unbedingt ansehen sollten. Sie sagte, sie enthalte einige Dinge, die für uns von großer Wichtigkeit sein könnten. Dieser Schlüssel sollte dazu passen.« Sie griff in ihre Tasche und holte einen kupferfarbenen, alt aussehenden Schlüssel mit langem Bart hervor.

»Eine Truhe …?« Das klang geheimnisvoll. Oskar spähte durch das staubige Licht. »Vielleicht dort hinten. Da steht etwas Großes, Klobiges. Lass uns mal rübergehen.«

Gemeinsam durchquerten sie den Dachboden und blieben vor der Kiste stehen. Es war ein riesiger eisenbeschlagener Kasten, der ein wenig an eine Piratenkiste erinnerte. Sein Aussehen allein reichte aus, um Oskar zu überzeugen, dass sie tatsächlich einem Geheimnis auf der Spur waren.

»Das muss sie sein. Versuchen wir es mal.«

Charlotte steckte den langen gusseisernen Schlüssel ins Schloss und drehte um. Ein Klicken ertönte. Der Riegel schnappte auf.

»Dann mal los.« Mit geröteten Wangen hob sie den Deckel.

Die Truhe war gefüllt mit Unmengen von Theaterrequisiten. Schirme, Fächer und Kostüme, dazwischen zusammengerollte Plakate und Bündel von Eintrittskarten. Stirnrunzelnd griff Oskar hinein und zog eines der Plakate hervor. »Die Fledermaus«, murmelte er, als er das Papier auseinandergerollt hatte. »Operette von Johann Strauss. Theater an der Wien, unter der Leitung von Impresario Maximilian Steiner.«

»Schau mal, hier sind noch mehr Plakate. Das Pensionat von Franz von Suppé. Und hier: Indigo und die vierzig Räuber.« Charlotte hielt eine Fotografie hoch. Darauf zu sehen war eine dunkelhaarige Frau mit einem geheimnisvollen Lächeln. Sie stand vor einem gemalten Hintergrund, der einen Park mit Tempeln darstellte. Oskar betrachtete die Frau näher: Sie trug ein helles Gewand, Pluderhosen und Schnabelschuhe. Ihre pechschwarzen Haare waren zu einer arabisch anmutenden Frisur hochgesteckt, die mit Bändern zusammengehalten wurde, was ihr das Aussehen einer Tänzerin aus Tausendundeiner Nacht verlieh.

»Theresa von Hepp«, las Charlotte, als sie die Aufnahme umdrehte. »Eine Autogrammkarte, anlässlich der Premiere von Indigo und die vierzig Räuber.«

»Auf den Plakaten steht auch überall ihr Name«, sagte Oskar. »Humboldt muss sie wohl sehr gemocht haben.«

»Eine schöne Frau«, bemerkte Charlotte. »Vielleicht hat mein Onkel mal eine Affäre mit ihr gehabt.« Sie lächelte. »Ob ich ihn mal fragen soll?«

»Lieber nicht«, erwiderte Oskar. »Er kann sehr jähzornig werden, wenn man seine Nase in seine privaten Dinge steckt.«

»Stimmt«, räumte Charlotte ein. »Eine Liebschaft würde aber erklären, warum er sich plötzlich so für die schönen Künste interessiert. Er kann nämlich mit Kunst und Musik gemeinhin recht wenig anfangen.«

»Die Plakate und Fotos sind alle schon etwas älter«, murmelte Oskar. »Weißt du, ob er früher mal in Wien gelebt hat?«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Er ist viel gereist, aber in unserer Familie wurde nie darüber gesprochen. Mutter und er haben deswegen bis auf den heutigen Tag ein gespanntes Verhältnis.«

»Warum eigentlich?«

Charlotte zuckte die Schultern. »Angeblich, weil er fortgegangen ist, anstatt sich um die familiären Angelegenheiten zu kümmern. Meine Mutter wirft ihm vor, er hätte sie und Oma im Stich gelassen. Die beiden haben eine Weile zusammengelebt, ehe meine Großmutter starb – wahrscheinlich an der Lungenepidemie von 1882. Als Humboldt von seinen Reisen zurückkam, war sie jedenfalls tot und meine Mutter fortgezogen.«

»Hm.« Oskar war nicht wohl dabei, in Humboldts privaten Sachen herumzuwühlen. Er konnte sich auch nicht erklären, was das alles mit ihnen zu tun hatte. Er wollte so schnell wie möglich die Koffer holen und dann von hier verschwinden.

»Also ich kann nichts finden«, sagte er. »Bist du sicher, dass Eliza diese Kiste gemeint hat?«

»Siehst du irgendwo noch eine andere? Außerdem hat der Schlüssel gepasst. Komm, lass uns weitersuchen!« Sie fing an, die Requisiten auszuräumen und sorgfältig auf dem Boden zu stapeln.

Es dauerte eine Weile, bis sie die Truhe leer geräumt hatten. Als sie endlich so weit waren, machte sich Ernüchterung breit. Unten war nur ein einfacher Boden, sonst nichts. Keine Klappe, kein Scharnier.

Oskar klopfte gegen das Holz. »Seltsam«, murmelte er.

»Was meinst du?«

»Ich frage mich …« Er betrachtete die Kiste von der Seite.

»Was ist denn los?«

»Ich glaube, dass da irgendwo noch ein Zwischenfach eingearbeitet ist. Sieh mal: Für einen einfachen Boden ist der viel zu dick.«

Charlotte hielt die Finger neben die Truhe und spreizte sie auf einen Abstand von zehn Zentimetern. »Du hast recht«, sagte sie. »Da ist ein doppelter Boden drin. Vielleicht gibt es hier ja irgendwo einen versteckten Hebel oder Knopf.«

Sie hatten gerade angefangen, danach zu suchen, als es an der Luke, durch die sie gekommen waren, scharrte und klopfte. »Hallo? Ist da jemand?«

Es war Humboldt!

Die beiden Jugendlichen warfen sich einen entgeisterten Blick zu. »Schnell, alles wieder zurück in die Kiste!«, zischte Charlotte.

Hektisch warfen sie die Requisiten zurück in die Truhe und schlossen den Deckel. Keinen Augenblick zu früh, denn in diesem Moment bewegte sich der Riegel zur Seite. Humboldts Kopf erschien in der Öffnung.

»Na endlich!«, rief er. »Ich habe euch schon überall gesucht!«

Als er sah, dass die beiden neben der Kiste hockten, verengten sich seine Augen. »Was macht ihr denn da? Ich dachte, ihr wolltet nur schnell die Koffer holen und dann wieder runterkommen.«

»Oh, ich habe Oskar nur mal deine Sammlung gezeigt«, log Charlotte. Die Aufregung hatte rote Flecken auf ihre Wangen gezeichnet. »Ich wollte ihm unbedingt deine Masken und die Schlitztrommel vorführen. Du weißt doch, die aus Tansania.«

»Ja, ich weiß«, sagte der Forscher, immer noch misstrauisch dreinblickend. »Ich hoffe, ihr habt nichts durcheinandergebracht.«

»Natürlich nicht.« Charlotte stand auf und klopfte den Staub von ihrem Kleid. »Du weißt doch, wie vorsichtig ich mit deinen Sachen umgehe.«

»Hm. Na gut.« Er sah die beiden streng an, dann sagte er: »Jetzt aber zackig! Wir müssen mit unseren Vorbereitungen fortfahren. Die Koffer liegen dort hinten unter einer Decke. Nehmt alle mit und dann kommt wieder runter.«

8

Athen, drei Tage später …

Die Hitze in der Innenstadt war drückend. Die Flaggen vor dem Polytechnikum hingen schlaff herunter. Kein Lufthauch war zu spüren. Die Sonne ließ die Luft flimmern. Selbst die Tauben, die sonst den Platz zwischen der technischen Universität und dem Archäologischen Nationalmuseum bevölkerten, hatten sich in den Schatten zurückgezogen und warteten auf die kühleren Nachmittagsstunden.

In den Räumen der Fakultät für Nautik und Marinetechnik war es noch halbwegs erträglich. Das dicke Gemäuer hatte die angenehme Eigenschaft, Wärme zu speichern und sie nur langsam weiterzugeben. So fror man nicht, wenn man nachts noch arbeiten musste, und hatte es tagsüber, wenn die Sonne Athen in einen Glutofen verwandelte, angenehm kühl.

Prof. Dr. Christos Papastratos, Dekan der Fakultät, war gerade damit beschäftigt, die Vorlesungsunterlagen für den morgigen Tag zusammenzustellen, als es an die Tür klopfte.

»Ja, bitte?«

Im Türrahmen erschien der Kopf seines Assistenten, eines jungen Burschen mit strubbeligen Haaren. »Professor?«

»Ah, du bist’s, Gregorios. Was gibt es?«

»Draußen stehen ein paar Besucher, die unbedingt zu Ihnen wollen.«

»Die sollen sich vorne einen Termin geben lassen. In den Sprechstunden, montags und mittwochs ab sechzehn Uhr.«

»Sie sagen aber, sie hätten es eilig. Sie haben gesagt, sie hätten Referenzen, und dass Sie sie bestimmt vorlassen würden, wenn Sie wüssten, um was es geht.«

Der Professor seufzte. »Können die Leute denn keine Termine mehr machen, so wie früher?« Er fuhr sich durchs Haar. »Heutzutage hat jeder es immerzu eilig. Alles muss schnell, schnell, schnell gehen. Kein Wunder, dass dabei die Qualität auf der Strecke bleibt. Was sind das überhaupt für Leute?«

»Ich glaube, es sind Deutsche«, sagte Gregorios. »Sie haben einen sehr merkwürdigen Akzent. Sie sind überhaupt sehr merkwürdig.«

»Deutsche? Haben sie gesagt, was sie wollen?«

Der Junge schüttelte den Kopf.

Papastratos rückte seinen Stuhl zurück und stand auf. »Na gut. Maximal eine Viertelstunde. Mehr Zeit habe ich wirklich nicht. Führ sie herein!« Er klappte seinen Ordner zu und stellte ihn ins Regal zurück. Kaum hatte er sich wieder umgedreht, als ein hochgewachsener Mann mit langem Mantel, Zylinder und schwarzem Spazierstock den Raum betrat. Der Knauf des Stabes hatte die Form eines goldenen Löwenkopfes.

In seinem Gefolge befanden sich eine dunkelhäutige Frau und zwei Jugendliche – ein Mädchen, gekleidet in ein elegantes hellblaues Kleid, und ein Junge in Tweedhosen, weißem Hemd und Schiebermütze. Zwischen ihren Beinen lief – Professor Papastratos senkte die Brille – ein Kiwi. Das kleine Geschöpf nutzte den Schatten, um sich fortzubewegen, wobei seine hornigen Zehen auf dem Marmor klappernde Geräusche erzeugten. Der Dekan vergaß seinen Mund zu schließen. Merkwürdig, hatte Gregorios sie genannt, doch das war bei Weitem untertrieben.

 

»Professor Papastratos«, sagte der hochgewachsene Mann und kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Sie ahnen gar nicht, wie sehr ich mich freue, Sie kennenzulernen. Man hat Sie uns wärmstens empfohlen. Genau genommen sind Sie unsere letzte Hoffnung.« Das Griechisch des Mannes war ein wenig unbeholfen, aber gut verständlich. Offenbar ein Mann von Bildung.

»Das klingt ja sehr geheimnisvoll«, bemerkte Papastratos. »Was kann ich für Sie tun?«

»Zuerst einmal möchte ich mich vorstellen. Mein Name ist Humboldt. Carl Friedrich von Humboldt. Dies sind meine Begleiter: Eliza Molina, Charlotte Riethmüller und Oskar Wegener.«

Der Professor lupfte eine Augenbraue. »Humboldt? Wie der berühmte Naturforscher?«

»Alexander von Humboldt war mein Vater«, entgegnete der Mann.

»Ganz erstaunlich«, sagte der Dekan. Er bezweifelte, dass dieser Mann tatsächlich ein Nachkomme des berühmten Weltreisenden war, aber er wollte sich gern anhören, was den Mann zu ihm führte. »Welch eine Ehre, Sie hier begrüßen zu dürfen. Sind Sie auch Forscher?«

»In der Tat. Allerdings habe ich dem Universitätsbetrieb in jüngster Zeit den Rücken gekehrt, um meine Fähigkeiten in den Dienst der Wirtschaft zu stellen. Ich bin, wenn Sie so wollen, ein Privatermittler für ungewöhnliche Phänomene. Und genau in dieser Mission bin ich zurzeit unterwegs. Sagt Ihnen der Name Nikomedes etwas? Stavros Nikomedes?«

»Natürlich«, entgegnete Papastratos. »Jeder in Athen kennt die Familie. Sie ist eine der ältesten und respektabelsten Reederfamilien in dieser Stadt. Stavros ist der Juniorchef, habe ich recht?«

»Genau in dieser Funktion war er bei mir. Es geht um die verschwundenen Schiffe.«

Jetzt wusste Papastratos, woher der Wind wehte. Natürlich hatte er die Geschichten gehört. Gerüchte von riesigen Seeungeheuern und mysteriösen Angriffen. Und jetzt kam dieser Humboldt damit ausgerechnet zu ihm.

»Haben Sie davon gehört?«

»Natürlich«, erwiderte Papastratos. »In den Kneipen wird viel darüber spekuliert. Wildes Seemannsgarn, das kann ich Ihnen erzählen. Ich wüsste aber nicht, wie ich Ihnen weiterhelfen könnte. Vielleicht versuchen Sie es mal bei der Schifffahrtsbehörde.«

Humboldt seufzte. »Da waren wir schon. Ebenso beim marinebiologischen Institut der Universität. Wir sind von Pontius zu Pilatus gelaufen, aber niemand glaubt an die Geschichte vom Seeungeheuer. Alle gehen davon aus, dass die Schiffsunglücke irgendwelche natürlichen Ursachen haben. Seebeben, Stürme, Alkoholismus, die Liste ist lang. Um ehrlich zu sein, ich habe mir so etwas gedacht, ich wollte nur erst alle Fakten beisammenhaben, ehe ich mir ein abschließendes Urteil bilde. Es gibt da allerdings eine Sache, die mich aufhorchen ließ. Vor etwa zehn Jahren schien schon einmal ein Unglück passiert zu sein. Eine Katastrophe, die erstaunliche Ähnlichkeit mit den jüngsten Fällen hat und die bis heute nicht aufgeklärt wurde. Wissen Sie etwas darüber?«

Papastratos faltete die Hände, schwieg aber.

»Herr Dekan, bitte. Was wissen Sie über einen Mann namens Livanos? Man sagte mir, Sie wären derjenige, der ihm am nächsten stand. Ein Spezialist, sozusagen. Man sagte mir, wenn ich etwas über ihn in Erfahrung bringen wolle, wären Sie der richtige Ansprechpartner.«

Der Professor blickte auf. »Livanos«, sagte er. »Das ist ein Name, den ich seit einer langen Zeit nicht mehr gehört habe. Einer sehr langen Zeit …«

Die Augen des Forschers weiteten sich hoffnungsvoll. »Dann können Sie uns also weiterhelfen?«

Papastratos versank in Schweigen. Einerseits war er mit Arbeit eingedeckt, andererseits ließ der Name Livanos alte Erinnerungen wach werden.

Er überlegte einen Augenblick, dann stand er auf. »Bitte entschuldigen Sie mich einen kurzen Moment.« Er öffnete die Tür und verließ das Zimmer. Als er seinen Assistenten sah, winkte er ihn zu sich. »Gregorios, ich will, dass du für heute alle Termine absagst. Ich möchte nicht gestört werden.«

»Aber Ihr Treffen mit dem Direktor um zwei …?«

»Ich sagte alle. Besorge uns ein paar Tassen Tee und etwas Gebäck, und zwar schnell, wenn ich bitten darf.« Er klatschte in die Hände und beobachtete, wie sein Assistent davoneilte, dann drehte er sich um und kehrte zu seinen Gästen zurück.

Der Forscher hatte in der Zwischenzeit einen kleinen grauen Kasten hervorgeholt und ihn auf den Tisch gestellt. Papastratos blieb in der halb geöffneten Tür stehen.

»Was ist denn das?«

»Eine Übersetzungsmaschine«, erklärte Humboldt. »Sie wird unsere Unterhaltung erleichtern und gleichzeitig dafür sorgen, dass wir nicht belauscht werden. Möchten Sie sie einmal ausprobieren?«