Der Palast des Poseidon

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9

Oskar verfolgte die Unterhaltung mit gespannter Erwartung. Professor Papastratos war ein eleganter, gut gekleideter Mann Mitte fünfzig, mit einem kleinen Spitzbart, einem feinen Anzug und einem Zwicker auf der Nase. Sein graues Haar war ordentlich gescheitelt und hinter die Ohren gekämmt. Der Mann sah vertrauenswürdig aus. Sein Assistent, ein neugierig dreinblickender Wuschelkopf mit leuchtenden Augen, hatte in der Zwischenzeit ein Tablett mit Tee und Blätterteiggebäck gebracht und war neugierig in der Tür stehen geblieben. Oskar sah ihm an, wie gerne er das Gespräch verfolgt hätte. Doch der Professor winkte ihn energisch hinaus. Widerstrebend verließ der Junge den Raum. Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, stand der Professor auf.

»Sie wollen etwas über Alexander Livanos wissen? Nun, ich glaube, ohne Übertreibung sagen zu dürfen, dass ich ihm nahestand wie kein zweiter – obwohl wir so unterschiedlich waren wie Tag und Nacht. Er war etwas jünger als ich, doch er wusste schon damals genau, was er wollte. Livanos war eines der größten Genies unserer Zeit. Ein Mann, der gleichermaßen umstritten wie verkannt war. Alles, was er sagte, was er tat und dachte, war von einer Klarheit und Reife, wie man sie gewöhnlich nur bei wesentlich älteren Männern antrifft.« Er ging zu einem der meterhohen Bücherregale und zog einen schweren, in Leder gebundenen Band heraus. Auf dem Buchdeckel waren vorne ein Anker und ein Zahnrad eingeprägt. Papastratos rückte seine Brille zurecht und begann zu blättern. Nach einer kurzen Weile hatte er gefunden, wonach er suchte. Er drehte das Buch zu ihnen hin.

»Das ist er.«

Oskar reckte den Hals. Der Kupferstich zeigte einen Mann von vielleicht dreißig Jahren. Ein ebenmäßiges hübsches Gesicht mit schmaler Nase und vollen Lippen. Seine Augen schienen vor Neugier und Begeisterung zu leuchten.

»Livanos wuchs als jüngerer von zwei Brüdern in ärmlichen Verhältnissen auf«, sagte der Professor. »Der Vater und sein Bruder arbeiteten auf der Werft in Piräus, dem Hafen von Athen. Sie schufteten von früh bis spät, um der Familie ein Auskommen zu sichern. Alexander, dessen enorme Intelligenz schon früh sichtbar wurde, ersparte man diese Tortur. Er sollte eine andere Richtung einschlagen. Er durfte eine Schule besuchen, später das Polytechnikum, wo wir beide uns kennenlernten. Ich war zwar nur ein einfacher Student, aber ich erkannte die Kühnheit seiner Entwürfe und ermunterte ihn dazu, sie seinen Professoren vorzustellen.«

»Um was für Entwürfe ging es dabei?«, fragte Humboldt.

»Nun, in erster Linie um Werftbauten. Vollautomatische, hoch technisierte Konstruktionen, die ein Schiff mit einem Minimum an menschlichen Arbeitskräften reparieren oder zusammenbauen können. Technische Wunderwerke, die den Arbeitern die unmenschlichen Bedingungen ersparen sollten, die Livanos in seiner Kindheit erlebt hatte.«

»Werften«, bemerkte Humboldt nachdenklich. »Was Sie nicht sagen …«

Er legte die Stirn in Falten und schrieb ein paar Bemerkungen in sein ledergebundenes Notizbuch.

»Um es kurz zu machen, die Vorschläge wurden von der Fakultät rundherum abgelehnt«, fuhr Papastratos fort. »Sie wurden als Hirngespinste abgetan, als Visionen eines unreifen Jugendlichen. Dabei waren sie das Großartigste, was ich je gesehen hatte.«

»Was geschah dann?«

»Livanos verließ die Hochschule von einem Tag auf den anderen. Denjenigen, die ihn mochten und respektierten, erzählte er, dass er hier nichts mehr lernen könne. Er habe bereits Kontakt zu Leuten aufgenommen, die ihn auf seinem Weg unterstützen würden und die nicht so kleingeistig dachten wie die Professoren an dieser Hochschule.« Über Papastratos’ Gesicht huschte ein feines Lächeln. »Wissen Sie, er hatte recht. Die Schule war damals noch nicht, was sie heute ist. Seit Livanos fortging, hat sich hier einiges geändert, was nicht zuletzt mein Verdienst ist.« Er strich über sein Bärtchen.

»Wissen Sie, von welchen Leuten er sprach, als er sagte, er habe Kontakt mit ihnen aufgenommen?«

»Oh ja. Einer von ihnen war Tesla.«

Humboldt hatte gerade seine Teetasse an die Lippen gesetzt. Er zuckte zusammen, verschluckte sich, dann begann er zu husten. Offenbar hatte er Mühe, nicht die ganze Ladung über den Tisch zu prusten. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war und sich das Kinn abgetupft hatte, sagte er: »Nikola Tesla?«

»Sie kennen ihn?«

»Nicht persönlich, nein, aber ich habe von ihm gehört. Wer nicht?«

Charlotte hob die Augenbrauen. »Wer ist denn dieser Tesla? Muss man den kennen?«

Humboldt drehte ihr entrüstet den Kopf zu. »Liebes Kind, wo hast du die letzten sechzehn Jahre nur gelebt?«

»In der Höheren Töchterschule in Bern, das weißt du genau.«

»Ja, sicher«, lenkte der Forscher ein. »Ich meine nur, habt ihr da nichts Vernünftiges gelernt? Nikola Tesla ist einer der bedeutendsten Erfinder unserer Zeit!« Er zeigte auf das Linguaphon. »Einige von seinen Ideen befinden sich in diesem kleinen Kasten.« Er wandte sich wieder an den Professor. »Was geschah dann?«

»Livanos ging wohl einige Jahre bei ihm in die Lehre, so genau kann ich das nicht sagen. Der Kontakt, den wir hatten, wurde allmählich spärlicher und riss schließlich ab. Wie ich hörte, verließ er Tesla irgendwann, um auf einer Werft in Marseille zu arbeiten. Doch hundertprozentig bestätigen kann ich das nicht. Was dann geschah, war mehr als tragisch. Binnen kurzer Zeit kamen sowohl sein Vater als auch sein Bruder bei der Arbeit in den Werften um. Beide starben, weil die Sicherheitsbedingungen so schlecht waren. Es wurde gespart, wo man nur konnte, und die Opfer dieser Entwicklung waren immer die Arbeiter.«

»War die Auftragslage so schlecht …?«

»Ach was. Die Auftragslage war ausgezeichnet. Es musste immer mehr gebaut werden, um die stetige Nachfrage nach schnellen Dampfschiffen befriedigen zu können. Nein …«, Papastratos schüttelte den Kopf. »Die Reeder waren zu gierig geworden. Die Herren in den obersten Etagen füllten sich hemmungslos die Taschen, während sie ihre Arbeiter schamlos ausnutzten. Gewerkschaften gab es damals noch nicht. Es war eine moderne Form der Sklaverei und die Opfer waren zahlreich. Wie dem auch sei …«, der Professor atmete tief durch, »… eines Tages stand Livanos wieder vor unserer Tür. Es war unglaublich, wie sehr er in den vier Jahren gereift war. Aus dem Jungen war ein Mann geworden. Ein Mann, der vor Tatkraft und Ideen nur so sprühte. Doch der Tod seines Vaters und seines Bruders hatte Spuren bei ihm hinterlassen. Schon damals glaubte ich eine gewisse Besessenheit bei ihm festzustellen. Ein Funkeln in den Augen, das darauf hindeutete, dass er von etwas getrieben wurde. Und ich hatte mich nicht geirrt. Livanos fand Geldgeber und begann sofort damit, eine gewaltige Anlage im Hafen von Piräus zu installieren.«

»Jetzt, wo Sie es sagen«, warf Humboldt ein, »ich glaube mich zu erinnern, darüber mal einen Artikel in der Zeitschrift Popular Science gelesen zu haben. Er baute irgendeine Werftanlage, habe ich recht?«

»Nicht irgendeine Werft«, korrigierte ihn der Professor. »Die Werft. Eine Anlage, an deren Plänen er schon während unserer Studienzeit gearbeitet hatte. Ein vollautomatisiertes Wunderwerk, das beinahe ohne menschliche Arbeitskraft auskommt. Im Ausstellungsraum existiert ein Modell davon. Wollen Sie es sehen?«

Ein paar Minuten später trafen sie in der großen Ausstellungshalle des Polytechnikums ein. Oskar hatte noch niemals so detaillierte Schiffsminiaturen gesehen. Die kleinen Wunderwerke waren maßstabsgerecht bis hinunter auf die einzelnen Nieten gebaut worden. Winden, Planken, Steuerräder, kein noch so kleines Detail fehlte. Sogar die Besatzung war zu sehen. Winzige Figuren, die beinahe lebendig wirkten.

»Hier drüben«, sagte Papastratos und winkte sie zu sich.

Er stand vor einer mannsgroßen Glasvitrine, in der ein riesiges, wenn auch unübersichtliches Modell ausgestellt war. Es zeigte eine badewannenähnliche Konstruktion, die ganz und gar aus Gerüstteilen gefertigt zu sein schien. An ihrem Kopfende befand sich so etwas wie eine Kommandostation, die die Anlage weithin sichtbar überragte. Hinter den breiten Glasfronten waren winzige Figuren zu sehen – augenscheinlich der Kommandant und sein Stab an Assistenten. Weiteres Personal gab es nicht. An den Längsseiten waren Dutzende von Kränen angebracht, die ein Schiff komplett aus dem Wasser heben konnten. Die Schmalseite gegenüber der Brücke war offen, sodass Schiffe jedweder Größe problemlos ins Innere der Werft fahren konnten. Es gab jedoch eine Sache, die Oskar nicht verstand. »Was sind denn das für riesige tonnenförmige Gebilde? Die sehen fast aus wie ein Schwimmring.«

»Damit liegst du gar nicht so falsch, mein junger Freund.« Papastratos lächelte. »Es sind Pontons. Sie ermöglichen dem Kommandanten, die Werft hinaus auf hohe See zu fahren. Statt die Schiffe zur Reparatur an Land zu hieven, kommt die Werft einfach zu ihnen. Somit können auch havarierte Schiffe mühelos instand gesetzt werden. Livanos gab seiner Erfindung den Namen Leviathan.«

»Faszinierend«, sagte Humboldt. »Eine vollautomatisierte Werkstatt für Schiffe. Wie wird sie gesteuert?«

»Keine Ahnung. Ich selbst habe die Steuerzentrale nie zu Gesicht bekommen. Es ging das Gerücht, er hätte dort eine Maschine installiert. Etwas, das zur Steuerung höherer Funktionen dient. Niemand durfte sie sehen. Livanos befürchtete wohl Werkspionage. Er war über die Jahre zu einem ausgesprochen misstrauischen, um nicht zu sagen, paranoiden Menschen geworden. Er witterte Feinde an jeder Ecke.«

»Was geschah dann?«

»Der Bau erfolgte unter strengster Geheimhaltung. Die Konstruktion benötigte drei Jahre Arbeitszeit und verschlang Millionen von Drachmen. Livanos arbeitete wie ein Besessener. Es gab keinen Tag, an dem er nicht auf der Baustelle zu finden war. Er schuftete rund um die Uhr. Achtzehn, neunzehn Stunden lang. Seinen Arbeitern verlangte er alles ab, auch wenn er ihnen wesentlich bessere Sicherheitsbedingungen als die anderen Schiffbauer bot. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde das Mammutprojekt scheitern, doch dann fand Livanos neue Geldgeber und konnte weiterbauen. Ende 1883, also vor knapp zehn Jahren, war es dann endlich so weit. Die Werft näherte sich ihrer Vollendung. Doch dann ging etwas schief. Die Werft war beinahe fertiggestellt und befand sich gerade draußen zu Probereparaturen an einem beschädigten Dampfschiff. Plötzlich hallte ein tiefes Rumpeln über das Meer. Es gab eine mächtige Explosion, wie Augenzeugen berichteten. Flammenbälle stiegen auf, die den havarierten Frachter Odysseus in der Mitte zerrissen und in Minutenschnelle sinken ließen. Sämtliche Besatzungsmitglieder fanden den Tod. Die Werft selbst trieb führerlos über das Meer. Man versuchte, sie zurückzuschleppen, doch ein aufkommender Sturm machte die Bemühungen zunichte. Sie wurde von den Halteleinen getrennt und hinaus in die dunkle Nacht getrieben. Als man am nächsten Morgen nach ihr suchte, fand man nur noch herumtreibende Wrackstücke. Die Werft selbst war in den Fluten versunken.«

 

»Also kein Seeungeheuer.«

»Natürlich nicht. So etwas wie Seeungeheuer gibt es nicht.«

»Und Livanos?«

»Vermutlich tot.« Der Professor senkte den Blick. »Vielleicht war das ganz gut so. Was danach kam, war eine regelrechte Hetzkampagne. Sein Name wurde in den Schmutz getreten. Man bezeichnete ihn als Wahnsinnigen, der sich keinen Deut um Menschenleben scherte, als besessenen Wissenschaftler, der von seiner eigenen Erfindung in den Tod gerissen worden war. Sein Name stand gleichbedeutend für Größenwahn und Vermessenheit. Seine Geldgeber waren ruiniert und die Erfindung geriet in Vergessenheit. Dieses Modell hier ist alles, was von dem kühnen Projekt übrig geblieben ist.«

10

Der Norweger stand hinter der großen Eingangssäule. Geduldig wie eine Spinne verharrte er in seinem Versteck. Den Hut tief in die Stirn gezogen, die Arme vor der Brust verschränkt, wartete er ab. Sein schmales Gesicht lag im Schatten. Die Hitze machte ihm nichts aus. Er lebte lange genug in Griechenland, um keinen Gedanken mehr an Wetter und Temperaturen zu verschwenden. Egal, ob Winter oder Sommer, stets trug er die gleiche Kleidung. Weiche Stiefel, lederne Hosen und natürlich seinen langen grauen Mantel, der sein Arsenal von Fern- und Nahkampfwaffen verbarg. Seine Spezialität waren Giftwaffen. Nicht nur in Form kleiner Kapseln und Tränke, die sich geschmacksneutral in Weingläsern und Nahrungsmitteln auflösen ließen, sondern auch Pfeile, die so winzig waren, dass sie jedes Material durchdringen konnten. Abgefeuert aus einem Blasrohr oder mit seinem schallgedämpften Präzisionsgewehr, spürten seine Opfer kaum mehr als bei einem Insektenstich. Ein sanftes Streicheln mit der Hand, und die Pfeile fielen wie von alleine aus der Stichwunde. Das Gift, das in winzigen Kapseln im Inneren schlummerte, hatten sie zu diesem Zeitpunkt längst abgegeben. Es handelte sich um ein Nervengift, das aus einer im Indopazifik beheimateten Krakenart gewonnen wurde. Nach mehreren Minuten führte das Gift zu einer Lähmung, die schließlich in Herzversagen mündete. Die Opfer erlitten weder Schmerzen noch einen stundenlangen qualvollen Tod. Im Körper war das Gift nicht nachzuweisen. Für den obduzierenden Arzt sah es so aus, als habe das Herz einfach aufgehört zu schlagen. Die perfekte Waffe, wenn man keine Spuren hinterlassen wollte. Doch der Norweger verstand sich auch auf andere Tötungstechniken. In seiner Heimat war er auf Morde mit Eisdolchen spezialisiert gewesen, später dann, in Bulgarien, hatte er seine Waffen mit Steinsalz geladen, deren Kristalle sich im Blut der Opfer auflösten.

Die polizeiliche Ermittlungsarbeit war in den letzten Jahren so weit fortgeschritten, dass in neunzig Prozent aller Fälle die Analyse der Waffe zu einer Festnahme des Mörders führte. Doch was, wenn es keine Waffe gab? Seine Tötungswerkzeuge verschwanden entweder oder sie waren nicht nachzuweisen. Keiner seiner bisherigen Aufträge hatte den Behörden einen Anhaltspunkt geliefert, der den Verdacht auf ihn lenkte. Und so sollte es auch bleiben.

Sein Druckluftgewehr unter dem Mantel verbergend, stand er hinter der Säule und wartete.

Die Uhr des nahe gelegenen Kirchturms schlug fünf. Der Besuch der seltsamen Reisegruppe dauerte jetzt schon über vier Stunden. Was hatten die da drinnen so lange zu bereden? Er war zwar gewohnt, stundenlang in einem Versteck auszuharren, aber so langsam riss ihm der Geduldsfaden. Sein Instinkt sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte.

Auf einmal drang Hufgetrappel an sein Ohr. Ein Reiter kam auf das Universitätsgelände galoppiert und näherte sich seiner Position. Den Geräuschen nach zu urteilen, hatte er es eilig. Der Norweger blickte hinter der Säule hervor. Er kannte den Reiter. Einer seiner eigenen Männer. Er hatte ihn für die Observierung des Hotels abgestellt. Was in drei Teufels Namen hatte er hier zu suchen?

Mit einem scharfen Pfiff lenkte er die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich. Als er bei ihm war, zog der Reiter die Zügel und sprang aus dem Sattel.

»Was machst du hier?«, fuhr ihn der Norweger an. »Dein Platz ist vor dem Hotel.«

»Da war ich auch«, keuchte der Mann. »Die Herrschaften sind eben dort eingetroffen und gleich wieder abgefahren. Haben Sie denn nicht gesehen, wie sie herausgekommen sind?«

Dem Norweger blieb vor Verblüffung der Mund offen stehen. »Was redest du da? Ich war die ganze Zeit hier. Ich habe den Eingang nicht für eine Minute aus den Augen gelassen.«

»Dann hat man Sie ausgetrickst«, stieß der Mann atemlos hervor. »Ich habe selbst gesehen, wie sie das Hotel betreten und eine Kutsche gemietet haben. Dann sind sie in Richtung Westen aufgebrochen. Sie schienen es eilig zu haben.«

»Das Gepäck?«

»Haben sie mitgenommen.«

Der Norweger fluchte. »Wie lange ist das her?«

»Etwa eine halbe Stunde. Ich bin ihnen noch ein Stück nachgeritten. Sie haben die Straße Richtung Korinth eingeschlagen.«

»Korinth sagst du? Von dort gehen die Fähren Richtung Italien.« Hektisch blickte er zur Uhr hinauf. Viertel nach fünf. Er überschlug die Strecke in seinem Kopf. Weit würden sie heute nicht mehr kommen. Die Hafenstadt war etwa siebzig Kilometer entfernt. Zu weit, um sie heute noch zu erreichen. Vermutlich würden sie in einem der Orte an der Küste einkehren. Vielleicht in Elefsina oder in Megara. Wenn er sich beeilte, konnte er sie abfangen, ehe es dunkel wurde. Wenn er wusste, wo sie abstiegen, konnte er ihnen nachts auflauern, heimlich in ihre Zimmer steigen und dort seinen Auftrag erledigen.

Noch war nichts verloren. Er schnappte sich das Pferd und galoppierte los.

Er war kurz hinter Chaidari, als er die Kutsche einholte. Das Licht des späten Nachmittags ließ die Olivenbäume in sattem Grün schimmern. Zikaden erfüllten die Luft mit durchdringendem Zirpen. Mauersegler flogen auf der Jagd nach Insekten mit halsbrecherischem Tempo zwischen den Bäumen hindurch.

Der Norweger drosselte sein Tempo und blieb auf Abstand. Ihm klebte die Kleidung am Körper. Der Geruch nach Schweiß stieg ihm in die Nase. Die lange Strecke im scharfen Galopp hatte ihn einige Anstrengung gekostet.

Er hörte, wie sich die vier Reisenden angeregt über die schöne Landschaft unterhielten und fröhlich mit dem Fahrer scherzten.

Sollten sie. Je weniger Verdacht sie schöpften, desto besser.

Wenige Minuten später verließ die Kutsche die Hauptstraße und bog auf einen Feldweg ab. Eine Strecke, die hinauf in die Hügel führte.

Stirnrunzelnd zügelte der Norweger seinen Schecken. Er kannte die Gegend. Hier gab es nichts, keine Herberge, keinen Gasthof und kein Hotel. Was wollten sie also in den Hügeln?

Er wartete, bis die Kutsche zwischen einer Ansammlung niedriger Eichen verschwunden war, dann trabte er langsam hinterher. Vielleicht waren die vier ja mit dem Zelt unterwegs. Man hörte in letzter Zeit öfter davon. Eine Modeerscheinung, die aus den Vereinigten Staaten von Amerika zu ihnen herübergeschwappt war und campen genannt wurde. Wenn die vier wirklich unter freiem Himmel übernachteten, würde es noch viel einfacher werden, sie aus dem Weg zu räumen.

Immer tiefer folgte er seinen Opfern in den Wald. Er war ganz in Gedanken versunken, als er plötzlich ein Geräusch hörte. Die Kutsche kam wieder zurück.

Für einen Moment war er versucht, ins Unterholz zu flüchten, doch dafür reichte die Zeit nicht aus. Soeben kam das Gespann in Sicht. Nur der Kutscher war noch an Bord, von den vier Reisenden fehlte jede Spur.

Vorsichtig umrundete der Fahrer die knietiefen Schlaglöcher und wich den Wurzeln aus, die sich wie fette Schlangen über den Weg zogen. Als er den Norweger sah, hob er verdutzt die Brauen. Er grüßte knapp, dann fuhr er weiter. Der Norweger überlegte, ob er den Mann töten sollte, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Welche Bedrohung stellte er schon dar?

Er ritt weiter, bis der Weg in einem schmalen Trampelpfad endete, der mit Steinbrocken übersät war. Die Sonne verschwand gerade hinter den Hügeln und durch die Blätter leuchtete rot der Abendhimmel. Unter den Bäumen war das Licht so schwach geworden, dass es fahrlässig gewesen wäre weiterzureiten. Er stieg ab, band sein Pferd an einer Korkeiche fest und folgte dem schmalen Ziegenpfad, der hinauf in die Hügel führte. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er sein Druckluftgewehr heraus. Er steckte vier Pfeile ins Magazin und lud durch. Was taten diese Menschen hier draußen? Sie hatten doch mit Sicherheit genug Geld, um sich eine Übernachtung in einem Hotel zu leisten. Und wenn sie schon kampierten, warum taten sie das in so einer entlegenen Gegend?

Der Weg machte eine Kurve und führte hinab in ein schattiges Tal. Der klagende Ruf eines Ziegenmelkers hallte von den Hängen wider. Das schrille Zirpen der Zikaden war in ein sanfteres Surren übergegangen, das er als beruhigend empfand. Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr. Die vier Reisenden mussten sich etwa hundert oder zweihundert Meter vor ihm befinden.

Der Norweger ließ seinen Blick durchs Unterholz schweifen. Das Licht wurde von Minute zu Minute schwächer. Nicht mehr lange, dann würde es hier stockdunkel sein. Zu allem Überfluss war gerade Neumond. Wenn die letzten Reste der Abenddämmerung verschwunden waren, würde er die Hand vor Augen nicht erkennen. Langsam und lautlos setzte er seinen Weg fort.

Auf einmal flammte ein Licht in der Dunkelheit auf. Irgendwo vor ihm, dort, wo das Tal am schmalsten war.

Er kauerte sich hin und wartete. Ein zweites Licht wurde entzündet, dann ein drittes. Die Lichter sahen kalt aus und flackerten nicht. Neugierig rutschte er näher. Die Maccia versperrte ihm die Sicht. Soweit er es aus dieser Entfernung beurteilen konnte, ragte hinter dem Gestrüpp ein gewaltiger Felsen in den Himmel. Groß und rund zeichnete er sich gegen die Dämmerung ab. Die ersten Sterne leuchteten am Himmelszelt. Lichtschimmer huschten über die graue Oberfläche des Felsens.

Plötzlich setzte ein seltsames Brummen ein, das mit jeder Sekunde stärker wurde. Es klang wie das Surren eines Motors. Das Geräusch wurde vom Tal zurückgeworfen und verstärkt. War das ein Generator? Der Norweger hatte schon gehört, dass es Geräte gab, die aus Gas oder Petroleum Strom herstellen konnten, er hatte nur noch nie eines gesehen.

Gerade, als er zu dem Entschluss gekommen war, dass er näher heranmusste, ging eine Bewegung durch den mächtigen Felsen. Erst ein feines Vibrieren, dann ein starkes Schütteln.

Majestätisch erhob sich eine riesige Zigarre aus dem Tal und stieg in den sternenübersäten Abendhimmel. Instinktiv klammerte sich der Norweger an einem nahe gelegenen Ast fest. Das Gewehr drohte seinen Fingern zu entgleiten.

Das war kein Felsen. Es war ein Ballon.

In der Gondel, an der zwei Motoren befestigt waren, konnte der Norweger die vier Insassen erkennen. Die Motoren surrten immer lauter, während der Ballon in einer eleganten Wende Richtung Westen abschwenkte. Ein letzter Hauch von Rosa strich über seine Flanken, dann drehte er in den Wind und verschwand hinter der nächsten Hügelkette.