Der Palast des Poseidon

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11

Wehmütig blickte Oskar in die Dämmerung. Das Luftschiff hatte Fahrt aufgenommen und steuerte gemächlich in die Nacht. Das war es also gewesen mit Athen. Keine Schätze, kein Minotaurus, nicht mal ein Besuch der sagenumwobenen Akropolis. Zwei Tage und eine einzige Nacht hatten sie hier verbracht. Und herausbekommen hatten sie außer vagen Andeutungen und Spuren auch nicht viel.

Immerhin schien jeder die Geschichte mit dem Seeungeheuer zu bezweifeln. Das beruhigte ihn etwas. Nicht, dass Oskar jemals ernsthaft daran geglaubt hätte, aber nach den Rieseninsekten in den Anden hatte er weiß Gott kein Interesse an einer weiteren Ungezieferjagd. Die Frage war nur: Wie sollten sie jetzt weitermachen?

Er beugte sich über die Reling und blickte nach unten. Auf dem ölschwarzen Meer funkelte das Mondlicht. Weit hinter ihnen schimmerten die Lichter von Korinth wie eine verblassende Erinnerung. Leise surrend drehten sich die Propeller. Ein sanfter Fahrwind strich über sein Gesicht, während die Pachacútec langsam auf Nordkurs ging.

Das Luftschiff war eine schlanke Konstruktion von etwa fünfundzwanzig Metern. Unter einem zigarrenförmigen Auftriebskörper hing eine hölzerne Personengondel, an der links und rechts, an zwei Auslegern, leise schnurrende Elektromotoren befestigt waren. Geschwungene, mit Tierhäuten bespannte und mit farbigen Markierungen verzierte Ruderblätter vervollständigten das Bild dieses schnittigen Wolkengleiters. Das Fantastische an der Pachacútec war, dass sie absolut geräuschlos fliegen konnte, vorausgesetzt, der Wind blies nicht mit Orkanstärke und die Motoren funktionierten einwandfrei. Und genau da schien es gerade ein Problem zu geben.

»Oskar, komm mal bitte zu mir rüber. Ich brauche deine Hilfe.«

Humboldt schraubte an den Leitungen herum, die von den runden Wasserstofftanks auf dem Achterdeck zu den Motoren am Ende der hölzernen Ausleger verliefen. Er deutete auf die Petroleumlampe, die einen tranigen Lichtstrahl in die Gegend schickte. »Halt mal die Lampe. Am besten du drehst sie so, dass der Spiegel das Licht auf das Kabel hier wirft.«

»Was ist mit dem Kabel?«

»Der Kontakt scheint von der Säure korrodiert zu sein. Ich muss das Kupfer reinigen, damit der Motor wieder genügend Strom bekommt.« Humboldt nahm einen Schraubenschlüssel und löste die Schelle, mit der die Isolierung befestigt war. Als er die Isolierung gelöst hatte, sah Oskar die grüne Oxidationsschicht im Licht der Laterne schimmern. Humboldt gab ein Zeichen und die beiden Frauen zogen an den Schubhebeln. Die Motoren wurden leiser. Die Propeller rotierten langsamer und blieben mit einem stotternden Geräusch stehen.

Schlagartig wurde es ruhig auf dem Luftschiff. Das Zischen der Ventile verebbte und der Boden unter ihren Füßen vibrierte nicht mehr. Oskar konnte hören, wie der Wind in der Takelage summte. Tief unter ihnen rauschte das Meer.

Er richtete seinen Blick wieder auf das Kabel. Humboldt zog den Anschluss mit aller Kraft vom Sockel und fing an, ihn mithilfe einer übelriechenden Paste von dem grünlichen Schmutz zu befreien. Als das Kupfer wieder glänzte, steckte er das Kabel auf den Sockel, zog die Isolierung darüber und drehte die Halteklemme fest.

»Dann wollen wir es mal versuchen. Kontakt!«

Charlotte und Eliza schoben die Hebel wieder nach vorne und schalteten auf Vollgas. In den Tanks zischte und gluckerte es, dann gab es einen Knall. Die Propeller begannen immer schneller zu rotieren. Humboldt zog seine Handschuhe aus und lauschte zufrieden dem Schnurren der Motoren. Die Pachacútec gewann an Fahrt. Der Forscher eilte nach oben auf die Brücke, warf einen kurzen Blick auf die Messinstrumente und nickte dann.

»Gut gemacht. Die Aggregate funktionieren einwandfrei. Wir haben wieder volle Leistung. Oskar, pack das Werkzeug zusammen und komm zu uns nach oben! Es gibt etwas zu besprechen.«

Oskar beeilte sich, die Schraubenschlüssel, Klemmen und Zangen in das Lederfutteral einzuschlagen, wickelte alles zusammen und zog den Riemen fest. Dann legte er die Tasche zurück an ihren Platz und eilte die Stufen zur Brücke empor.

»Ich weiß, dass ihr alle ein wenig enttäuscht seid, dass unser Ausflug nach Athen nur von kurzer Dauer war«, sagte der Forscher, »aber ich hatte meine Gründe. Einer davon war, dass wir verfolgt wurden.«

»Was?« Oskar glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Normalerweise hatte er einen sechsten Sinn für Verfolger. Das hatte ihm in seiner Vergangenheit als Taschendieb schon oft die Haut gerettet. Doch diesmal war ihm nichts aufgefallen. »Wer hat uns verfolgt? Und warum?«

»Auf beide Fragen weiß ich keine Antwort. Ich wollte euch nicht beunruhigen, darum habe ich nur mit Eliza darüber gesprochen.«

Die Haushälterin sah die beiden Jugendlichen mit ihren haselnussbraunen Augen an. »Der Mann war gefährlich, so viel ist sicher. Irgendetwas Dunkles umgab ihn wie eine Gewitterwolke. Er besaß eine Aura, die ich nicht durchdringen konnte. Doch was immer ihn antrieb, es war etwas Böses.«

»Am Abend unserer Ankunft war noch alles in Ordnung«, fuhr Humboldt fort, »doch schon am nächsten Tag bemerkte ich einen Mann, der uns von der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtete. Als wir die Kutsche in Richtung Polytechnikum nahmen, folgte er uns. Für eine Weile verlor ich ihn aus dem Blick, doch dann entdeckte ich ihn wieder. Er stand seitlich des Haupteingangs im Schatten einer Säule. Nicht eine Sekunde lang ließ er den Platz vor dem Polytechnikum aus den Augen. Doch sosehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht, ihn näher unter die Lupe zu nehmen. Seine Position und die Art, wie er sich bewegte, deuteten darauf hin, dass er ein Profi ist. Daher die Sache mit dem übereilten Aufbruch. Es tut mir leid.«

»Aber wir haben ihn doch abgehängt, oder?«, fragte Oskar. »Fliegen kann er ja schließlich nicht.«

»Vermutlich. Trotzdem sollten wir wachsam sein. Mein Gefühl sagt mir, dass wir diesen Mann nicht zum letzten Mal gesehen haben.«

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Charlotte. »Ich finde nicht, dass wir sehr viel weitergekommen sind.«

»Ganz so düster würde ich es nicht sehen«, sagte der Forscher. »Wir haben eine Spur. Sie mag zwar klein sein, aber besser als gar nichts.«

»Was meinst du, Onkel?«

»Wir haben zwei Namen.« Humboldt reckte zwei Finger in die Luft. »Die Namen Tesla und Livanos. Was den zweiten betrifft, so habe ich keine Ahnung, ob er für unseren Auftrag irgendwie von Bedeutung ist, aber was den ersten betrifft, so weiß ich ziemlich genau, wo wir suchen müssen. Auf die Pachacútec müssen wir allerdings verzichten. Ein Luftschiff ist viel zu auffällig. Wir werden zurückfliegen und von Berlin aus den Zug nehmen. Je unauffälliger wir reisen, desto besser.«

»Was ist denn nun unser Ziel?« Oskar hasste das Gefühl, als Einziger nicht zu wissen, worüber gesprochen wurde.

»Frankreich«, erwiderte Humboldt. »Genauer gesagt Paris. Die größte Metropole des europäischen Kontinents.«

12

Dr. Christos Papastratos klappte den Ordner mit den Vorlesungsunterlagen für den morgigen Tag zu und streckte sich. Es war bereits kurz nach neun Uhr abends. Draußen war es bereits stockdunkel. Der Besuch des deutschen Forschers und seiner Begleiter hatte seinen Tagesablauf komplett auf den Kopf gestellt. Normalerweise war er spätestens um sieben mit seiner Arbeit fertig und ging dann ins Aeneas, einer kleinen Taverne um die Ecke, um dort einen Meeresfrüchteteller und einen halben Liter Retsina zu genießen. Dort fanden sich immer ein paar Leute aus der Fakultät, mit denen man plaudern und einen angenehmen Abend verbringen konnte. So konnte es bisweilen recht spät werden. Doch daheim wartete ja niemand auf ihn. Seit seine Frau vor zwei Jahren gestorben war, spürte er kein Verlangen, mehr Zeit als nötig zu Hause zu verbringen.

Die Lampen seines Arbeitszimmers flackerten unbeständig im Wind, der durch die geöffneten Fenster hereindrang.

Er blickte hinaus. Erstaunlich, wie frisch es wurde, wenn die Sonne untergegangen war.

Er stand auf, schloss die Fensterläden und zog die Vorhänge zu. Das Gespräch mit dem Forscher hatte alte Erinnerungen geweckt. Erinnerungen an die Zeit, in der Livanos noch an dieser Universität studiert hatte. Wie jung sie beide damals noch gewesen waren! Jung und voller Ehrgeiz. Heute war Livanos tot und er selbst fühlte sich wie ein alter Mann.

Er holte seine Jacke aus dem Schrank und wollte gerade das Licht löschen, als von nebenan ein Geräusch erklang. Verblüfft hob er die Brauen. »Gregorios, bist du das?«

Keine Antwort. Wäre auch ungewöhnlich gewesen. Sein Assistent ging immer sehr pünktlich nach Hause. Blieb nur Atanasios. Der alte Nachtwächter hatte die Angewohnheit, regelmäßig Patrouillengänge zu machen. Nicht, dass er dabei wirklich nach Einbrechern forschte – er war ohnehin ziemlich schwerhörig – er vertrat sich nur einfach gerne die Beine.

Papastratos nahm seine Tasche, drehte die Petroleumlampen herunter und öffnete die Tür.

Der Mann, der draußen stand, war groß und hager und sah irgendwie bedrohlich aus. Unter dem tiefgezogenen Hut waren seine Augen nicht zu erkennen.

»Wer sind Sie?«, entfuhr es dem Dekan. »Sie dürfen sich hier gar nicht aufhalten, die Hochschule hat seit mehreren Stunden geschlossen.«

Ein Geräusch wie das Korkenknallen einer Sektflasche war zu hören. Der Dekan spürte ein kurzes Stechen im Oberarm.

»Oh, keine Sorge«, sagte der Mann. »Ich bleibe nicht lange.«

Papastratos plusterte sich auf. Er hasste neunmalkluge Bemerkungen. »Was wollen Sie hier? Wer hat Sie hereingelassen?«

Der Fremde antwortete nicht. Stattdessen klang es, als ob er hustete. Papastratos tastete nach dem Derringer in seiner Jacke. Er trug die kleine Handfeuerwaffe stets bei sich. Nicht, dass er ein ängstlicher Mensch war, aber es gab in Athen genügend Ecken, in die man sich nicht unbewaffnet vorwagen sollte. Die Waffe war klein und lag angenehm in seiner Hand. Er richtete den Lauf auf den Fremden. Schon erstaunlich, wie viel Selbstvertrauen einem ein Stück Metall vermitteln konnte.

 

»Raus hier!«, befahl der Dekan und legte dabei so viel Autorität in die Stimme, wie es ihm unter den gegebenen Umständen möglich war. »Ich werde Sie begleiten. Auf dem Weg zu unserem Sicherheitsdienst können Sie mir ja dann erklären, was Sie hier wollen.«

»Oh, das kann ich Ihnen jetzt schon verraten.« Der Fremde trat aus dem Schatten und hob seinen Kopf. Seine Augen hatten die Farbe eines klaren Bergsees. »Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.« Er trat auf den Dekan zu. Seine Nase war gebogen wie der Schnabel eines Falken. Über seine linke Hand zog sich eine lange blässliche Narbe.

Der Professor holte tief Luft. Die Waffe zwischen seinen Fingern fühlte sich plötzlich glitschig an.

»Und worüber wollen Sie mit mir reden?«

»Über einen gewissen Herrn Humboldt«, lautete die Antwort. »Was wollte er, was haben Sie ihm geantwortet und vor allem: Wohin ist er aufgebrochen?«

»Humboldt? Wer soll das sein?«

»Beleidigen Sie nicht meine Intelligenz!«, sagte der Fremde. »Der Forscher, mit dem Sie heute gesprochen haben. Man erzählte mir, dass Sie eine ziemlich lange Unterredung hatten. Also raus mit der Sprache. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.«

Jetzt reichte es Papastratos. Bedroht zu werden, in seinen eigenen vier Wänden, das war etwas, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Er wollte seine Waffe spannen, doch aus unerfindlichen Gründen gelang es ihm nicht. Es fühlte sich an, als wären seine Finger nicht länger Teil seiner Hand. Er versuchte es noch einmal, scheiterte jedoch erneut.

»Probleme?« Ein schmales Lächeln erschien auf dem Gesicht des Fremden.

Der Professor biss die Zähne zusammen. Noch einmal versuchte er, den Hahn nach hinten zu ziehen, doch er konnte seine Hände nicht mehr bewegen.

»Was … ist … nur … los … mit … mir?« Nur mit Mühe kamen die Worte über seine Lippen. Sein Mund schien auf einmal taub zu sein.

Der Fremde zog eine seltsame Pistole aus der Jackentasche und hielt sie ins Licht. Eine gläserne Kartusche befand sich darin, in der eine ölig gelbe Flüssigkeit schwamm.

»Ein Nervengift«, sagte er. »Ein sehr schnell wirkendes Toxin, das vor allem die Gliedmaßen lähmt. Sie werden zwar noch sprechen, sich aber nicht mehr bewegen können. Ihr Versuch, die Pistole zu spannen, ist also völlig sinnlos.« Er griff nach dem Derringer und entwand sie den tauben Fingern.

Der Blick des Professors wanderte mit schneckengleicher Langsamkeit zu seinem Oberarm. Erst jetzt sah er, dass er von irgendetwas getroffen worden war. Es war so winzig, dass er es zuerst für einen Wollfusel hielt, bis er die kleinen Federkiele am Ende bemerkte. Ein Pfeil! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Er versuchte, einen Schritt zu tun, doch seine Füße waren wie mit dem Erdboden verwachsen.

»Was … haben … Sie … mir … da … verabreicht?«

Der Norweger lachte. »Wenn Sie könnten, würden Sie lachen. Es fällt genau in Ihren Zuständigkeitsbereich.« Er hielt die Waffe näher an Papastratos’ Augen. »Was dort so gelblich leuchtet, ist das Gift eines kleinen, sehr hübsch anzuschauenden Kraken, des sogenannten Blauringkraken oder auch Hapalochlaena maculosa, um den lateinischen Namen zu bemühen. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht. Es enthält einen Stoff, der wie ein Wahrheitsserum wirkt. In etwa fünf Minuten werden Sie mir alles sagen, was ich wissen möchte. Allerdings sollten Sie sich mit den Antworten nicht allzu viel Zeit lassen, denn spätestens in fünfundvierzig Minuten wird Ihr Herz aufhören zu schlagen.«

»Wer … sind … Sie?«

Der Fremde zog eine Taschenuhr aus seiner Jacke, hielt das Gehäuse an sein Ohr und steckte die Uhr mit einem zufriedenen Lächeln wieder weg. »Mein Name tut nichts zur Sache«, sagte er. »Meine Auftraggeber nennen mich einfach nur den Norweger. Im englischsprachigen Raum würde man jemanden wie mich als Cleaner bezeichnen. Jemand, der für die Schmutzarbeit zuständig ist. Observation, Ermittlung, Befragung, Beseitigung, das sind meine Fachgebiete. Mein Auftraggeber ist sehr daran interessiert zu erfahren, was dieser Humboldt von Ihnen wollte, worüber Sie sich mit ihm unterhalten haben, wohin er aufgebrochen ist, und vor allem, was für ein Mensch er ist.« Er lächelte. »Wissen Sie, ich gebe es nur ungern zu, aber in diesem Fall entwickele ich tatsächlich so etwas wie eine persönliche Beziehung zu meinem Opfer. Dieser Humboldt hat es geschafft, vor meiner Nase zu entkommen. Mit einem Luftschiff! Hat man so was schon gehört? Ich kenne mich recht gut aus in der Welt, aber das übertrifft doch alles. Es scheint also, als ob dieser Humboldt über ungewöhnliche Mittel verfügt, Mittel, die meine Arbeit erschweren. Und das macht mich wütend.« Er lehnte sich zurück und atmete tief durch.

»Zum Glück liebe ich Herausforderungen«, fuhr er nach einer Weile fort. »Je schwerer, desto besser. Ich muss herausfinden, wohin er entschwunden ist, und Sie waren der Letzte, der mit ihm geredet hat.«

Noch einmal blickte er auf seine Taschenuhr, dann nickte er zufrieden. »Ich denke, jetzt dürfte es so weit sein. Wenn das Mittel bei Ihnen angeschlagen hat, sollten Sie nicht mehr in der Lage sein, mir irgendwelche Informationen vorzuenthalten. Fangen wir mit einer ganz einfachen Auskunft an: Sagen Sie mir, wohin Humboldt fliegt. Was ist das nächste Ziel seiner Reise?«

Die Lippen des Professors zitterten. Er wollte schweigen, doch das Wahrheitsserum in seinen Venen zwang ihn, den Mund zu öffnen. Er keuchte, er schwitzte. Er ballte die Hände in dem verzweifelten Versuch, dem Gift zu widerstehen, doch es war sinnlos. Es schien, als könne etwas in seinem Inneren gar nicht erwarten, alle Geheimnisse auszuplaudern.

»Paris«, keuchte Papastratos. »Sie wollen nach Paris.«

13

Paris, 22. Juni 1893 …

Das Wetter war so schön, wie man es sich für einen Sonntagnachmittag nur wünschen konnte. Die Menschen strömten in Scharen auf die Boulevards, saßen in Cafés, aßen Eis oder flanierten in ihren schönsten Kleidern im Schatten der prächtigen Bäume. Kutschen fuhren mit offenem Verdeck die Straßen entlang. Hufgeklapper erfüllte die Häuserschluchten und über der Stadt lag der Geruch von Pferdedung.

Allerorts sah man Künstler, die an ihren Staffeleien standen und ihre Leinwände mit Farbflächen füllten.

Oskar blieb stehen und betrachtete eines der Gemälde. Diese neumodischen Bilder waren einfach nur bunt. Bunte Lichter, bunte Schatten, bunte Häuser, bunte Bäume, bunte Wolken. Eine wilde Kleckserei ohne Sinn und Verstand. Erst wenn man ein wenig zurücktrat und die Augen halb schloss, zogen sich die Farben zusammen und man konnte erkennen, was dargestellt wurde. Die Motive waren allesamt höchst banal: Häuser, Straßen, Blumen, Bäume. Charlotte versuchte ihm zu erklären, dass es nicht um das Motiv selbst ging, sondern um die Darstellung des Lichts zwischen den Dingen, aber er hörte nicht zu. Vielmehr interessierten ihn die Ölfarben, die neuerdings in Tuben verkauft wurden, sodass man sie überallhin mitnehmen konnte. Der Geruch von Farbe, Leinöl und Terpentin lag wie ein Teppich über der Stadt. Wenn nur die Bilder besser wären …

»Was für eine Fleißarbeit«, murmelte er, während er dabei zusah, wie ein Maler Farbtupfer neben Farbtupfer setzte. Das Bild bestand aus lauter Punkten.

Charlotte knuffte ihn in die Seite. »Du bist vielleicht ein Banause!«, schimpfte sie. »Diese Form der Malerei nennt man Pointillismus und sie ist gerade der letzte Schrei. Schau dir an, wie sich die Farben zusammenziehen, wenn du einen Schritt zurücktrittst. Das Licht scheint richtig zu flirren.«

»Der Maler sollte lieber anfangen, die Dinge so zu malen, wie sie sind, anstatt sich etwas auszudenken«, sagte Oskar. »Die Realität besteht doch nicht aus Punkten.«

»Das ist auch nicht die Realität, das ist ein Gemälde, du Holzkopf. Du fragst doch auch nicht, ob deine Abenteuergeschichten immer wahr sind.«

»Aber die sind wenigstens spannend. Das hier, das ist … ach, ich weiß auch nicht. Abgesehen davon mag ich es nicht besonders, wenn du mich andauernd beleidigst.« Er ging weiter.

Charlotte blieb einen Moment stehen, dann gab sie sich einen Ruck und eilte hinter ihm her. »Entschuldige. Das mit dem Holzkopf war nicht so gemeint. Es hat nur einfach keinen Sinn, mit dir über moderne Malerei zu reden. Du bist zu sehr in deinen alten Vorstellungen verhaftet.« Sie streichelte über Wilmas Köpfchen, die in einer Umhängetasche an ihrer Schulter ein kleines Nickerchen hielt. »Du musst als Künstler bereit sein, Neues zu erfahren und über den eigenen Tellerrand zu schauen. Genau wie als Wissenschaftler übrigens.«

»Apropos Teller …« Oskar spürte, wie ihm der Magen knurrte. »Ich hätte nichts gegen einen kleinen Happen einzuwenden. Ich habe das Gefühl, wir haben seit Ewigkeiten nichts gegessen und hier riecht es überall so verlockend.«

»Und was ist mit dem Eclair vor einer Stunde?« Charlotte grinste. »Wenn du weiter so viel futterst, wirst du so dick wie unser Luftschiff.«

»Dann könntest du eine Schnur an meine Füße binden und mich steigen lassen«, sagte Oskar. »Wäre sicher ein netter Anblick.«

»Wir können rüber ins Bistro Madeleine gehen«, schlug Eliza vor. »Humboldt will uns dort in einer Stunde abholen. Ehrlich gesagt habe ich auch Hunger. Allein von Kultur und frischer Luft kann man nicht leben.« Sie zwinkerte Oskar zu.

Wenig später saßen sie unter einem Sonnenschirm am Place Clemenceau. Sie genossen das lebhafte Treiben auf der Champs-Élysées und ließen sich dabei ihre mit Tomaten, Schinken und Käse belegten Baguettes schmecken. Während Eliza mit der Bedienung sprach, streckte Oskar die Füße aus. So viel wie in den letzten drei Tagen war er noch nie gelaufen. Kein Wunder. Paris war wie eine prall gefüllte Wundertüte. Was es hier an Museen, Kirchen, Parks und Palästen gab, übertraf das Angebot in Berlin bei Weitem. Es gab Ausstellungen zu jedem erdenklichen Thema. Technik, Wissenschaft, Astronomie, Kriegskunde, aber natürlich auch Archäologie, Bildhauerei und Malerei. Allein im Louvre konnte man sich tagelang aufhalten. Besonders die Statuen, Obelisken und Sarkophage aus dem alten Ägypten hatten es Oskar angetan. Während Charlotte und Eliza sich für den Goldschmuck aus dem Tal der Könige begeisterten, zog es Oskar zu den Mumien, auf deren eingefallenen Gesichtern noch immer der Glanz der alten Pharaonen lag. Prächtige Gemälde beschworen die Zeit von Tausendundeiner Nacht herauf und ließen einen über die Basare des Orients streifen.

Humboldt hatte sich während der vergangenen Woche kaum blicken lassen. Jeden Tag traf er sich mit irgendwelchen Forscherkollegen und versuchte, mehr über Tesla in Erfahrung zu bringen. Abends, wenn er auf ein kurzes Essen vorbeikam, war er meist mürrisch und gereizt, und morgens, wenn sie sich zum Frühstück trafen, war er schon wieder weg. Oskar hätte gerne gewusst, wie der Stand der Dinge war, doch wenn er daran dachte, was es hier in Paris noch alles zu entdecken gab, vergaß er seine Sorgen schnell wieder. Er hätte dieses Leben problemlos noch ein oder zwei Wochen weiterführen können. Savoir-vivre nannten die Franzosen diesen Zustand. Die Kunst, das Leben zu genießen. Davon konnte man sich in Deutschland ruhig mal eine Scheibe abschneiden.

Er fütterte Wilma mit einem Keks und wollte Eliza gerade um ein weiteres Zitronensorbet anbetteln, als ein Zweispänner heranraste und direkt vor dem Bistro zum Stehen kam. Die Pferde schäumten und keuchten, als wären sie um ihr Leben gerannt. Ihre Flanken glänzten vor Schweiß.

»Hoch mit euch«, erklang eine vertraute Stimme. »Packt alles zusammen und dann nichts wie los!« Humboldt sprang aus dem Fond des Wagens und eilte auf sie zu. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck höchster Erregung. Sein langer schwarzer Mantel flatterte im Wind. »Ich habe ihn endlich gefunden. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was das für eine Mühe war! Und was das Beste ist: Er hat zugesagt, uns zu empfangen. Kommt, beeilt euch!« Er winkte die Bedienung heran und bezahlte die Rechnung.

»Wo ist er? Wie hast du ihn gefunden?«

»Das war gar nicht so leicht. Er ist seit etwa zwei Wochen in der Stadt, aber er liebt es, inkognito zu reisen. Kaum jemand weiß, dass er hier ist.«

 

»Wo lebt er denn sonst?«

»Tesla ist vor einigen Jahren in die Vereinigten Staaten umgesiedelt, aber ein besonderes Wetterexperiment hat ihn veranlasst, in seine alte Heimatstadt zurückzukehren. Beeilt euch!«

Als alle eingestiegen waren, gab Humboldt dem Fahrer ein Zeichen. Der Zweispänner schoss nach vorne. Oskar, der immer noch stand, landete halb auf Charlottes Schoß.

»He, nicht so stürmisch«, sagte sie mit einem schelmischen Lächeln. »Paris ist schließlich die Stadt der Romantik.«

Oskar spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Wer konnte denn ahnen, dass ihr Fahrer so ein Tempo vorlegte?

Der Kutscher riss an den Zügeln und lenkte das Gespann in eine Wende von hundertachtzig Grad quer über die Champs-Élysées. Der Boulevard war dicht befahren, sodass einige Fuhrwerke bremsen oder ausweichen mussten. Pferde wieherten. Zwei Fahrzeuge schrammten gegeneinander bei dem Versuch, dem tollkühnen Fahrer auszuweichen. Wütendes Geschrei scholl zu ihnen herüber.

»Du meine Güte«, sagte Oskar. »Ich fürchte, wir sind in den Händen eines Wahnsinnigen!«

»Pierre ist ein alter Bekannter.« Humboldt stützte sich lächelnd auf seinen Stock. »Ich habe ihn angewiesen, auf die Tube zu drücken. Besser, wir beeilen uns. Wer weiß, wie lange Tesla noch am Treffpunkt ist. Ich habe keine Lust, dass er mir wieder durch die Lappen geht.«

»Warum sollte er das tun?«

»Er ist schrecklich in Eile«, erläuterte Humboldt. »Er liefert sich gerade mit Thomas Edison einen erbitterten Kampf um die Rechte an der Elektrizität. In den Fachkreisen ist dieser Konflikt als Stromkrieg bekannt. Es geht um die Zukunft der Starkstromversorgung und die Frage, ob diese im Gleichstrom oder im Wechselstrom liegt. Tesla ist der Erfinder des Wechselstromgenerators. Euch ist vielleicht bekannt, dass in Chicago gerade die Weltausstellung stattfindet, die sogenannte Kolumbus-Ausstellung, benannt nach dem vierhundertjährigen Jubiläum der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus. Es ist die erste Weltausstellung, die ausschließlich mit elektrischem Licht beleuchtet wird. Hunderttausend Glühlampen sind dort installiert und verwandeln das Messegelände in eine Stadt des Lichts. Tja, meine Lieben, das ist die Arbeit von Nikola Tesla und der Westinghouse Electric Company.«

»Und was macht er hier?«

»Er installiert einen Blitzableiter. Tesla will Blitze einfangen und versuchen, sie als Energiequelle nutzbar zu machen.«

Oskar hob die Brauen. »Ist das nicht sehr gefährlich?«

»Gefährlich ist gar kein Ausdruck! Weißt du, wie viel Energie ein solcher Blitz liefert?

»Keine Ahnung.«

»Wir reden hier von Spannungen bis zehn Millionen Volt und einer Stromstärke von weit über zehntausend Ampere. Die enorme Erhitzung bei der Entladung eines Blitzes dehnt die Luft explosionsartig aus. Eine Druckwelle entsteht, die wir in Folge als Donner hören.«

Charlotte neigte den Kopf. »Und warum ausgerechnet Paris? Er hätte das Experiment doch auch drüben in den Staaten abhalten können.«

Humboldt schüttelte den Kopf. »Nein, meine Liebe. Das Experiment kann nur hier in Paris durchgeführt werden. Der Grund ist, dass hier ein Gebäude steht, wie es in der Welt einmalig ist. Wenn ihr es sehen wollt, dreht euch doch mal um.«

Die Kutsche fuhr gerade über eine der vielen Brücken, die die Seine überspannten. Hinter einer Reihe von Platanen und uferseitigen Gebäuden stand ein Turm, der sich wie ein stählernes Werkzeug in den Himmel schraubte. Oskar blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Jetzt wusste er, wo Tesla sich aufhielt.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?