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3. Zarathustra und sein Schatten

An vielen Stellen ist zu beobachten, dass wichtige Debatten über aktuelle Herausforderungen überlagert werden von einem regelrechten Sog der Polarisierung. In diesem Sog geht es nicht mehr um das nähere Verständnis der Sachfragen, sondern sofort um: Dieses Denken führt in die Irre bzw. ist das einzig mögliche; so zu fragen ist „liberal“ bzw. „fundamentalistisch“; wer so etwas befürwortet, gehört nicht mehr dazu bzw. muss ausgeschlossen werden etc. Wie kommt es zu dieser Logik der Polarisierung?

Weit verbreitet ist die Diagnose: Eine solche der Logik der Polarisierung gilt als typisch für das, was man Fundamentalismus nennt. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass es nur zwei konsequente Haltungen gibt, zwei Lager, zwei Richtungen. Solch fundamentalistisches Denken breite sich aus und mache zunehmend alle produktiven Gespräche unmöglich.

Das Problem ist nun folgendes: Fundamentalismus ist keine wertfreie Beschreibung. Wer Fundamentalismus sagt, möchte die Alarmanlagen seiner Hörer anschlagen lassen. Natürlich kann man sagen, dass Idealtypen wie fundamentalistisch, modern oder postmodern in der soziologischen Betrachtung neutral verwendet werden, nicht abwertend oder verurteilend, sondern beobachtend und beschreibend. Aber die Schwierigkeit ist offenkundig: Es ist eine typisch moderne Herangehensweise, wissenschaftliches Denken als einen eigenen Weltzugang zu verstehen, bei dem man seine Wörter so verwendet, wie man sie definiert hat. In der Lebenswelt der meisten Menschen sind diese Begriffe jedoch keineswegs neutral. Prämodern klingt nach überholt und verstaubt, fundamentalistisch nach böse und gefährlich. Die öffentlichen Warnungen vor dem Fundamentalismus funktionieren nicht selten nach derselben Logik, die man „dem Fundamentalismus“ eigentlich vorwirft: hier die moderne, aufgeklärte, fortschrittliche Weltgemeinschaft – dort die bösen Fundamentalisten, die uns alle ins Unglück stürzen. So aber befördert man genau das Denken, von dem man sich eigentlich abgrenzen möchte.

Sehen wir also näher hin? Was ist gemeint mit Fundamentalismus? Ursprünglich handelt es sich bei diesem Wort um eine konservativ-christliche Begriffsprägung. Im 20. Jahrhundert haben sich manche Christen bewusst als Fundamentalisten bezeichnet, um sich von allen liberalen bzw. modernen Erscheinungen in Theologie und Kirche abzugrenzen.11 Mit der Zeit wurde dieser Begriff übertragen auf radikale Erscheinungen aller Art: Das Wort Fundamentalisten wurde verwandt für religiöse Terroristen, für politische Extremisten und überhaupt für alles, was auf radikalen Widerspruch zur Mehrheitsgesellschaft setzt. Fundamentalismus gilt als „Aufstand gegen die Moderne“12. Dass sich auch sehr konservative Christen heute nicht mehr so nennen lassen möchten, ist nur zu verständlich.

Im Folgenden möchte ich einen anderen Zugang zum Thema des Fundamentalismus suchen, einen Umgang mit diesem Begriff, bei dem nicht sofort bestimmte Gruppen gemeint sind, sondern potenziell jede Denkrichtung, wenn man sie immer weiter radikalisiert. Man versteht keine radikale Denkweise, wenn man nicht jeweils mitbedenkt, gegen was genau jemand seinen radikalen Widerspruch formuliert.

Lernen lässt sich das beim Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900). Nietzsche kann man als eine Art Prophet der fortgeschrittenen Moderne bezeichnen, egal, ob man diese nun Spätmoderne oder Postmoderne nennt. „Gott ist tot“, dieser berühmte Ausspruch steht in Nietzsches Werk für den Schwund vieler traditioneller Gewissheiten, in der Religion, der Moral und der abendländischen Kultur insgesamt.

Mit dieser Beobachtung stand Nietzsche im 19. Jahrhundert keineswegs allein. Karl Marx beschrieb diesen Prozess schon in seinem kommunistischen Manifest von 1848 – als eine Folge der Entstehung des modernen Kapitalismus:

„Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“13

Für Marx waren diese Erschütterungen Folge der Industrialisierung und der zunehmenden Marktorientierung der ganzen Gesellschaft. Aus seiner Sicht wurden durch diese Auflösung aller Traditionen die Voraussetzungen geschaffen für eine neue Gesellschaft der Zukunft, die Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden ohne religiöse Vorurteile schaffen wird.

Viele andere hingegen, konservative Christen und Monarchisten zumal, versuchten, den Verfall der Werte zu stoppen durch Stärkung von Autorität und Tradition, mehr und mehr auch der patriotischen und nationalistischen Orientierung der Bevölkerung.

Nietzsche hielt weder die Errichtung eines utopischen Kommunismus noch die Rettung des christlichen Abendlandes für möglich. Zugleich staunte er über die Sorglosigkeit vieler Zeitgenossen, als könnte die permanente Auflösung aller überkommenen Gewissheiten folgenlos bleiben. Für Nietzsche war klar, dass es früher oder später zu heftigen Gegenbewegungen kommen müsste gegen die Umwertung aller bestehenden Werte. Diese Entwicklung würde ihre Schattenseite mit sich bringen. In seinem Werk Also sprach Zarathustra (1883) stellte Nietzsche diese Erwartung in Gesprächsform vor, zwischen Zarathustra, dem Vorreiter des radikalen Zweifels – und seinem „Schatten“. Was das für ein Schatten ist, wird durch dessen eigene Rede deutlich:

„Mit dir strebte ich in jedes Verbotene, Schlimmste, Fernste: und wenn irgendetwas an mir Tugend ist, so ist es, dass ich vor keinem Verbote Furcht hatte. Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte, alle Grenzsteine und Bilder warf ich um, den gefährlichsten Wünschen lief ich nach – wahrlich, über jedwedes Verbrechen lief ich einmal hinweg. Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und Werte und große Namen. […] ‚Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‘: so sprach ich mir zu. In die kältesten Wasser stürzte ich mich, mit Kopf und Herzen. Ach, wie oft stand ich darob nackt als roter Krebs da!“14

Was ist der Schatten? Ein Bild für diejenigen, die dieser Bewegung der allgemeinen Verunsicherung und Auflösung bereitwillig gefolgt sind – und dann einen radikalen Kurswechsel vollziehen. Es spricht gewissermaßen ein ehemaliger Jünger des Zarathustra, der diesem gefolgt ist durch alle Zweifel hindurch zur Auflösung aller früheren Gewissheiten. Doch der Rausch permanenter Befreiung scheint umzuschlagen in das Gefühl unsäglicher Leere. Was ihn einst angezogen hat, stößt ihn nun ab. Dem Rausch der großen Abschiede folgt der Kater eines umfassenden Verlustgefühls. Nietzsche lässt Zarathustra antworten:

„Deine Gefahr ist keine kleine, du freier Geist und Wanderer! Du hast einen schlimmen Tag gehabt: sieh zu, dass dir nicht noch ein schlimmerer Abend kommt! Solchen Unsteten, wie du, dünkt zuletzt auch ein Gefängnis selig. Sahst du je, wie eingefangene Verbrecher schlafen? Sie schlafen ruhig, sie genießen ihre neue Sicherheit. Hüte dich, dass dich nicht am Ende noch ein enger Glaube einfängt, ein harter, strenger Wahn! Dich nämlich verführt und versucht nunmehr jegliches, das eng und fest ist.“15

Nietzsche macht an dieser Stelle eine wesentliche Beobachtung. Der Schatten, d. h. der Mensch, der sich mit Zarathustra losgerissen hat von allen Traditionen und Ordnungen, kann nicht einfach zurück. In einer Zeit, in der sich vieles auflöst und alles im Fluss ist, entsteht zwar eine neue Sehnsucht nach beständigen, unveränderlichen Wahrheiten; aber die alten Gewissheiten sind nicht einfach wieder verfügbar. Attraktiv wird daher nun „jegliches, das eng und fest ist“.

Mit seinem Bild des Schattens macht Nietzsche deutlich, wie Fundamentalismus funktioniert: Er ist eine Reaktion auf eine ungeheure Verunsicherungserfahrung. Und nun ist er radikal auf das fixiert, was er ablehnt. Er lebt nicht mehr in der fraglosen Gewissheit altehrwürdiger Tradition, sicher ist er sich vor allem in der Wut auf das, was ihn verunsichert hat. Nun lebt er gewissermaßen in permanenter Absetzung von seinem Gegner. Nichts ist für die Sehnsucht nach der großen Freiheit beflügelnder als die Beschäftigung mit den Ketten ehemaliger Gefangenschaft. Nichts ist für das Streben nach Sicherheit und Halt so bestärkend wie der angstvolle Blick auf die Mächte der Auflösung. Jeder Radikalismus lebt von der intensiven Beschäftigung mit seinem Gegenbild. Anfällig kann man dafür an allen Seiten des Spektrums werden: im radikalen Kampf gegen links wie gegen rechts, gegen Liberalität wie gegen Fundamentalismus. Je mehr sich eine Strömung durch die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft an den Rand gedrückt fühlt, desto anfälliger wird sie für eine solche Radikalisierung.

Ich möchte daher vorschlagen, die Erscheinung des Fundamentalismus mit Hilfe zweier Metaphern wahrzunehmen: als Seismograph und als Überdosierung. Als Seismograph reagieren fundamentalistische Strömungen auf kulturelle Veränderungen, auf den Verlust ehemaliger Geborgenheit, auf den Schwund früherer Wertschätzungen oder ganz allgemein die Erschöpfung früherer Gewissheiten, die vielen Menschen Halt und Orientierung gaben. Und mag man die fundamentalistischen Reaktionen noch so aggressiv und unverständig finden, in der besorgten oder wütenden Wahrnehmung von Veränderungen zeigt sich eine Sensibilität, die auch denen nicht gleichgültig sein sollte, die sich davon unbetroffen fühlen. Sehr häufig führen sämtliche Versuche, fundamentalistisch denkende Menschen auszugrenzen oder lächerlich zu machen, nur dazu, dass sie sich untereinander umso enger und entschiedener zusammenschließen und in ihrem Ausschluss einen Beleg, ja einen Beweis für das Recht ihrer kritischen Sicht auf die Außenwelt sehen. Daher ist es an der Zeit, nach den Wahrheitsmomenten fundamentalistischer Denkweisen zu fragen. Und wenn wir die Formel vom „Aufstand gegen die Moderne“ ernst nehmen, so reagieren Formen des Fundamentalismus ja auch auf problematische Erscheinungen der Moderne: die mit der zunehmenden Individualisierung verbundenen Entfremdungsprozesse in Familie und Nachbarschaft; die mit der Verwissenschaftlichung des Weltumgangs einhergehende Abwertung von Lebenserfahrung, Weisheit und Traditionen. Im Fundamentalismus verdichtet sich ein Krisenbewusstsein für die problematischen Seiten der Moderne.

 

Man mag fundamentalistischen Haltungen vorwerfen, sich einseitig und ungerecht von einem Kulturpessimismus bestimmen zu lassen, der nicht wahrzunehmen vermag, dass die negativen Seiten der Modernisierung seit Generationen öffentlich diskutiert werden.16 Man sollte dabei nicht übersehen, dass die Anhänger fundamentalistischer Religionen nicht selten eine für sie befriedigende Lösung finden, in ihren Kreisen eine Gegenkultur zum gesellschaftlichen Mainstream zu entwickeln. Um das Phänomen radikaler Frömmigkeit zu verstehen, muss man auch wahrnehmen, was sie für viele so attraktiv macht. Welche Vorteile bietet Fundamentalismus?

 Er bietet klare und eindeutige Lebensorientierung. Das Leben ist schon unübersichtlich genug, viele Menschen haben kein Interesse daran, alle Komplikationen des modernen Denkens z. B. in ihrer Religion wiederzufinden. Fundamentalistische Religion ist einfach, klar und praktisch; und das bietet vielen eine echte Hilfe im Leben schon dadurch, dass alles Wesentliche wieder übersichtlich wird.

 Er stiftet Motivation zum persönlichen Einsatz. Menschen, die klare Überzeugungen und eindeutige Orientierungen haben, setzen sich für die Ziele und Werte ein, die sie für sinnvoll und notwendig halten.

 Er schafft Verbundenheit mit anderen Überzeugten bzw. im Fall der Religion mit anderen Gläubigen. Fundamentalismus lässt sich nicht einfach mit weiterem Fortschreiten von Bildung und Aufklärung abschaffen. Weltweit gibt es stark wachsende religiöse Gemeinschaften, die durch ihr Angebot von dichter Verbundenheit und Zugehörigkeit viele Menschen anziehen.

Das Problem dieser Haltung möchte ich mit dem Bild der Überdosierung beschreiben. Im Fundamentalismus kann es um berechtigte, wichtige Ziele und Werte gehen, sei es Bibeltreue, sei es soziale Gerechtigkeit etc. In der Bekräftigung dieses Wertes gerät alles andere, vielleicht auch sehr Wichtiges, aus dem Blick. Das Bedürfnis nach Klarheit und Eindeutigkeit setzt sich durch auf Kosten der Wahrhaftigkeit und manchmal auch der Menschlichkeit. Zum Fundamentalismus gehört wesentlich sein Freund-Feind-Denken, die polare und polemische Wahrnehmung der Welt. Die eigene Wahrheit überzeugt absolut – im Gegensatz zum Liberalismus, zu den Linken bzw. den Rechten, zur Moderne oder wem oder was auch immer. Und diese Gegensatzlogik, dieses Fixiertsein auf das, wovon man sich abgrenzt, wirft nun seinerseits seine Schatten. Menschen, die z. B. so geprägter Frömmigkeit den Rücken zuwenden, leiden an:

 der Unfähigkeit fundamentalistischer Religion, bei ihren Gegnern überhaupt noch wichtige Anliegen wahrzunehmen, die positiv, hilfreich, bereichernd oder würdigenswert sein könnten.

 der Verdrängung von Problemen und Schwierigkeiten in den eigenen Kreisen, die tabuisiert und verschwiegen werden müssen.

 dem Partei- und Lagerdenken, der Neigung zum Bekämpfen der anderen, häufig nicht nur anderer Gedanken, sondern gerade auch anderer Menschen, die man für die eigenen Kreise als gefährlich einschätzt und die man darum ausgrenzen muss.

 der Offenheit gegenüber Verschwörungstheorien und allen Denkansätzen, die konkreten Gegnern Schuld und Versagen im Blick auf Fehlentwicklungen der Gesellschaft zuschreiben.

4. Theologie der dritten Wege

Was kann Theologie in einer solchen Situation leisten? Nun kann Theologie solche Konflikte nicht einfach klären. Wenn wir uns die Basismentalitäten des heutigen Denkens ansehen, dann ist die wissenschaftliche Theologie hoffnungslos modern. Für die einen kann sie kein Teil einer Lösung sein, denn sie ist für den christlichen Glauben das Problem schlechthin, die Ursache allen Niedergangs in der liberalen Christenheit. Für die anderen postmodernen Geister ist sie schlicht und einfach zu kompliziert – und daher letztlich irrelevant. Nun ist jede Theologin bzw. jeder Theologe in heutigen Fragen in irgendeiner Form auch Partei und kann sich nicht anmaßen, wie ein Schiedsrichter über den Gegensätzen zu stehen. Es wäre in den politischen wie in den religiösen Fragen unserer Zeit auch unsinnig, der Sehnsucht nach der verlorenen Mitte nachzuhängen, sich in eine spannungslose, konsensfixierte Harmonie flüchten zu wollen. Konflikte sind wesentlich, sie sind notwendig – nur muss man auch das Streiten lernen.

Es kann nicht darum gehen, zwischen den Extremen unserer Zeit „den“ dritten Weg zu finden, den Weg der Vernunft und der Mitte, auf dem sich doch bitte alle Menschen guten Willens einfinden mögen. Im schlimmsten Fall ist das auch wieder eine fundamentalistische Sehnsucht. Kein dritter Weg ist die Lösung, sondern die Freiheit zu dritten Wegen: Wege, auf denen Gläubige miteinander ringen und diskutieren, aufeinander hören und voneinander lernen, wo sie nicht vorschnell Einigung suchen auf Kosten der Gründlichkeit, aber auch im Gespräch bleiben, solange sie einander nicht wirklich begreifen. Viele Fragen der gegenwärtigen Christenheit werden nicht auf dem Niveau und in der Atmosphäre diskutiert, wie es angemessen und hilfreich wäre; siehe die Freischwimmer-Debatte. In diesem Sinne möchte ich in diesem Buch dazu beitragen, einige Konflikte zumindest zu versachlichen und diskutierbar zu machen.

Im achten Teil der Star-Wars-Reihe wurde diese Einsicht so formuliert: „Nur so können wir siegen: nicht bekämpfen, was wir hassen, sondern retten, was wir lieben.“ Fundamentalismus und Relativismus sind Versuchungen, denen man auch nicht in Form ihrer Bekämpfung erliegen darf. Die Extreme stabilisieren sich gegenseitig, vor allem durch den Blick auf ihr jeweiliges Gegenbild. Oder mit Nietzsche gesagt: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“17

Besser streiten lernen, darum muss es heute in vielen christlichen Kreisen gehen. Zwischen radikaler Totalkritik der jeweils anderen und großer Gleichgültigkeit bzw. Kontaktvermeidung gibt es einen weiten Raum, in dem Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Voraussetzungen Fragen stellen und diskutieren können. Diesen Raum wieder zu vergrößern ist heute eine Aufgabe, die nur von mehreren Seiten gleichzeitig angegangen werden kann.

II. Gott gehört uns nicht

Glaube ist heute ein heißes Thema. Inhalte und Stile des Glaubens verbinden Menschen miteinander – aber trennen sie auch. So war es immer, und nichts spricht dafür, dass sich das grundsätzlich ändern lässt. Aber nicht jeder Unterschied muss als Gegensatz aufgefasst, nicht jede Veränderung gleich als Durchbruch gefeiert oder Verrat beklagt werden. Im Glauben bekommen wir es mit Gott zu tun. Das macht Glaubensfragen so gravierend. In diesem Kapitel möchte ich einige grundlegende Überlegungen anstellen, wie man einen etwas gelasseneren Umgang mit Glaubensunterschieden gewinnen kann. Denn wenn wir es im Glauben auch mit Gott zu tun bekommen, so bleiben Gott und unser Glaube doch immer zweierlei. Denn Gott gehört uns nicht. Keinem von uns.

1. Der Gott zum Anfassen

Das 2. Buch Mose (Exodus) berichtet vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Gott befreit sein Volk, er führt es hinaus aus dem Sklavenhaus und schenkt ihm einen neuen Anfang in Freiheit. Die biblischen Texte beschreiben die großen Zeichen und Wunder, die Gott auf diesem Weg tut. Und man möchte meinen: Wer so was mal erlebt hat, wer Gottes Macht so eindrücklich erfahren hat – der kann nie wieder an der Realität Gottes zweifeln. Doch, kann man. Die Wege in die Freiheit werden lang und länger. Die Wanderung des Volkes Israel führt nicht direkt und zügig in das verheißene gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen, sondern in die Wüste. Am Sinai schließt Gott einen Bund mit seinem Volk, er gibt ihm die Zehn Gebote als Ordnung für das neue Leben. Aber das Volk erfährt Gott mehr und mehr aus zweiter Hand, vermittelt durch Mose. Für viele im Volk wird Gott immer ungreifbarer. Schließlich begibt sich Mose auf den Berg Sinai, um die Gebote Gottes zu empfangen. Als seine Rückkehr auf sich warten lässt, wird das Volk Israel kurze Zeit nach dem ungeheuren Aufbruch aus Ägypten immer unruhiger (Ex 32,1 ff.). Wo ist Gott? Wo ist Mose – und was ist sein Plan?

Schließlich hilft das Volk sich selbst – mit einem Gott zum Anfassen. Die Götter der Antike waren sichtbar. Die Zumutung des unsichtbaren Gottes lastete offenbar schwer auf Israel. So nötigt das Volk Moses Bruder Aaron zur Herstellung eines Goldenen Kalbes, gewissermaßen die Materialisierung der allgemeinen religiösen Ungeduld im Volk. Das Goldene Kalb, ein typisches Symbol dieser Zeit, macht Gott endlich sichtbar, konkret und greifbar (Ps 106,19-20). Als Mose zum Volk zurückkehrt, ist er zutiefst erschüttert. Er zertrümmert die Tafeln mit den Zehn Geboten, der Weg Gottes mit diesem Volk scheint am Ende angekommen zu sein.

Nun könnte man sagen: Tragisch, dass das Volk nicht noch ein wenig warten konnte. Aber vielleicht ist das auch verständlich. Ist es doch erheblich, was Gott ihm an Geduld und an Vertrauen abverlangt. Mose, möchte man meinen, ist da in einer ganz anderen Lage. Der kennt Gott nicht nur aus zweiter Hand, heißt es doch, dass Gott mit ihm „von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freund redet“ (Ex 33,11). Mose allein geht zu Gott auf den Berg Sinai, Mose allein darf eintreten ins Heiligtum dieser Zeit, ins Zelt der Begegnung, und die Begegnung mit Gott ist so real, dass alle im Volk den Glanz auf seinem Gesicht sehen können, immer wenn er mit Gott geredet hat (Ex 34,35). Mose allein hat einen solchen direkten Kontakt zu Gott. Kein Wunder, dass das Volk zu zweifeln beginnt und Mose nicht. Wirklich? Nein: Auch Mose hat seine Krise. Nach den Auseinandersetzungen um das Goldene Kalb berichtet die Exoduserzählung Folgendes:

12 Und Mose sprach zu dem HERRN: Siehe, du sprichst zu mir: Führe dies Volk hinauf!, und lässt mich nicht wissen, wen du mit mir senden willst, wo du doch gesagt hast: Ich kenne dich mit Namen, und du hast Gnade vor meinen Augen gefunden. 13 Hab ich denn Gnade vor deinen Augen gefunden, so lass mich deinen Weg wissen, damit ich dich erkenne und Gnade vor deinen Augen finde. Und sieh doch, dass dies Volk dein Volk ist. 14 Er sprach: Mein Angesicht soll vorangehen; ich will dich zur Ruhe leiten. 15 Mose aber sprach zu ihm: Wenn nicht dein Angesicht vorangeht, so führe uns nicht von hier hinauf. 16 Denn woran soll erkannt werden, dass ich und dein Volk vor deinen Augen Gnade gefunden haben, wenn nicht daran, dass du mit uns gehst, sodass ich und dein Volk erhoben werden vor allen Völkern, die auf dem Erdboden sind? 17 Der HERR sprach zu Mose: Auch das, was du jetzt gesagt hast, will ich tun; denn du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen. 18 Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! (Ex 33,12-18)

Auch Mose ringt mit Gott. Ja, Gott redet mit ihm, Mose hat mit ihm viel erlebt, viel Großes, aber auch Niederschmetterndes. Aber auch Mose ist an einem Punkt angekommen, wo er nicht mehr einfach weitermachen kann. Ja, Mose hat den Gott des Exodus erfahren, er hat den Gott des Sinai gehört. Aber er merkt, dass nun eine neue Aufgabe auf ihn wartet. In seinem Gespräch mit Gott geht es immer wieder um dasselbe: Zeige dich, Gott. Ja, du sagst, ich habe Gnade gefunden, du kennst mich. Aber was bedeutet das für den Weg, der vor mir liegt?