Hannover sehen und sterben

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Kapitel 14

In den letzten sieben Tagen hatte Philipp ein wohliges Kribbeln gespürt, das er die letzten Jahre vermisst hatte. Über Ramonas verlockenden Andeutungen lag der Hauch des Verruchten, was Philipp reizte.

Momentan musste er sich nicht mit der pünktlichen Fertigstellung eines Manuskripts beschäftigen. Er war ungebunden und hatte Zeit, die angenehmen Seiten des Lebens zu genießen. Gestern, am Freitag, bei seiner Stippvisite in Isernhagen-Süd, hatte Ramona ihm ohne Umschweife den Vorschlag für das heutige Treffen gemacht.

Er hatte Bedenken geäußert, wegen Bodo. Zwischen Bodo und ihm war zwar jahrelang Sendepause gewesen. Aber früher hatten sie in der Schule zusammen Handball gespielt und waren Kumpel in der ange­sagtesten Clique gewesen. Jetzt hatte Bodo ihn vertrauensselig in sein Haus eingeladen. Es war nicht Philipps Art, einen ehemaligen Schulfreund zu hintergehen.

„Was wir machen, ist okay. Es wird passieren, und keiner wird verletzt, insbesondere nicht Bodo“, hatte Ramona mit eindringlicher Stimme gesagt. „Verlass dich auf mich.“

Ramona hatte von einem „stillen Abkommen“ mit Bodo gesprochen, bei dem jeder dem anderen die Zufriedenstellung seiner persönlichen Bedürfnisse zugestand. Dabei hatte sie Philipp angeguckt, als würde sie über die selbstverständlichste Sache der Welt reden. Mit dem Nachsatz: „Allerdings gibt es eine Spielregel, die zwingend einzuhalten ist: absolute Diskretion.“

Schließlich hatte Philipp eingewilligt. Ramona hatte ihm die wichtigsten Informationen gegeben, sich aber insgesamt bedeckt gehalten, was genau Philipp den Abend und die Nacht erwarten würde.

Er verließ am späten Nachmittag, eine Umhängetasche mit den notwendigsten Utensilien über der Schulter, zu Fuß sein Grundstück in Anderten und ging durch das Wohngebiet einige Straßen weiter, wo er am vereinbarten Treffpunkt stehen blieb. Dort erschien kurze Zeit später ein schwarzer B-Klasse-Mercedes, in dem Ramona am Steuer saß. Philipp stieg an der Beifahrerseite ein.

Sie begrüßte ihn lächelnd und fragte: „Hast du ein eingeschaltetes Handy dabei?“

Er zuckte mit den Schultern: „Klar.“

„Mach es bitte ganz aus, wie ich. Unseren heutigen Ausflug möchte ich vollständig ungestört genießen.“

Philipp kam ihrem Wunsch nach. Momentan gab es für ihn eh keinen Grund, dauerhaft empfangsbereit zu sein. Es war nervig, seiner Ex-Lebenspartnerin Melanie zu erklären, warum er mal wieder nicht an sein eingeschaltetes Handy gegangen war.

Bin gespannt, was es zu genießen gibt.

Nachdem er sein Handy deaktiviert hatte, fuhr Ramona los.

Ein bisschen wie in einem Spionage-Film. Die attraktive Undurchschaubare bringt den Agenten an einen geheimen Ort. Nun ja, einmal James Bond sein … mit der Lizenz zum Flachlegen der Hauptdarstellerin.

„Jetzt geht’s also nach Mardorf?“ Seine Frage war rein rhetorisch und diente als Auftakt, mehr Infos von ihr über ihren Zielort zu erhalten.

Mardorf, ein Ortsteil von Neustadt, lag direkt am Ufer des Steinhuder Meers, dem größten See Nordwestdeutschlands, und war ein beliebter anerkannter Erholungsort. Die Sterns besaßen dort ein Ferienhaus, außerdem hatte Bodo in Mardorf sein Segelboot stationiert, weshalb sich Ramona und er meistens in der warmen Jahreshälfte dort aufhielten.

Philipp schaute vom Beifahrersitz immer wieder Ramona an. Bisher waren ihre Äußerungen über den bevorstehenden Abend vielsagende Andeutungen gewesen, die er als eindeutig zweideutig interpretiert hatte. Je näher sie ihrem Zielort kamen, desto mehr kamen ihm Zweifel, ob er wirklich alles richtig verstanden hatte.

Will sie am Ende gar nicht mit mir in die Kiste, und wir geraten in eine missverständliche Situation, die nur peinlich ist? Wo ist der Haken bei der Geschichte?

Sie erreichten nach fast einer Stunde Fahrt über die A2 und B6 Mardorf im nordöstlichen Zipfel der Region Hannover.

Das Ferienhaus der Sterns lag nicht direkt am Wasser, aber auch nicht weit davon entfernt, in einer Nebenstraße zwischen verschiedenen anderen Ferienhäusern. Es wurde bereits dunkel, als Ramona ihren Mercedes auf das Grundstück lenkte und den Wagen unter einem Carport abstellte.

Ein perfektes Liebesnest!

Das einstöckige Ferienhaus war von einem Holzzaun umgrenzt. Hohe immergrüne Sträucher boten Sichtschutz vor neugierigen Nachbarn. Der Garten, soweit zu erkennen, machte einen sehr gepflegten Eindruck. Jetzt, Anfang März, hielt sich vermutlich sowieso selten einer der Nachbarn in seinem Ferienhaus auf. Und der Kontakt zu ihnen köchelte zudem auf Sparflamme, hatte Ramona erwähnt. Die Chance, dass die Zweisamkeit von Ramona und Philipp verborgen blieb, war groß. Sie würden die Nacht im Haus bleiben und am nächsten Morgen wieder nach Hannover zurückfahren.

Was sollte da schiefgehen?!

*

Ramona hatte sich umgezogen und trug jetzt zur Jeans eine hellblaue Bluse mit Knöpfen. Auf der Fahrt hierher war es noch ein grauer Pullover gewesen.

Eine Bluse zum Aufknöpfen, ging Philipp spontan durch den Kopf.

Sie hatten sich zueinander auf das Sofa im Wohn­zimmer gesetzt. Vor ihnen auf dem Tisch standen zwei Gläser Weißwein, und Frank Sinatra sang im Hintergrund I Get A Kick Out Of You.

Philipp hielt das Vorgeplänkel für beendet. Erst war er mit Ramona durchs Haus gegangen und hatte sich ihre selbst gemalten Bilder zeigen lassen. Dann hatte er mit ihr zu Abend gegessen: Spiralnudeln mit scharfer Bolognese.

Ramona leerte ihr drittes Glas Wein, sah ihm direkt auf den Mund, während er ihr eine witzige Episode aus der Schulzeit erzählte. Dabei hatte sie selbst die Lippen leicht geöffnet.

Ihre Pupillen sind geweitet, fiel Philipp auf einmal auf.

Sie neigte den Kopf schräg zur Seite und zupfte beim Zuhören an ihren Blusenärmeln.

Jetzt ist sie scharf.

Dann ging alles sehr schnell.

Philipp hatte ihre Körpersignale als Ermunterung verstanden. Er ergriff sanft ihre Hand, und als sie es zuließ, gingen seine Hände weiter auf Entdeckungsreise. Sie erwiderte seine Umarmung, er küsste sie auf den Mund, während sie begann, ihm sein Hemd aus der Jeans zu ziehen. Nachdem er sich mit ihrer Hilfe seines Hemdes entledigt hatte, begann er, die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen.

*

Philipp spürte eine leichte Erschöpfung. Sie waren auf dem Sofa im Wohnzimmer geblieben, hatten es nicht mehr ins Schlafzimmer geschafft. Ramona sah ihm lächelnd dabei zu, wie er sich Hemd und Hose wieder anzog.

„Hab ich zu viel versprochen?“, murmelte sie.

„Durchaus nicht“, brummte er. „Ich bin vollständig zufrieden mit dem Abend.“

Ramona, die nackt auf dem Sofa lag, schnappte sich eine Wolldecke und wickelte sich darin ein. Dann genehmigte sie sich ein weiteres Glas Wein, leerte es in wenigen Zügen. Der Alkohol zeigte Wirkung, Ramona fing leicht an zu lallen. Philipp war auf Wasser umgestiegen.

Sie braucht den Alkohol, um ihre Hemmungen zu verlieren.

Als sich Ramona Wein nachschenken wollte, riet ihr Philipp: „Ich glaub, jetzt hast du genug.“

Ramona zog unwillig die Stirn kraus: „Manchmal wünsche ich mir, ein Mann zu sein und so viel saufen zu können, wie ich will.“

„Als Mann könnte ich mir dich beim besten Willen nicht vorstellen“, sagte er und nahm ihr die Weinflasche aus der Hand.

„Doch, doch“, widersprach sie, wobei sie auf die Rückenlehne des Sofas zurückfiel. „Als Mann wär ich in meiner Familie besser gefahren. Da sind Sachen passiert, da könntest du einen spannenden Roman drüber schreiben.“

Sie ist betrunken und plaudert aus dem Nähkästchen.

„Du sprichst von Bodo und seinem Spielhallen-Imperium?!“, fragte Philipp.

„Nein“, sie lachte bitter. „Ich meine die Carbens … also Christian und mich.“

Plötzlich war Philipp hellwach.

„Gibt es etwas, worüber du im vertrauten Rahmen mit jemandem sprechen möchtest?“ Im gleichen Moment wurde ihm bewusst, wie idiotisch es war, einer Betrunkenen eine solche Frage zu stellen.

Ramona allerdings schien zu kapieren, dass sie mehr erzählt hatte, als ihr lieb war.

„Ich hab nur Unsinn geredet.“ Sie schüttelte den Kopf. „Vergiss es.“

Kapitel 15

10 Tage vor der Ermordung von P. R.

Am nächsten Morgen, beim gemeinsamen Frühstück mit Philipp, war Ramona bester Laune. An das, was sie im betrunkenen Zustand von sich gegeben hatte, schien sie keine Erinnerung zu haben. Zumindest sprach sie das Thema mit keinem Wort an.

Die Abfälle, die leeren Flaschen und die Kippen der Zigaretten, die Philipp auf der Terrasse geraucht hatte, wurden von ihr in Säcke gepackt und entsorgt, um keine verräterischen Spuren zu hinterlassen.

„Hast du Lust auf ein nächstes Treffen?“, fragte sie ohne erkennbare Emotion, als sie in den Mercedes stiegen, um sich auf den Rückweg zu machen.

Er nickte, und das nächste Date war beschlossen.

Ramona fuhr los. Sie verließen das Gebiet mit den Ferienhäusern, bogen rechts in eine Landstraße ein, die Richtung Neustadt führte. Dort mussten sie gleich vor einer Fußgängerampel anhalten.

Gerade als Ramona wieder anfuhr, sah Philipp rechts neben der Ampel einen Mann auf einem Fahrrad, der penetrant in ihre Richtung guckte. Keinen, den er kannte.

„Hast du den Typ da eben am Straßenrand gesehen?“, fragte er Ramona. „Auf dem Rad?“

Die zuckte beim Fahren mit den Schultern: „Wen meinst du? Ich hab niemanden bemerkt. Wie sah er aus?“

„Mittelgroß mit einer dicken Winterjacke und Mütze. Aber richtig erkannt hab ich ihn nicht, weil du da schon losgefahren bist.“

„Der Fuß- und Radweg nach Neustadt wechselt an dieser Stelle auf die andere Straßenseite. Hat der Typ was Auffälliges gemacht?“

 

„Ich weiß nicht, ob er nur zufällig oder ganz bewusst in unsere Richtung geguckt hat. Aber hat sich eh erledigt. Vermutlich ohne Bedeutung.“

Kapitel 16

Das Auslösen des Alarms letzte Nacht empfand Paul als äußerst unangenehm. Er musste der Leitstelle des Sicherheitsdienstes, die im Alarmfall automatisch verständigt wurde, am Telefon mitteilen, dass es sich lediglich um einen selbst verursachten Fehlalarm gehandelt hatte.

Er beschloss, fürs Erste die Alarmanlage seiner Einliegerwohnung nicht mehr scharfzuschalten, wenn er selbst zu Hause war. Niemand sollte mitbekommen, was momentan mit ihm los war. Die überdurchschnittlich gute mechanische Sicherung seiner Fenster und Türen bot allein schon einen guten Schutz vor Einbrechern.

Am Morgen machte ihm die Abwesenheit seiner Mutter erneut bewusst, welche Bedrohung für die Familie in der Luft hing. Der Mistkerl hatte es heute Nacht irgendwo mit seiner Mutter getrieben. Und würde es bestimmt noch häufiger tun. Die Angst, dass Bodo diesmal alles herausbekam, nahm zu. Philipps dreiste Werbung um Ramona würde sich in den nächsten Monaten unmittelbar vor Bodos Augen abspielen, die er irgendwann nicht mehr verschließen konnte. Die Katastrophe war vorprogrammiert.

Das wäre das Ende unserer Familie.

Schon bei Kleinigkeiten war es so: Wenn Bodo sauer war auf Ramona, richtete sich sein Ärger immer gleichzeitig gegen Paul. Bestrafte Bodo Ramona, bestrafte er Paul gleich mit.

Paul hielt sich den ganzen Vormittag in seinem Zimmer auf. Er saß vorm Bildschirm seines PCs und wechselte von einer Internetseite zur nächsten.

Ich muss alles über ihn herausfinden. Was er für ein Typ ist. Wo seine Schwächen liegen.

Im Internet fand er jede Menge Informationen über den Schriftsteller.

Ich verfluche dich! Ich will, dass dich alle verdammten Krankheiten dieser Welt dahinraffen und du elendig verreckst!

Paul hatte jetzt immer öfter Gaylord vor Augen, den Schlafwandler, die Hauptfigur seines ersten E-Books. Gaylord, der Name war gallischen Ursprungs und bedeutete stark und kräftig, überwand seine eigene Schwäche, um die Gegner seiner Familie zu besiegen.

In meiner Geschichte war alles so einfach.

Der Roman endete blutig, aber die Familie war gerettet.

Wenn doch einiges davon Realität würde!

Gaylord war als Junge alles andere als stark. Seine Eigenschaft zu schlafwandeln musste er um jeden Preis verheimlichen. Niemand durfte erfahren, dass er nachts unkontrollierbare Handlungen vollzog, die andere lächerlich fanden. Gaylords Freund Lorek war als Schlafwandler von der Gruppe der Herrschenden enttarnt worden und hatte ein schlimmes Ende genommen.

Ich bin Gaylord. Ich spiele Sophie heile Welt vor, verheimliche ihr meine Spontanprüfungen.

Gaylord übernachtete nicht bei Bekannten, wollte keine mehrtägige Konfirmandenfreizeit oder Klassenfahrten mitmachen. Sich der Lächerlichkeit preiszugeben war seine größte Angst. Deshalb ging er lange Zeit keine Beziehung zu einem Mädchen ein, litt unter dem Teufelskreis, sich selbst aus der Gemeinschaft auszuschließen.

Bei mir war es nicht ganz so schlimm. Aber ich kenne das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören.

Gleich zu Beginn der Mystery-Story vollzogen Gaylord und Lorek einen Austausch ihrer geistigen Energie, wurden zu Brüdern im Geiste. Auch nachdem Lorek spurlos verschwunden war, blieb sein Geist mit dem von Gaylord, der inzwischen zum Mann geworden war, in Verbindung. Als die Herrschenden ein Mitglied seiner Familie bedrohten, verfluchte Gaylord die Aggressoren. Mit dem Fluch vermochte er seine Gegner zu schwächen. Er besorgte sich eine Pistole mit Schalldämpfer und versteckte sie in seinem Garten, blendete diese Handlungen jedoch vollständig aus. Während er in der Nacht schlafwandelte, nahm er die Pistole an sich, suchte damit seinen Gegner auf und tötete ihn. Gaylord verhinderte, dass der Fluch vom Körper des Toten auf unbeteiligte Personen überging, indem er zur Neutralisation ein rot angemaltes Kreuz auf dem Leichnam ablegte. Am nächsten Morgen hatte er daran keinerlei Erinnerung. Nach und nach schaltete Gaylord einen Feind nach dem anderen aus, ohne bewusst Schuld auf sich zu laden.

Philipp ist auch so ein Feind.

Den Roman hatte Paul damals wie im Rausch geschrieben. Ausgangspunkt war eine wahre Geschichte, die er im Internet gelesen hatte. Kenneth Parks, ein 23-jähriger kanadischer Schlafwandler, griff während des Schlafwandelns seinen Schwiegervater an und tötete seine flüchtende Schwiegermutter mit einem Messer. Dazu musste Parks zuvor eine Strecke von dreiundzwanzig Kilometern mit dem Auto zurücklegen und mit einem Brecheisen in das Haus seiner Schwiegereltern eindringen. Ein medizinisches Gutachten bewies, dass Parks zur Tatzeit geschlafwandelt hatte und damit unzurechnungsfähig war. Zunächst musste er fünf Jahre in Haft, aber ein Gericht sprach ihn später aufgrund des Gutachtens frei. Im Internet zweifelten verschiedene Autoren daran, dass ein Mensch im Zustand des Schlafwandelns in der Lage sein sollte, einen anderen Menschen zu töten. Paul war sicher, dass so etwas im Extremfall möglich war.

Die Geschichte von Gaylord hatte er sich nicht mühevoll ausdenken müssen, sie war einfach da. Paul war selbst vollständig in das Geschehen eingetaucht. Die Gegenstände, die seine Figuren im Roman benutzten, wollte er ebenfalls in der Hand halten, um authentisch beschreiben zu können, wie sie sich anfühlten. Er hatte sich eine Sturmmaske, ein Brecheisen sowie ein Bowie-Messer besorgt. Vielleicht sogar eine scharfe Pistole. Da waren diese Bilder in seinem Kopf. Wie er in einem dunklen Hinterhof für 1200 Euro von einem Osteuropäer eine Selbstladepistole mit Schalldämpfer kaufte, die er anschließend irgendwo auf dem Grundstück seiner Eltern versteckte – so wie Gaylord. Hatte er das wirklich gemacht?

Paul wollte vor zwei Jahren unbedingt eine Pistole besitzen. Es war der Reiz des Verbotenen. Wie fühlte sich das an, eine scharfe Waffe bei sich zu haben? Am besten mit einem passenden Schalldämpfer dazu. Der Schalldämpfer diente am Ende nur dem Ziel, mit der Pistole zu töten. Natürlich war ihm klar, dass der brave Paul niemals an eine echte Pistole herangekommen wäre.

Aber sein dunkles Ich war voller Wut, hatte dabei Kontakt zu Menschen, die der brave Paul nie gewagt hätte anzusprechen. Da gab es diesen Szymon, einen Kerl Mitte zwanzig, der sich oft im Rotlichtviertel von Hannover rumtrieb. „Gib mir Geld, ich besorg dir alles“, war sein Spruch. – „Auch eine Pistole mit Schalldämpfer?“, wollte Paul damals wissen. – „Hast du ein Wunschmodell?“, war Szymons Antwort.

Zu seinem achtzehnten Geburtstag hatte Paul von seinem Vater eine größere Summe Geld erhalten. Davon hatte Paul 1200 Euro abgehoben. Und dann war genau diese Summe weg, spurlos verschwunden. Sein dunkles Ich musste das Geld ausgegeben haben. Und für was? Irgendwann war Paul der Gedanke gekommen, dass Szymon ihm dafür eine Selbstladepistole mit Schalldämpfer und Munition beschafft hatte. Das Ding lag jetzt in einem geheimen Gartenversteck, das nur Pauls anderes Ich kannte. Für den braven Paul blieb ein Kribbeln, selbst wenn er keinen direkten Zugriff auf die Pistole hatte. Szymon war inzwischen wie vom Erdboden verschluckt. Oder hatte es den Typen nie gegeben? Da existierten Bilder, wie jemand in einer leeren Fabrikhalle mit der Pistole auf Bierdosen schoss.

Damals lief im Fernsehen ein Actionfilm mit genau dieser Szene. Hatte er nur geträumt, selbst in die gleiche Situation geraten zu sein? Im Internet hatte er sich damals exakt darüber informiert, was eine Waffe kostete und wie man an sie herankam. Er fand sich mehrfach im Rotlichtviertel wieder, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen war. Verschiedene Typen hatten ihn angequatscht, ob sie was für ihn tun könnten. Die Atmosphäre glich der in seinem Roman. Gaylords Kampf gegen die Herrschenden.

Sein Magen knurrte. Paul verspürte Hunger, hatte den ganzen Vormittag weder gegessen noch getrunken. Er sah auf den Monitor, geöffnet war die Website der Firma Heckler & Koch, dem bedeutendsten deutschen Hersteller von Handfeuerwaffen, zu dessen Sortiment auch Pistolen gehörten. Die Erinnerung, dass er diese Seite aufgerufen hatte, war komplett weg. Im Verlauf des Internet-Browsers konnte er feststellen, dass er sich zuvor über verschiedene Tötungsarten informiert hatte. Auch daran hatte er keine Erinnerung.

Wem seine Recherche gegolten hatte, stand außer Frage.

Der Druck macht mich fertig!

Paul aß und trank eine Kleinigkeit, betrat anschließend den Bungalow-Teil seiner Eltern. Ramona war inzwischen wieder zu Hause. Von ihrer Rückkehr hatte er überhaupt nichts mitbekommen. Sie war mit Bodo in dem Teil des Gartens, der demnächst von Ammoneit umgestaltet wurde.

Solange sie da draußen sind, ist die Gelegenheit günstig.

Paul wusste, wo sich die ausgedruckte Liste mit allen bekannten Kontaktdaten der ehemaligen Schulkameraden seines Vaters befand. Schnell fotografierte er die Liste mit seinem Smartphone.

Ich muss zu seinem Haus. Dann kann ich ihn zur Rede stellen, ihm klarmachen, dass er zukünftig die Finger von Mama lässt.

Paul zögerte. Stellte seinen Plan wieder infrage.

Das verschlechtert nur die Situation.

Er wog ab, was passieren könnte.

Was erwarte ich? Dass er sagt: ‚Ja, ich habe mit deiner Mutter geschlafen, tut mir leid, ich beende sofort die Beziehung und sag auch deinem Vater nichts.‘ Wohl kaum.

Er biss die Zähne zusammen.

Philipp wird alles abstreiten. Und für mich und die Familie ist es beschämend … wirklich beschämend, wenn ich ihm gegenüber einräume, dass ich Mama zutraue, dass sie sich auf ihn einlässt. Am Ende erfährt nur Papa auf irgendeine Weise, dass ich den Kerl bedroht habe. Und wird dadurch erst auf das Ganze aufmerksam.

Er verwarf den Plan, sich den Schriftsteller persönlich vorzuknöpfen.

Trotzdem würde er dorthin fahren.

Mein Fluch wirkt viel stärker, wenn ich ganz nah dran bin.

Paul stieg in seinen Wagen und fuhr direkt zu der Adresse, die er sich eben besorgt hatte.

Kapitel 17

9 Tage vor der Ermordung von P. R.

Philipp Rathing wollte die Gunst der Stunde nutzen.

Der aufgefrischte persönliche Kontakt zu Christian Carben hatte Philipp auf eine Idee gebracht. Das Manuskript für seinen neuen Roman, der sich um das Thema Flüchtlingsfamilien drehte und in einem halben Jahr im Buchhandel erscheinen sollte, war gerade fertiggestellt. Christian hatte mit dem Thema auf zweierlei Weise zu tun – als Koordinator im Jugendamt sowie Lokalpolitiker. Philipp wollte zu einigen Aspekten Christians Meinung hören, um sich Anregungen zu holen für das am Ende des Buches geplante Nachwort.

Er rief Christian nach Feierabend zu Hause an. Das Telefonat verlief zunächst flüssig und unproblematisch. Der Schriftsteller hatte das Gefühl, dass es Christian gefiel, ein Statement zu „seinen“ Themen abzugeben: Belastungen auf der Flucht traumatisierter Kinder, aber auch Probleme deutscher Familien mit Flüchtlings­familien.

Zunehmend verfiel Philipp in einen vertrauten Plauder­ton, überlegte im Vorfeld nicht mehr jeden einzelnen Satz.

Zum Thema Belastungen in Familien rutschte ihm plötzlich heraus: „Ramona und du haben ja wohl früher auch einiges zusammen erlebt, was sie bis heute be­lastet.“

Von einem Augenblick zum andern kippte die Stimmung.

Christian wirkte in Alarmbereitschaft versetzt. Mit kühler Stimme fragte er: „Was meinst du damit?“

Philipp war völlig überrascht, hatte auf seine Bemerkung eine ganz andere Reaktion erwartet: „Eigentlich nichts Konkretes. Und nicht böse gemeint. Ramona hatte nur so eine Andeutung gemacht.“

Mein letzter Satz war schon wieder Scheiße!

„… als ich sie am Freitag zu Hause in Isernhagen-Süd besucht habe“, ergänzte Philipp. Christian durfte auf keinen Fall erfahren, dass Philipp die Äußerung von der betrunkenen Ramona aufgeschnappt hatte, nachdem sie gerade in Mardorf miteinander geschlafen hatten. „Also nichts für ungut. Vielleicht hab ich da was falsch verstanden.“

Christian ließ es dabei bewenden, aber die anfänglich lockere Atmosphäre des Telefonats stellte sich nicht wieder ein.

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