Der goldene Schlüssel

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Der goldene Schlüssel
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Tilman Spreckelsen

Der goldene Schlüssel

Zu Märchen

Essay

Mit Zeichnungen von Otto Ubbelohde

DÖRLEMANN

Für Christa und Kay Spreckelsen



eBook-Ausgabe 2020

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Dörlemann Verlag AG, Zürich

Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung eines Fotos von akiyoko/Shutterstock.com

Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-03820-963-8

www.doerlemann.com

Inhalt

  Cover

  Titelei und Impressum

  »Ich werde über Märchen sprechen…

  Die erste These: Im Märchen kommt jeder zu sich selbst

  Die zweite These: Es gibt im Märchen nichts umsonst

  Die dritte These: Im Märchen kommt man nie an ein Ende

  Zum Autor

  Zum Buch

»Ich werde über Märchen sprechen, obwohl ich weiß, dass ich mich schlecht gerüstet auf ein Abenteuer einlasse. Das Märchenland, das Reich der Feen und Elben, ist ein Land voller Fährnisse, wo Fallen den Unbedachten und Kerker den Tolldreisten erwarten. Und für tolldreist könnte auch ich gelten, denn zwar bin ich ein Liebhaber der Märchen, seit ich lesen kann, und habe zeitweise auch über sie nachgedacht, doch habe ich mich nicht wissenschaftlich mit ihnen befasst. Ich bin kaum mehr als ein neugieriger Reisender (oder Eindringling) in diesem Land gewesen, in dem es nicht an Wundern, doch an Auskünften mangelt.«

Diese Worte stammen von J. R. R. Tolkien, aber ich kann sie ebenfalls an den Anfang meines Textes stellen, und das, was die bescheidene Rüstung angeht, mit größerem Recht als damals der Philologe aus Oxford. Tolkien hielt seinen Vortrag »Über Märchen« 1939, in einer anderen Zeit also und im Zusammenhang einer anderen literaturkritischen Diskussion, aber auch vor dem Hintergrund einer anderen Tradition: Er bezieht sich in seinen Beispielen meist auf eine Sammlung von insgesamt zwölf Märchenbüchern mit höchst heterogenem Inhalt, die der schottische Autor Andrew Lang zwischen 1889 und 1910 publizierte, er wägt und prüft, erkennt einiges an und scheidet vieles aus: »Reine Tierfabeln« etwa, in denen »die Tiergestalt nur Maske über dem menschlichen Antlitz ist«, gehören für Tolkien nicht in das Corpus der Märchen. Ebenfalls keine Gnade finden jene Wunderreisegeschichten, in denen einer aufbricht wie Gulliver, um in einer entlegenen Ecke unserer realen, sterblichen Welt etwas ganz Ungewohntes zu finden: Riesen, Zwerge, sprechende Tiere zwar, aber im Prinzip doch den Gesetzen unterworfen, denen auch wir unterworfen sind.

Was aber lässt Tolkien gelten? Was macht für ihn das genuine Märchen aus?

Märchen, sagt Tolkien, befriedigen die Wünsche derer, die sie hören oder lesen: Sie wollen »die Tiefen von Raum und Zeit erkunden«, denn Märchen »stoßen eine Tür in die andere Zeit auf, und wenn wir über die Schwelle treten, und sei es nur für einen Augenblick, stehen wir außerhalb unserer Zeit, vielleicht außerhalb der Zeit überhaupt.« Wer Märchen liest, wünscht sich die »Zwiesprache mit anderen Lebewesen, mit Tieren oder Pflanzen«, er findet »Wiederherstellung, Trost und Fluchtgelegenheiten«, heißt es weiter in Tolkiens Vortrag, und besonders das letzte dieser Versprechen, das Eröffnen von »Fluchtgelegenheiten« also, zielt auf einen bis heute an Märchen so gut wie an die literarische Fantasy gern gerichteten Vorwurf: Beides leiste dem Eskapismus der Leser oder Hörer Vorschub; wer sich mit Märchen oder mit Büchern wie Tolkiens Der Herr der Ringe beschäftige, gebe sich einer Weltflucht hin und weiche so unserer Realität aus, zu seinem Schaden und letztlich auch zum Schaden der Welt, vor der er flieht und die er, indem er in ihr Geschehen nicht eingreift, auch nicht zu einer besseren macht.

Natürlich kennt Tolkien diese Vorwürfe, die in seiner Zeit, als die literarische Phantastik noch mit größerem Misstrauen beäugt wurde als in unserer, umso rigider geäußert wurden – dass sich das mittlerweile geändert hat, ist nicht zuletzt Tolkiens eigenem literarischen Schaffen geschuldet. Aber auch in der Betrachtung von Märchendichtung spielt die Frage nach deren Verhältnis zur Realität eine gewichtige Rolle – in Tolkiens Vortrag von 1939 ebenso wie in der Zeit seither bis heute, und womöglich mehr denn je. Die Antworten darauf fallen unterschiedlich aus, je nachdem, ob sie historisch, literaturwissenschaftlich oder rezeptionsästhetisch argumentieren, und wer wie Tolkien im eingangs erwähnten Zitat das »Märchenland« als einen Bereich ansieht, den man »als neugieriger Reisender (oder Eindringling)« tatsächlich betreten kann, der wird naturgemäß anders antworten als ein Skeptiker dieses Konzepts.

Wenn ich nun drei Thesen zum Märchen zur Diskussion stelle – es müssen natürlich drei sein, und die jüngste These kriegt am Ende die Prinzessin und das Königreich –, dann ist auch mit ihnen die Frage zum Verhältnis von Märchendichtung und Realität eng verwoben.

Die Thesen lauten:

Im Märchen kommt jeder zu sich selbst

Im Märchen wird für alles bezahlt

Im Märchen kommt man nie an ein Ende

Zuvor aber möchte ich einen Blick auf eine besondere historische Situation und eine Reihe besonderer Menschen werfen, die das wesentlich geprägt haben, was wir meinen, wenn wir heute von Märchen sprechen.

Wenn ein Gemälde »Kurfürst Wilhelm der Erste durchfährt das Wilhelmshöher Tor« heißt, dann kann man sich ganz gut vorstellen, was darauf zu sehen ist. Tatsächlich sieht man auf besagtem Bild einen Reiterzug, der sich von links nach rechts bewegt, eine Kutsche, in der man sich den hessischen Kurfürsten vorstellen mag, vor allem aber einen klotzigen Bau im Hintergrund, der ein Säulenportal der Allee zuwendet, auf der die Kutsche rollt.

Wenn man nun ganz genau hinschaut, erblickt man auf dem flachen Dach über den Säulen zwei Gestalten, die das Geschehen beobachten. Es sind Jacob und Wilhelm Grimm, die damals den zweiten Stock bewohnten. Um auf jenes Dach zu gelangen, mussten sie aus dem Fenster klettern. Das taten sie oft, besonders bei schönem Wetter – einmal notierte Wilhelm Grimm: »Nachts noch auf der Althane geseßen, die Lindenblüthen erfüllten die ganze Luft.« Jedenfalls muss der Blick einmalig gewesen sein: Links fing hinter dem Wilhelmshöher Tor die aufblühende Residenzstadt Kassel an, nach rechts schweifte der Blick über die fast noch häuserlose Straße, die heute dicht bebaut ist und »Wilhelmshöher Allee« heißt. Schnurgerade führt sie als kilometerlange Blickachse zum Schloss im Bergpark, und etwas weiter weg kann man mit etwas Glück sogar den Turm der Löwenburg entdecken.

Auch abgesehen von dem Ausguck war die Wohnung im nördlichen Torwächterhaus nicht ohne Reiz. Jacob und Wilhelm lebten darin in enger Lebens- und Arbeitsgemeinschaft seit dem Jahr 1814 in fünf Zimmern. Hier entstanden Werke wie die Deutschen Sagen, der erste Teil der Deutschen Grammatik (beide stammen von Jacob Grimm) und vor allem die wesentlich veränderte zweite Auflage der Kinder- und Hausmärchen von 1819, bei der Wilhelm Grimm das Lektorat übernahm und mit seiner entschlossenen Überarbeitung die Grundlage für den Welterfolg der Sammlung schuf. Ein weiterer Bruder Grimm, der Maler Ludwig Emil, der sich ganz in der Nähe eine Wohnung gemietet hatte, hielt das Treiben im Wächterhaus in zahlreichen Bildern und Skizzen fest, darunter auch die Kutschfahrt des Kurfürsten im Jahr 1820.

Ein knappes Jahr später rollte die Kutsche dann in die andere Richtung, und der Kurfürst war damals schon nicht mehr unter den Lebenden – es war sein Leichenzug, der am 13. März 1821 kurz vor Mitternacht von der Residenzstadt in den Park unterwegs war.

Wieder waren Jacob und Wilhelm Grimm unter den vielen, die den Zug beobachteten, wieder erwies sich der Ausguck auf dem Vordach als günstiger Ort dafür. Sie waren Zeuge, als das gewaltige Gefolge, die insgesamt fünf Kutschen plus Leichenwagen, die Reitknechte mit Fackeln vor und nach den Wagen, die Husaren und alles, was der Hof an Würdenträgern zu bieten hatte, den Weg zum Schloss einschlugen. Der Junker Christian von Eschwege hatte die Ehre, in schwarzer Rüstung auf einem ebenfalls schwarzgewappneten Pferd den Trauerzug anzuführen. Er war 28 Jahre alt, seine Familie galt etwas in Hessen, und wahrscheinlich schwitzte er nicht nur wegen seines schweren Harnischs. Seinem toten Herrn hätte der ritterliche Anblick jedenfalls gefallen.

Was aber dachten sich Jacob und Wilhelm Grimm? Ohne den bauwütigen Monarchen, das wussten sie, gäbe es weder das Schloss im Park noch die Löwenburg, vom Tor und seinen Wächterhäusern, von ihrer Wohnung also ganz zu schweigen. Beide Brüder hatten ihm als Bibliothekare gedient, und schon der elfjährige Jacob hatte ihn nach dem Tod des Vaters, den Ruin der Familie vor Augen, über eine Verwandte um Unterstützung gebeten. Die letzte Begegnung aber an diesem Frühlingsabend ist auch die zwischen einem hoffnungslos rückwärtsgewandten Autokraten und zwei Forschern, Sammlern und Erzählern, die schon dabei waren, die Grundlagen für ein halbes Dutzend wissenschaftlicher Disziplinen unserer Zeit zu legen.

 

Angefangen hat das in Hanau, sowohl für den damaligen Erbprinzen Wilhelm, den sein Vater schon früh aus Kassel hierher abgeschoben hatte, wie auch für die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, geboren 1785 und 1786 in Hanau, Jacob also im selben Jahr, in dem der hessische Prinz aus der Stadt abreiste, um nach dem Tod seines Vaters in Kassel den Thron zu besteigen. Hier aber hinterließ er Spuren, die bis heute sichtbar geblieben sind: Natürlich die hinreißende Anlage Wilhelmsbad, dann aber die künstliche Burgruine auf einer ebenso künstlichen Insel, von außen wildromantisch, von innen so bequem, wie es sich ein Fürst jener Zeit nur bereiten konnte. Zugleich zeigte Wilhelm dynastischen Sinn: Sein Hofmaler Anton Wilhelm Tischbein malte insgesamt 16 Porträts von Wilhelms Vorfahren, die im Inneren der Ruine angebracht wurden.

Wilhelm also verließ Hanau, gefolgt von den Brüdern Grimm, und was er hier gelernt hatte, setzte er in Kassel fort, indem er im Bergpark die Löwenburg errichten ließ: Aus Tuffstein, der so wunderbar schnell verwittert, entstand ein Gebäude mit Marstall, Rüstkammer und Kirche, und auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes geht es dann um die Bequemlichkeit des Fürsten und seiner Mätresse links und rechts des mächtigen Bergfrieds, der schon fast zu malerisch an einen Abhang gesetzt wurde. Die Anlage umgibt auf drei Seiten ein Wassergraben und eine niedrige Mauer; im Norden liegt ihr ein Irrgarten gegenüber, im Süden ein fragmentarischer Turnierplatz mit Zuschauertribüne. Auch diese Burg trägt – wie ihr Pendant im Hanauer Wilhelmsbad – pseudomittelalterliche Züge und dient der Bequemlichkeit ihres Besitzers. Sie ist die fiktive hessische Stammburg, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat, sie ist ebenso hübsch wie militärisch komplett sinnlos, kurz: Sie ist die Spielzeugburg eines erwachsenen Mannes, der sich bis zum letzten Atemzug und drüber hinaus als Ritter inszenierte, unbekümmert um Authentizität – selbst die Bücher im großen Rittersaal waren hölzerne Attrappen. Und wie immer, wenn große Herren träumen, zahlen andere die Zeche, in diesem Fall Wilhelms Untertanen, die er, dem schlechten Beispiel seines Vaters folgend, im großen Stil als Soldaten verkaufte.


Cassel. Löwenburg

Ein paar Jahre kam er damit durch. Weil er sich aber nicht schnell genug Napoleon in die Arme geworfen hatte, musste er von 1806 an aus der Ferne zusehen, wie dessen Bruder Jérôme von Kassel aus das neugeschaffene Königreich Westfalen regierte, nach Maximen, die dem bekannt konservativen Wilhelm zutiefst zuwider waren: Plötzlich wurde aus der Residenz eines der reaktionärsten deutschen Fürsten ein moderner Staat, der seinen Bürgern den »Code Civil« und einheitliche Maße und Gewichte bescherte, der keine Leibeigenschaft kannte und vom Zopfzwang bei Hof und Militär nichts wissen wollte. Als Wilhelm 1813 dann wieder in Kassel einzog und missbilligend all die Neuerungen in Augenschein nahm (die er bald genug wieder einkassierte), sei ihm, berichtet Karl Immermann in seinem satirischen Roman Münchhausen, sein alter Bediensteter Piepmeyer entgegengesprungen. Er hätte »jubelnd seinen durch alle Verführungen der Fremdherrschaft hindurch geretteten Zopf geschwungen und gerufen: ›Durchlaucht! Durchlaucht! Meiner sitzt noch!‹, was dem alten Herrn die erste wahre Regentenfreude in seinen Staaten bereitet haben soll«.

Jener brave Piepmeyer ist freilich nicht irgendein Angestellter, sondern der Kastellan der Löwenburg. Und sein Herr war wegen seiner rückwärtsgewandten Gesinnung als Gespenst schon zu Lebzeiten verspottet worden, wenigstens, wenn man wiederum Immermanns Münchhausen glaubt: Während der Verbannung aus Kassel sei der Kurfürst auf der Löwenburg umgegangen, berichtet einer der Söhne des Kastellans Piepmeyer, und zwar jedesmal an seinem Geburstag. »An diesem Tage war es von frühmorgens an schon immer unruhig droben, es tat sich ein Schwirren in den seidenen Gardinen hervor, die Gardinenbetten knackten, die Harnische in der Rüstkammer rasselten, der Wetterhahn auf dem Turme hat unaufhörlich mit den Flügeln geschlagen. Schon als Knaben bemerkten wir all dieses und noch mehreres, aber wir achteten dessen nicht, bis uns der Vater beiseite nahm und uns das Burggeheimnis entdeckte, welches in nichts anderem bestand, als dass der Kurfürst, wiewohl weit entfernt im böhmischen Lande, dennoch auf seiner Burg seinen Geburtstag feiere.«

In dieser Zeit diente Jacob Grimm, der zuvor in Kurfürst Wilhelms Diensten gestanden hatte, ausgerechnet jenem Jérôme, dem berüchtigten »König Lustik«, und war dann später wiederum für Kurhessen in Paris, um dafür zu sorgen, dass die geraubten Kunstschätze restituiert wurden, was leider nur teilweise gelang.

Vor allem aber trafen Jacob und Wilhelm Grimm im Jahr 1813 in Kassel mit einer Frau zusammen, die entscheidenden Einfluss auf ihre entstehende Märchensammlung ausübte. In der Vorrede der Ausgabe von 1819 heißt es, die Brüder hätten »aus dem bei Cassel gelegenen Dorfe Nieder-Zwehrn eine Bäuerin« kennengelernt, »die uns die meisten und schönsten Märchen des zweiten Bandes erzählte. Diese Frau, Namens Viehmännin, war noch rüstig, und nicht viel über fünfzig Jahre alt. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Festes, Verständiges und Angenehmes, und aus großen Augen blickte sie hell und scharf. Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtniß, eine Gabe, die, wie sie wohl sagte, nicht jedem verliehen sey, und mancher gar nichts im Zusammenhange behalten könne. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte. Manches ist auf diese Weise wörtlich beibehalten, und wird in seiner Wahrheit nicht zu verkennen seyn. Wer an leichte Verfälschung der Ueberlieferung, Nachlässigkeit bei Aufbewahrung, und daher an Unmöglichkeit langer Dauer als Regel glaubt, der hätte hören müssen, wie genau sie immer bei der Erzählung blieb.«

Genau dieser Punkt war es, der die gelehrten Brüder faszinierte: Die »Möglichkeit langer Dauer«, das Versprechen also, in den mündlich tradierten Geschichten der Dorothea Viehmann einen Blick in lang zurückliegende Zeiten zu erhaschen, in eine Kultur, die zuvor nie schriftlich festgehalten wurde, die es zu bewahren galt und die unverfälscht nur in einer traditionellen, ländlichen Gesellschaft zu finden sei. Denn, so heißt es in der Vorrede: »Die Anhänglichkeit an das Überlieferte ist bei Menschen, die in gleicher Lebensart unabänderlich fortgefahren, stärker, als wir, zur Veränderung geneigt, begreifen.«

Das ist schön gesagt. Dorothea Viehmann erscheint in diesem Licht geradewegs als die Antwort auf die zentrale Fragestellung der Brüder Grimm im Kontext ihrer Tätigkeit als Märchensammler – und wahrscheinlich sogar weit darüber hinaus.

Nicht nur, weil sie ihnen tatsächlich Märchen erzählte, die wir heute noch als elementar für die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm ansehen: »Die Gänsemagd«, »Die kluge Bauerstochter«, »Hans mein Igel, »Der getreue Johannes«, »Die kluge Else«, »Sechse kommen durch die ganze Welt« oder »Die drei Federn«. Was das für ein Ton ist, der in diesen Märchen klingt, was für Bilder werden vor unsere Augen gerufen, was für Abgründe tun sich darin auf! Nehmen wir nur »Die drei Federn«: Es erzählt von einem alten König, der seine Nachfolge regeln will. Er schickt seine drei Söhne aus und verspricht demjenigen die Krone, der ihm den schönsten Teppich bringt. Die beiden Älteren strengen sich nicht groß an, weil sie dem dritten, dem Jüngsten, nichts zutrauen. Der gerät aber in einen dunklen Keller, klopft dort an eine Tür und hört dahinter folgenden Spruch:

Jungfer, grün und klein,

Hutzelbein,

Hutzelbeins Hündchen,

Hutzel hin und her,

Laß geschwind sehen,

Wer draußen wär.

Die »Jungfer, grün und klein« entpuppt sich als Kröte, die dem Königssohn dann einen herrlichen Teppich verschafft, ganz klar den besten weit und breit. Doch die Brüder wollen sich nicht geschlagen geben und verlangen noch eine Probe, die der Jüngste ebenfalls besteht, und schließlich noch eine dritte, eine letzte: König soll werden, wer die schönste Braut herbeischafft. Der jüngste Prinz geht wieder in den Keller zu der Kröte, und die sagt zu ihm, er möge sich eine von ihren kleinen Kröten aussuchen. »Da griff er auf Geratewohl eine aus dem Kreis«, heißt es nun, und die wird nun »zu einem wunderschönen Fräulein«. Der Prinz küsst sie, bringt sie zum König und hat natürlich gewonnen.


Die drei Federn

Und dann? Üblich wäre jetzt eine Erklärung. Etwa so: »Mein lieber Prinz, ich bin eine verzauberte Prinzessin und musste so lange in Krötengestalt ausharren, bis jemand käme, um mich zu erlösen.« Der Keller, die große Kröte, die kleine Kröte, alles nur ein schrecklicher Zauber, aber jetzt ist alles gut, das Tier-Sein ist Vergangenheit, und sie lebten glücklich bis an ihr Ende. Vorhang.

Mit so etwas darf man im Märchen rechnen – auch in den Märchen der Brüder Grimm, etwa im »Froschkönig«. Hier, in »Die drei Federn«, geht die Sache aber anders aus. Die geschlagenen Brüder nämlich, die jeder eine Bauernmagd aus dem nächsten Dorf angeschleppt haben, bestehen auf einen vierten Wettkampf. Derjenige soll König werden, »dessen Frau durch einen Ring springen könnte, der da mitten im Saal hing.« Nur dass ihre Frauen dann doch daran scheitern. Die Braut des Jüngsten aber sprang »so leicht hindurch wie ein Reh«, heißt es im Märchen. Man könnte auch sagen: wie eine Kröte. Dann wird der jüngste Prinz König, die Geschichte ist aus, aber wir Zuhörer können uns leicht ausmalen, wie der neue König nachts nicht schlafen kann, neben seiner schönen jungen Frau liegt, die selig schlummert, den Ellbogen aufgestützt und die Augen forschend auf ihr Gesicht gerichtet. Wer ist das, den ich da geheiratet habe, wird er sich fragen. Oder vielleicht eher: Was ist das? Kröte? Mensch? Irgendwas dazwischen?

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