Veyron Swift und der Schattenkönig

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Из серии: Veyron Swift #3
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Sein Kollege hörte derweil angespannt zu, was man ihm zu sagen hatte. Schließlich atmete er erleichtert aus. »Alles klar, Mr. Uxbridge. Ich schicke die Leute rauf«, sagte er zu seinem unsichtbaren Gesprächspartner. Dann wandte er sich an Miss Sikes. »Falscher Alarm, Mandy. Mit diesen Gentlemen ist alles in Ordnung. Sie sind hier, um Mr. Uxbridge zu treffen.«

Mandy Sikes wirkte sichtlich erleichtert, sie loszuwerden. Die beiden Sicherheitsmänner geleiteten sie zum Lift und erklärten ihnen – ausgesucht höflich auf einmal –, wohin sie fahren müssten. Dann wandten sie sich ab.

Tom betrat hinter Veyron den Lift. Hunter drückte die Taste für den 28. Stock; Danny schaute neugierig umher.

Nachdem sie wieder unter sich waren, wandte sich Tom an seinen Paten. »Sie kannten diese Miss Sikes also? Was hatte sie mit dem Supersonic-Vorfall zu tun?«

»Prinzipiell gar nichts. Ich habe mich nur an ihren Namen und ihre Stimme erinnert. Ich hatte sie am Telefon, als ich damals unsere Sitzplätze gebucht habe – nach dem kleinen Trick, an den du dich vielleicht noch erinnerst.«

»Sie erinnern sich an die Stimme und den Namen einer Frau, mit der sie nur ein einziges Mal zwei Minuten am Telefon gesprochen haben? Nach fast zwei Jahren?«, mischte sich Hunter mit deutlich hörbarem Unglauben ein.

Veyron drehte sich zu ihr um. »Selbstverständlich«, sagte er und schaute sie an, als wäre es das Normalste auf der ganzen Welt.

Danny lachte laut auf. »Klasse! Sie sind echt ’ne Marke!«

Tom grinste und wünschte, Hunter könnte ihr eigenes, vollkommen perplexes Gesicht sehen.

Kurz darauf standen sie vor der Bürotür von Mr. Kevin Uxbridge. Die Vorzimmerdame ließ sie eintreten und meldete ihre Ankunft.

Kevin Uxbridge, ein hagerer Mann mit rotblondem Schopf und großen grünen Augen, hieß sie mit überschwänglicher Freundlichkeit willkommen.

»Endlich, endlich, endlich! Ich habe ja schon viel von Ihren Unternehmungen gehört, Mr. Swift. Von dem Vorfall mit den Vampiren von Surrey zum Beispiel, oder diese Sache mit dem Troll von Notting Hill. Mann, Mann, Mann! Endlich lerne ich Sie einmal persönlich kennen«, rief er begeistert und schüttelte Veyrons Hand kräftig und anhaltend.

Tom musste schmunzeln, als er den leicht verstörten Gesichtsausdruck seines Paten bemerkte. Veyron betrachtete seine Fälle und ihre Lösungen stets mit distanzierter Nüchternheit und machte aus ihnen nie eine große Sache.

»Ihre Begeisterung ehrt mich, Mr. Uxbridge, aber wir sind wegen ernster Angelegenheiten hier. Wir brauchen dringend einen sicheren Weg nach Elderwelt. Ich weiß, dass die Ramer-Stiftung über mehr als einen Durchgang dorthin verfügt«, versuchte Veyron mit erhobener Stimme zur Sache zu kommen.

Uxbridges glühende Begeisterung ließ sich jedoch kaum bremsen. »Aber klar, aber klar, aber klar. Kein Problem. Ich habe bereits mit Mr. Farin Nachrichten ausgetauscht und die Erlaubnis erhalten, Sie rüberzuschicken. Sie wissen ja gar nicht, wie aufregend diese Sache für mich ist. Der König zählt Sie zu seinen engsten Freunden, wissen Sie? Das ist etwas, das nur ganz wenige Menschen dieser Seite des Unsichtbaren Vorhangs von sich behaupten können. Seit zehn Jahren hat Seine Majestät diesen Teil der Welt nicht mehr besucht und lässt auch niemanden hinüber. Leider. Dass man Ihnen diese Erlaubnis gewährt, dürfen Sie als ausgesprochene Ehre ansehen«, plapperte der Mann drauflos.

Veyron stand, wie Tom mutmaßte, kurz davor, die Augen zu verdrehen, aber er beließ es bei einem geschäftsmäßigen Lächeln.

Uxbridge erklärte seiner Vorzimmerdame, dass er die Gäste nach ›unten‹ bringen würde, und dann verließen sie geschlossen das Büro. Hunter wollte schon den Weg zurück zum Aufzug einschlagen, als sie Uxbridge an der Schulter fasste und in eine andere Richtung drehte. »Nein, nein, nein. Nicht diese Aufzüge. Die gehen nur hinunter in die Lobby und die Tiefgarage. Wir müssen noch ein paar Stockwerke tiefer, wissen Sie? Wir nehmen die gesperrten Lifte. Das ist alles so aufregend! Ich habe erst vor ein paar Minuten den Schlüssel dafür von Mr. Farin erhalten. Normalerweise werden diese Lifte nie benutzt, wissen Sie?«, erklärte er und führte sie den Korridor hinunter. Dabei kamen sie an zahlreichen Bürotüren vorbei, die nicht beschildert waren. Dieser Teil des Wolkenkratzers stand offensichtlich leer.

»Ich verstehe immer noch nicht, wie wir hinüber nach Elderwelt gelangen sollen«, sagte Hunter halblaut.

Uxbridge in seiner grenzenlosen Euphorie setzte zu einer Erklärung an, doch Tom unterbrach ihn sofort. »Nein, sagen Sie es ihr nicht!«

»Nur zu, Uxbridge«, widersprach Veyron, »erklären Sie es ihr. Miss Hunter genießt unser volles Vertrauen. Sie darf ruhig in das Geheimnis eingeweiht werden.«

Tom hielt diese Auffassung seines Paten für sehr leichtfertig.

Uxbridge zwinkerte seine leichte Verwirrung fort. »Ja, warum auch nicht? Also, vor vielen Jahrtausenden gab es einen Orden mächtiger Zauberer, die Illauri. Sie haben eine Trennwand zwischen unserer Welt und Elderwelt geschaffen, um die mystischen Länder und ihre ebenso mystischen Bewohner vor der Zerstörungswut der Menschen zu beschützen. Eigentlich ist es keine richtige Trennwand, sondern eine Art Verschiebung des … Ach, das ist viel zu kompliziert, das versteht sowieso niemand, der nicht mindestens Quantenphysik studiert hat. Und selbst da kommen die hellsten Köpfe der Erde auf keine endgültig schlüssige Theorie, das können Sie mir glauben. Die Könige Talassairs setzen schon seit achtzig Jahren die besten Wissenschaftler darauf an, doch niemand konnte es bisher erklären. Auf jeden Fall müssen Sie sich das so vorstellen, dass nichts diesen Vorhang durchbrechen kann. Elderwelt ist hier, mitten unter uns, und doch können wir es nicht sehen, kein Satellit kann es aufspüren. Dieser Vorhang ist undurchdringlich, selbst für Licht, Schall und sogar Strahlung. Einfach alles wird darum herumgeleitet. Die Illauri wollten jedoch die Möglichkeit eines gegenseitigen Besuchs aufrecht halten. Darum haben sie überall auf der Erde Durchgänge errichtet, getarnt als Torbögen aus Fels, oder Bäume, die wie Torbögen miteinander verwachsen sind. Ein paar Durchgänge hat die Ramer-Stiftung über die Jahre identifizieren können und nutzt sie seither für den Technologietransfer zwischen hier und Talassair. Wir haben sogar einen Durchgang hier, mitten im Haus – nun ja, nicht direkt mitten im Haus, viel eher unter dem Haus«, erklärte Uxbridge und lachte plötzlich hell auf.

Tom kannte diese Erklärungen inzwischen zur Genüge, darum hörte er gar nicht richtig hin. Gelangweilt schaute er sich die vielen Bürotüren an und versuchte zu begreifen, warum hier eigentlich niemand arbeitete. Gerade wollte er Uxbridge danach fragen, als ihm an der nächsten Korridorkreuzung eine Bewegung auffiel. Ein Schatten, der zur Seite huschte – er sah ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde. Tom blieb stehen und schaute genauer hin, doch der Korridor war leer. Wohl nur eine Einbildung, vielleicht auch nur ihr eigener Schatten, von der Deckenbeleuchtung in eine andere Richtung geworfen. Er zuckte mit der Schulter und ging weiter. Ein paar Schritte weiter überlief ihn Gänsehaut. Seit er die Bewegung wahrgenommen hatte, schien es immer kühler zu werden. Mit einem Mal hatte er das unangenehme Gefühl, als würde ihn jemand beobachten. Er fuhr herum, und da sah er ihn, hoch aufragend, fast bis zur Decke des Korridors, schwarz gekleidet wie der leibhaftige Tod: der Schattenkönig. Seine fahlen Augen leuchteten unter der Kapuze hervor, und ein Teil seines Kinns war zu sehen, die dunkelgraue Haut erschien Tom wie uraltes, vertrocknetes Leder, über die Knochen gespannt.

»Veyron! Er ist hier!«, schrie Tom und fasste sich an den Gürtel. Das Daring-Schwert war nach ihrem Sturz in den Paddington-Branch verschwunden, doch Tom spürte die unsichtbare Präsenz an seiner Hüfte. Er brauchte nur zuzugreifen, und es wäre es wieder da.

Alle fuhren herum, doch da war der Schattenkönig auch schon wieder verschwunden, eingetaucht in den Schatten der gegenüberliegenden Wand. Als wäre er nie da gewesen.

»Bist du sicher, dass es keine Einbildung war?«, fragte Veyron.

Tom nickte aufgeregt. »Er stand genau da. Er hat uns gefunden!«

»Das war zu erwarten. Der Schattenkönig kann nicht durch feste Wände teleportieren, aber sehr wohl durch Glas. Und davon gibt es in diesem Gebäude mehr als genug«, sagte Veyron. »Wo ist dieser Aufzug?«

Uxbridge deutete vage voraus. Er wirkte sehr verunsichert.

Ohne zu zögern, rannten Veyron und Tom los, gefolgt von Hunter und Darrow.

»Moment, Moment, Moment! Ich wusste ja nicht, dass Sie es so eilig haben«, rief ihnen Uxbridge hinterher und beeilte sich, zu ihnen aufzuschließen.

Als sie die Aufzugtür erreichten, materialisierte der Schattenkönig vor ihnen am Ende des Korridors, wo es am dunkelsten war. Finster starrte er in ihre Richtung, doch er rührte sich nicht, stand einfach nur da und beobachtete sie. Jetzt sahen ihn auch Uxbridge und die anderen.

»Heilige Muttergottes, was ist das?«, keuchte der Manager der Ramer-Stiftung. Er zitterte so sehr, dass er kaum die Schlüssel für den Lift aus seiner Hosentasche bekam.

Der Schattenkönig neigte ein wenig den Kopf und flüsterte unverständliche Worte. Es wurde immer kälter; Toms Nackenhaare stellten sich auf. Dunkler Zauber lag in der Luft.

Anstatt den Schlüssel in das Türschloss zu stecken, drehte sich Uxbridge um und streckte die Hand in Richtung des Schattenkönigs aus. Da erkannte Tom, dass Uxbridge verhext sein musste. Er war nicht mehr Herr seiner Sinne; der Schattenkönig befahl über seinen Körper. Auch Tom vermochte sich nicht von der Stelle zu rühren, ebenso wenig Veyron oder Hunter. Allein auf Danny Darrow schien die Magie des Schattenkönigs nicht zu wirken. Keuchend trat er einen Schritt vor, entwand Uxbridge den Schlüssel und sperrte den Lift auf.

 

Im gleichen Augenblick fiel der Lähmungszauber von ihnen allen ab. So schnell sie konnten, drängten sie in die Fahrstuhlkabine. Der Schattenkönig schien einen kurzen Moment überrascht, doch dann griff er an. Mit langen Schritten hielt er auf sie zu. In seiner Rechten manifestierte sich wie aus dem Nichts sein Schwert, eine lange, zweischneidige Klinge mit vielen Scharten und schwarz wie die Nacht. Die Lifttüren schoben sich endlich zu; für Toms Geschmack viel zu langsam. Der Schattenkönig war fast da – schon holte er zum Hieb aus. Tom schloss die Augen.

Endlich rauschte die Kabine in die Tiefe.

Uxbridge hatte Mühe mit der Atmung, er keuchte entsetzlich und schlotterte am ganzen Körper. Auch Hunter war leichenblass, und Tom war entsetzlich kalt. Er rieb sich die Arme, ohne dass er dadurch das Gefühl des Grauens abzuschütteln vermochte. Nur Veyron und Danny schienen keine Nachwirkungen dieser Begegnung davongetragen zu haben – wobei sich sein Pate vielleicht auch einfach nur nichts anmerken ließ.

»Die Lage ist ernst«, sagte Veyron überflüssigerweise. »Sehr ernst sogar, wenn sich der Schattenkönig am helllichten Tage mitten in einem Gebäude zeigt, in dem Hunderte Menschen arbeiten.«

»Wie macht er das, dieses plötzliche Auftauchen?«, wollte Danny wissen.

»Er teleportiert. Es ist ein uralter, dunkler Zauber. Zum Glück sind ihm ein paar Grenzen auferlegt. Er kann nur in der Luft teleportieren, nicht durch feste Materie hindurch und auch nicht durch Wasser. Sehr wohl jedoch durch Glas oder andere durchlässige Materialien. Er scheint dabei allerdings auf Schatten angewiesen zu sein, ein Teil seines Zaubers. Die Absenkung der unmittelbaren Umgebungstemperatur gehört ebenfalls dazu, und das haben wir eben wohl alle gespürt. Ich erzählte bereits, dass ich schon einmal mit diesem Dämon zu tun hatte. Wir dürfen ihn keinesfalls unterschätzen und uns unter gar keinen Umständen auf einen Kampf mit ihm einlassen«, erklärte Veyron finster.

Tom bemerkte den verbissenen Gesichtsausdruck seines Paten, als müsste der mühsam um Kontrolle ringen. Das hatte es noch nie gegeben: Veyron Swift fürchtete sich vor einem Gegner. Toms Sorge wuchs. Hatten sie es diesmal vielleicht mit jemandem zu tun, der ihnen haushoch überlegen war? Die Wände des Fahrstuhls kamen ihm auf einmal wie ein Gefängnis vor, er glaubte zu ersticken. Fast hätte er geschrien: ›Ich will raus! Raus aus dem Lift und aus dieser Sache!‹

Doch dann dachte er an Jane, wie sie im künstlichen Koma auf dem Krankenbett lag, hilflos, während ihr Körper gegen ein tödliches Gift rang. Nein, sie hatten keine Wahl, als dem Schattenkönig zu trotzen, und durften sich dabei nicht ihrer Furcht ergeben. Wie sagte Veyron immer? ›Gefühle dürfen dein Tun nicht beeinflussen.‹ Tom war felsenfest entschlossen, sich das zu eigen zu machen.

»Mein Koffer! Ich hab meinen Koffer vergessen«, rief Hunter plötzlich.

Veyron schmunzelte. »Keine Sorge«, sagte er. »In Elderwelt werden Ihnen weder Ihre Funkpeilsender noch die Abhörgeräte, geschweige denn die Waffen und die ganzen anderen Spionagesachen weiterhelfen. Ersatzkleidung erhalten wir sicher auch so.«

Hunter verzog missbilligend das Gesicht, weil Veyron den Inhalt ihres Köfferchens offensichtlich genau aufzulisten wusste. Tom hingegen war einigermaßen erleichtert und – zugegeben – auch ein wenig schadenfroh.

Der Lift hielt an, und die Tür schob sich leise zischend zur Seite. Kein Vergleich zu den noblen, hellen Korridoren der Obergeschosse – sie standen vor der Mündung eines dunklen, halbrunden Tunnels. Tom sah im Schein der Fahrstuhlbeleuchtung stählerne Schienen am Boden schimmern.

»Wir sind im Netz der Underground gelandet«, glaubte er zu erkennen.

Uxbridge, der sich inzwischen wieder etwas gefangen hatte, wusste ein paar Erklärungen. »Ja, Tennyson Road Station, im Ersten Weltkrieg geplant, aber erst 1920 angegangen, direkt am Ufer der Themse. Die Tunnelgräber sind jedoch auf etwas gestoßen, das die Bauarbeiten aufgehalten hat. Als klar wurde, was sie da gefunden hatten, kaufte Julian Ramer der Stadt das ganze Areal einfach ab. Er ließ die Tunnel fertigstellen und Schienen verlegen, um keinen Verdacht zu wecken. Der Bahnhof wurde jedoch nie eröffnet«, erklärte er und drückte einen Schalter an der Seitenwand. An der Tunneldecke sprangen Lampen an, die ein spärliches Licht in die Dunkelheit warfen.

»Eine Sackgasse«, stellte Veyron fest.

Uxbridge nickte. »Die Stadtverwaltung beschloss – auf Drängen Ramers und mit ein klein wenig Bestechung –, die Tennyson Road Station aufzugeben, und ließ die Zufahrt zumauern. Dieser Tunnel führt ins Nichts. Naja, zumindest fast«, gab er zurück.

Sie gingen ein paar Meter in den Gang hinein, als Tom auch schon ihr Ziel ausmachen konnte. Dreißig Meter vor ihnen stand ein Torbogen aus Felsgestein, im gleichen Durchmesser wie der Tunnel. Hinter ihm lag die zugemauerte Verbindung zum Undergroundnetzwerk der Stadt.

Uxbridge seufzte, als er den Torbogen musterte. »Zu schade, zu schade, zu schade. Ich wäre gern mit Ihnen mitgegangen, aber leider ist es mir verboten. Es braucht die Sondergenehmigung des Königs, um nach Talassair zu reisen. Die haben nur Sie, Mr. Swift, und ihre kleine Reisegruppe. Bestellen Sie dem König meine Grüße«, sagte er und schüttelte Veyrons Hand mit neu gewonnener Überschwänglichkeit.

Tom wollte sich ebenfalls verabschieden, als ihn plötzlich ein Eishauch streifte. Er wusste genau, was das bedeutete. »Er ist wieder da!«, rief er.

Und tatsächlich: Mitten in der Liftkabine materialisierte er, der Schattenkönig. Wie konnte das sein? Hatte Veyron nicht gesagt …? Da dämmerte es Tom. Der Dämon musste in den Schatten eines von ihnen eingetaucht und unsichtbar für alle mit hinunter in den Schacht gefahren sein. Jetzt gab er sich zu erkennen, hatte er doch seine Feinde hoffnungslos in der Falle.

Er starrte direkt auf Tom, und dieser konnte nicht anders, als den Blick dieses Ungeheuers zu erwidern. Diese Augen waren wie schwarze Tümpel, in die man hineinstürzte und niemals wieder herauskam. Ein Rest seines Bewusstseins begriff, dass er verhext wurde, von dunkler Magie an Ort und Stelle festgehalten. Er hörte die Rufe von Hunter, von Veyron und von Uxbridge. Jemand packte ihn an der Schulter und riss ihn um. Es war Veyron. Er hob Tom einfach auf und rannte mit ihm Richtung Portal. Sofort spürte er die Magie des Schattenkönigs nachlassen. Tom blinzelte, sah Danny zu seiner Rechten und Hunter vor ihnen laufen. Wo war Uxbridge? Er blickte an Veyrons Oberarm vorbei zurück und sah den Manager dem Schattenkönig entgegenlaufen. So viel Angst der Mann zuvor gezeigt hatte, jetzt – angesichts der aussichtslosen Lage – ging er mit dem Mut der Verzweiflung auf den Feind los.

»Für den König! Für die Freiheit Talassairs«, brüllte er, beide Arme zum Angriff erhoben. Doch der Schattenkönig machte nur eine wegwerfende Geste mit der Linken, und eine unsichtbare Kraft fegte Uxbridge zur Seite. Er knallte gegen die verschalte Tunnelwand und rutschte reglos zu Boden. Der Unhold zog sein Schwert, und Flammen züngelten an der Klinge entlang.

Instinktiv fuhr Toms Hand zu seinem Hosenbund, fand nichts und tastete tiefer. Er spürte seinen Geldbeutel in der Tasche, nicht jedoch das Daring-Schwert. Den Grund verstand er nicht, es verwirrte ihn. In seinem Kopf begann es sich zu drehen. Dann war der Tunnel plötzlich verschwunden. Gleißendes Licht blendete ihn; er schrie laut auf. Dann fiel er zu Boden und landete hart auf dem Gesäß. Helles Licht schmerzte in seinen Augen, und es verging ein Moment, ehe er wieder klar sehen konnte.

Sie befanden sich nicht länger im geheimen Untergrundtunnel der Ramer-Stiftung, sondern unter freiem Himmel mitten auf einem Stadtplatz. Ihre Lage hatte sich jedoch kaum verbessert. Anstatt in die toten Augen des Schattenkönigs starrte er in ein halbes Dutzend Gewehrmündungen. Eine Schar bärtiger Zwerge hatte sie im Halbkreis umstellt. Tom hörte, wie Hähne gespannt wurden, ein vielstimmiges Klicken. Die wutschnaubenden kleinen Burschen waren bereit, sie auf der Stelle zu erschießen.

4. Kapitel: Palast Nr. 4

»Nicht schießen!«, rief Veyron, der geistesgegenwärtig die Lage erfasste.

Danny und Hunter dagegen stand der Mund offen. Sie sahen ja die kleinwüchsigen Bewohner der Insel Talassair zum ersten Mal. Nicht nur durch ihre gedrungene Statur, auch durch die kreisrunden Ohren und die leicht eckige Kopfform unterschieden sie sich sofort von Menschen. Tom ahnte, wie es den beiden ergehen musste, denn er erinnerte sich noch gut an seine erste Begegnung mit den Zwergen Elderwelts, die wenig mit seiner Vorstellung aus Märchenbüchern gemein hatten. Diese sechs Wichte waren unschwer als Wächter zu erkennen. Zu dunkelblauen Hosen und schweren Stiefeln trugen sie rote Westen und violette Mantelröcke mit weißen Schoßaufschlägen. An über der Brust gekreuzten Gurten hingen Munitionstasche und ein krummer Säbel.

»Elendes Gronker-Pack! Und warum sollten wir nicht?«, herrschte sie einer der Zwerge an, offenbar der Kommandant der Truppe.

Man hielt sie offenbar für Schrate. Gronker war das zwergische Wort für diese Sorte Unhold.

»Wir sind keine Schrate! Wir sind Menschen aus Fernwelt«, rief er.

Die Mündung von des Anführers langer Muskete richtete sich ruckartig auf ihn. »Das sagt ihr Kerle doch immer, wenn es euch an den Kragen geht!«, knurrte er. »Dieser Durchgang ist verboten! Niemand darf ihn ohne Erlaubnis des Königs benutzen!«

Veyron hob beschwichtigend die Hände. »Wir sind im Besitz einer Erlaubnis. Wir haben Sie von Schatzkanzler Farin erhalten. Mr. Kevin Uxbridge hat uns persönlich zu diesem Durchgang geführt«, erklärte er.

Der Zwergen-Kommandant schnaubte nur verächtlich. »Und wo ist sie, diese Erlaubnis?«

»Bedauerlicherweise haben wir sie nicht bei uns. Wir mussten fliehen, bevor wir die letzten Modalitäten klären konnten«, sagte Veyron.

Der Musketenlauf senkte sich weit genug, dass Tom nur noch um seine Schienbeine fürchtete. »Einfallsreich seid ihr ja, das muss ich zugeben. Vielleicht seid ihr keine Gronkers, sondern eher Banditen aus dem Räuberimperium von Maresia«, grollte der Zwerg.

Als seine Männer das hörten, knurrten und grollten sie wie zornige Wachhunde und legten die Musketen an. Mit dem Imperium Maresium, dem größten bekannten Menschenreich Elderwelts, standen die Bewohner Talassairs auf Kriegsfuß. Tom wurde abwechselnd heiß und kalt. Es hierher geschafft zu haben, nur um in eine solche Zwickmühle zu geraten, das hatte er bestimmt nicht erwartet.

»Sehen wir aus wie Agenten aus dem Imperium?«, protestierte er. »Schaut unsere Kleidung an. Trägt man solche Sachen in Maresia?«

»Raffinierte Tarnung«, hielt der Kommandant dagegen.

Tom stöhnte entnervt. Dieser Kerl wollte ihnen einfach nicht glauben. Waren sie dem Tod nur knapp entronnen, um jetzt von ein paar paranoiden Zwergen über den Haufen geschossen zu werden? Das durfte doch alles nicht wahr sein!

Der Kommandant schulterte plötzlich sein Gewehr. »Alles nur Spaß«, grölte er und schlug sich mit der Linken klatschend auf den Oberschenkel. Seine fünf Kameraden taten es ihm gleich und begannen laut zu lachen. Auf seinen Wink hin waren sie sofort wieder still. »Wir wollten euch nur ein bisschen erschrecken. Natürlich wurden wir über eure Ankunft informiert und als Geleitschutz abgestellt. Willkommen auf Talassair, Fernweltler! Lieutenant Grom, zu euren Diensten!«

Tom wusste nicht, ob er dem Wicht an die Gurgel gehen oder einfach nur mitprusten sollte. Danny und Hunter schienen ebenfalls verunsichert, während Veyron ein erleichtertes Pfeifen von sich gab.

Schließlich lachte Danny laut auf. »Ihr Kerle habt ja einen fantastischen Humor. Also echt! Der Hammer! Stark!«

Grom schien zufrieden. »Wenigstens einer, der es lustig findet. Menschen nehmen so was normalerweise nicht so gut auf. Schön, dann bringen wir euch mal zum Schatzkanzler. Er erwartet euch bereits, und der König wird auch bald da sein«, sagte er. Mit einer kleinen Trillerpfeife gab er seinen Männern das Signal zum Abrücken. Sie flankierten Tom, Hunter, Danny und Veyron und marschierten im Gleichschritt los.

Die Zwerge führten sie mitten durch die Straßen der Hauptstadt Talassairs. Sie kamen vorbei an prunkvollen Gebäuden, die fast schon Palästen glichen. Die breiten Gehsteige waren allesamt mit Marmor gepflastert und von der Straße durch goldene Leisten abgegrenzt. Hunter und Danny staunten angesichts der Stadt, ihrer Bewohner und Fortbewegungsmittel. Die meisten Menschen, die ihnen begegneten, trugen prachtvolle Gewänder im Rokokostil. Die Herren Mantelröcke mit farblich abgestimmten Ärmelaufschlägen und Rabatten, die Damen weit ausladende Kleider, mit denen sie den halben Gehweg einnahmen – wenn sie denn zu Fuß gingen, was die wenigsten taten. Viel unauffälliger die Zwerge mit ihren schlichten Anzügen, Melonen und Zylindern. Auf den Straßen rollte ein nicht enden wollender Strom uralter Automobile. Die meisten waren kaum mehr als motorisierte Kutschen. Nur hier und da fand sich ein Oldtimer, wie man sie manchmal noch auf Londons Straßen sehen konnte.

 

»Was ist das für eine Welt?«, wollte Hunter wissen, die ihr Staunen nicht mehr länger zurückhielt.

»Elderwelt. Wir sind in auf der Insel Talassair gelandet, um genau zu sein, dem Reich und Herrschaftsgebiet von König Floyd dem Ersten. Talassair kann sich aufgrund seiner technologischen Überlegenheit eine Gesellschaft leisten, wie es sie auf der Erde kein zweites Mal gibt. Die Moden des 18. und 19. Jahrhunderts gehen hier nahtlos ineinander über. Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie eine Dame in viktorianischem Ballkleid sehen, die sich mit einem Zwerg unterhält, welcher der Französischen Revolution entsprungen sein könnte«, erklärte er.

Danny stieß vor Verblüffung einen Pfiff aus. »Also mal ganz ehrlich, ich hatte etwas anderes erwartet. Irgendwas mehr Mittelalterliches oder so«, sagte er.

Veyron musste kurz auflachen, als er das hörte. »Ja, das trifft durchaus auf den Rest Elderwelts zu. Talassair besitzt jedoch mindestens zwei magische Durchgänge in unsere Welt, und dank der Ramer-Stiftung ist Talassair fest mit ihr verbunden. Deshalb verfügt das Reich über technische Mittel, die allen anderen Ländern Elderwelts versagt sind. Nirgendwo sonst werden Sie Flugzeuge, Schiffe, Autos oder Gewehre finden. Talassair ist einzigartig. Wenn Sie Glück haben, lernen Sie noch andere Ecken Elderwelts kennen, wo Sie dann einen Vergleich ziehen können, Mr. Darrow.«

»Aber wenn der König von Talassair Verbindungen in unsere Welt unterhält, warum importiert man nicht gleich unsere ganze Technologie hierher?«, hakte Hunter nach.

»Oh, das tut der König durchaus. Allerdings im privaten Rahmen, in seinen Palästen zum Beispiel. Die ganze Gesellschaft Talassairs ist ein Kunstprodukt, bezahlt, importiert und kontrolliert vom Königshof, nach dem Geschmack und den Vorlieben seiner Herrscher, nicht nach Sinn oder Notwendigkeit. Zudem gibt es strenge Verträge mit den Simanui, jenem Zaubererorden, dem der Schutz Elderwelts obliegt. Die Anwendung allzu moderner Technologie ist untersagt. Talassair darf seine, ich sage mal ›futuristischen‹ Waffen, allein zur Verteidigung einsetzen«, erklärte Veyron.

Der Weg führte ihre kleine Truppe zum Hafen, wo die großen Schiffe Talassairs ankerten. Sie kamen gerade auf eine Anhöhe, von wo aus sie einen Überblick über das Hafenbecken hatten. Danny und Hunter blieben stehen, um den Anblick auf sich wirken zu lassen. Tom wusste genau, was sie empfanden: Sie mussten erst verstehen, was genau sie da sahen.

Der Hafen war durch einen hohen und von bewaffneten Zwergen bewachten Zaun in zwei Bereiche getrennt. Im östlichen Teil ankerten Handelsschiffe aus fremden Ländern. Monoren, Biremen und Triremen aus Maresia und Achaion, bauchige Handelskoggen aus Tewensiniel und Caralantion und viele andere Typen hölzerner Segelschiffe längst vergangener Zeit. Menschen aus allen Teilen Elderwelt entluden hier ihre Waren – Stoffe, Erze und Lebensmittel. Vor dem Rückweg in ihre Heimat nahmen sie Kisten und Fässer aus Talassair an Bord, alles gewissenhaft dokumentiert von zwergischen Aufsehern. Talassair wachte streng über seine Technologien und unternahm alle erdenklichen Anstrengungen, um Neugierige oder Spione fernzuhalten. Sämtliche Gebäude in jenem Teil des Hafens waren von einfacher, altertümlicher Bauart, oft aus Holz und ohne technischen Schnickschnack wie etwa elektrische Lampen.

Auf der westlichen Seite des Hafens lag die Handelsflotte Talassairs vertäut. Hier fand sich alles, von der Brigantine bis zur Galeone, vom gewaltigen Linienschiff mit drei Kanonendecks bis zu den eleganten und schnellen Klippern und Windjammern des späten 19. Jahrhunderts. Der Kontrast hätte gar nicht größer ausfallen können. Und inmitten des schier unübersichtlichen Waldes aus Masten, Tauen und Takelage lagen die Dampfschiffe Talassairs, die Privatflotte des Königs, zugleich wichtigste Abschreckung gegen Piraten und Invasoren. Sie umfasste zahlreiche Frachter, Tanker und nicht zuletzt ein Dutzend altertümlich anmutender Kriegsschiffe aus Eisen.

»Ich werd irre«, meinte Danny beeindruckt.

Hunter lachte höhnisch auf, als sie das hörte. »Werden ist der falsche Ausdruck«, murmelte sie bissig.

Danny schenkte ihr einen forschenden Blick. »Sagt mir eine zukünftige Schreibkraft«, erwiderte er. Hunter warf ihm einen giftigen Blick zu, der Danny nur umso breiter grinsen ließ.

»Hey, ihr zwei! Da wird nicht rumgestanden, klar? Der Schatzkanzler hat es eilig«, belferte Lieutenant Grom.

Wenn Blicke töten könnten … Trotzdem hörten die beiden auf zu zanken und liefen weiter. Die Zwerge brachten sie zu einem kleinen Schlösschen, das auf einer mit Hecken und Ziersträuchern begrünten Hügelkuppe über dem Hafen thronte. Im Balkonzimmer wurden sie von Schatzkanzler Farin, dem zweitmächtigsten Mann Talassairs, erwartet. Wie alle Zwerge war er kurz gewachsen und von stämmiger Statur, doch anders als die meisten seiner Art war er glatt rasiert, wodurch sein breites Gesicht und das eckige Kinn noch mehr hervortraten. Sein schlohweißes Haar trug er kurz. Im Zusammenspiel mit der schlichten, fast schon modern wirkenden Kleidung könnte er in London als kleinwüchsiger Geschäftsmann durchgehen.

Als seine Besucher eintrafen, warf er einen Blick auf seine goldene Taschenuhr. »So, so! Meister Veyron Swift, der junge Tom Packard und die beiden Begleiter: Mister Danny Darrow und Miss Gwendolyn Irene Hunter«, brummelte er ungehalten.

Hunter zuckte kurz zusammen, als der Zwerg ihren vollen Namen nannte, was Farin zu einem listigen Lächeln veranlasste. »Ich weiß gern genau, wen mir der MI-6 nach Elderwelt schickt«, erläuterte er. »Ihr habt ein wenig lange gebraucht.«

»Sorry, aber wir kamen aus dem Staunen nicht mehr raus«, entschuldigte sich Danny.

Farin nahm es mit einem knappen Nicken zur Kenntnis. Anschließend wandte er sich an Veyron, ohne den Rest ihrer Gruppe weiter zu beachten. »Berichtet, was Euch erneut nach Talassair führt, Meister Swift. Das letzte Mal habt Ihr ein ziemliches Chaos hinterlassen«, verlangte der Zwerg.

»Das Chaos haben Eure eigenen Leute hinterlassen, Schatzkanzler. Aber die Sache ist ja nun schon seit fast zwei Jahren ausgestanden. Was mich hierher führt, sind Angelegenheiten, auf die ich in London gestoßen bin. Tatsächlich geht es um das Horn des Triton«, erwiderte Veyron ungerührt. Er berichtete von den Ereignissen, die sie nach Elderwelt geführt hatten. Gemäß seinen eigenen Ansprüchen ließ er kein nennenswertes Detail aus, sodass die Schilderung sich eine Weile hinzog. Farin hörte sich alles an, von Dannys Auftrag über den Besuch beim MI-6. Tom bemerkte, dass der Kanzler längst nicht so ruhig war, wie er wohl wirken wollte. Das zeigte sich vor allem, als Veyron zum fatalen Angriff des Schattenkönigs und seiner Vampir-Attentäter kam, doch unterbrach Farin ihn erst, als er über die Ereignisse in der Ramer-Stiftung hörte.