Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen

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Sari: Veyron Swift #4
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Aus dem Dickicht der Umgebung tauchten noch mehr Elben auf, allesamt trugen sie braune oder dunkelgrüne Mäntel und waren mit Speeren oder Pfeil und Bogen bewaffnet. Jane lächelte. Die Seelenkönigin hatte mit ihrem Verrat zu lange gewartet! Jetzt war die Unterstützung hier.

Umso überraschter war sie, als die Elben ihre Waffen nicht auf die Seelenkönigin richteten, sondern auf Veyron und sie. Die kleinen Moorelben kreisten sie ein, drängten sie zusammen, und blitzschnell banden sie ihnen die Hände, wobei sie fortwährend auf Elbisch schimpften, als wollten sie ihnen Vorhaltungen machen. Sie stießen sie sogar von der Seelenkönigin fort. Jane verstand die Welt nicht mehr. Was ging denn hier vor? Warum griffen die Elben nicht die Seelenkönigin an? Steckten sie mit dieser Dämonin etwa unter einer Decke?

Schon im nächsten Moment schien sich Janes furchtbarer Verdacht zu bestätigen. Blitzschnell legten die Moorelben Veyron und ihr Binden über die Augen und zurrten sie fest. Jane konnte nichts mehr sehen. Die Moorelben bellten Befehle in ihrer Sprache und stießen Veyron und Jane vorwärts, in welche Richtung, konnte sie nicht ausmachen. Jane verlor vollkommen die Orientierung. Vielleicht versenken sie uns irgendwo im Sumpf, dachte sie verzweifelt.

Hinter ihr erklang das höhnische Auflachen der Seelenkönigin.

Voll in die Falle getappt.

6. Kapitel: Die Schwarze Horde

Seramak war die vielleicht trostloseste Stadt, die Tom bisher in Elderwelt gesehen hatte. Im Süden von einer großen Oase begrenzt, hoben sich die überwiegend kleinen Gebäude wie Maulwurfshügel aus der Wüste. Eine in den Sand gestampfte Hauptstraße führte in einem großen S von Nord nach Süd zwischen den Gebäuden hindurch. Im Stadtzentrum wurde sie von einer weiteren Hauptstraße, die schnurgerade von West nach Ost verlief, gekreuzt. Die meisten Häuser waren kaum mehr als fensterlose Hütten aus Lehm, lediglich eine Tür bot Zugang. Die Dächer waren von Kuppeln überwölbt. Außerdem gab es einige Türme gleicher Bauweise und ein paar mehrstöckige Gebäude, ebenfalls ohne Fenster. Die Lichter, die sie vom Kraftwerk aus gesehen hatten, mussten von den Feuerstellen gekommen sein, die an den Kreuzungen kleiner Gassen brannten und von schwarz gekleideten Kriegern der Schwarzen Horde bewacht wurden, zumeist Schrate, aber auch der eine oder andere Mensch. In der nächtlichen Dunkelheit ließ sich ihre Herkunft schlecht feststellen, aber Tom glaubte, dass sie zumeist europäischen Ursprungs waren.

Ihr Ziel war ein breites, rechteckiges Gebäude, dessen flaches Dach mehrere Kuppeln aufwies – abermals keine Fenster. Eine schmale Tür führte ins Innere, über der ein Schild hing, auf dem mit einheimischen Lettern etwas geschrieben stand. Per Spraydose hatte jemand von der Schwarzen Horde ›Unthakunfft‹ hinzugefügt, was Vanessa kurz kichern ließ.

»Besonders helle sind die hier wohl nicht«, flüsterte sie, aber Tom verweigerte ihr eine Reaktion.

Ganz in der Nähe lungerten ein paar Wachen der Schwarzen Horde herum und musterten sie skeptisch. Ihnen gefiel wohl der geschniegelte Aufzug von Wimille Swift nicht. Veyrons Bruder sagte kein Wort, sondern zahlten den Wachen ihren Argwohn mit gleicher Münze heim.

Tom klopfte an der Tür, woraufhin eine kleine Luke geöffnet wurde, durch die zwei verängstigte Augen herausschauten. »Wir brauchen ein Quartier für die Nacht«, sagte Tom. Die Luke flog wieder zu. Er hörte, wie im Inneren ein Schlüssel umgedreht wurde.

Ein kleiner Mann mit dunkler Haut öffnete ihm und ließ sie ein, sperrte aber hinter ihnen sofort wieder zu. Eine kurze Treppe führte nach unten in ein geräumiges, mit Teppichen ausgelegtes Empfangszimmer. Der Großteil der ›Unterkunft‹ schien halb-unterirdisch angelegt zu sein. Tagsüber war es hier wahrscheinlich angenehm kühl, nur die Luft war etwas stickig, wie Tom fand.

»Sehr wohl, sehr wohl«, sagte der Mann, wahrscheinlich der Hauswirt, mit deutlichem Akzent, und buckelte unterwürfig. Zitternd verschwand er in einem kleinen Nebenraum, kam wieder heraus und hielt Tom einen rostigen Zimmerschlüssel hin.

Der Mann schien sich vor ihnen zu fürchten, warum nur? Natürlich, er hat Angst vor den Kerlen der Schwarzen Horde, dämmerte es Tom. Daran war sicher seine Erscheinung als Anwärter für die Schwarze Horde schuld. Lächelnd und mit einem Nicken nahm er ihm den Schlüssel ab. »Danke sehr.«

»Wir alle dienen dem Dunklen Meister«, wimmerte das Männlein, deutete einen schmalen Gang hinunter und verschwand dann wieder in einem Nebenraum.

Innerlich musste Tom schlucken. Er hatte noch nie erlebt, dass sich jemand dermaßen vor ihm fürchtete. Es war höchste Zeit, diese engen, schwarzen Klamotten loszuwerden, aber noch mussten sie diese Rolle weiterspielen.

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sie das Zimmer gefunden hatten, welches sich mit dem Schlüssel aufsperren ließ. Ihre Unterkunft war ein staubiger, viereckiger Raum, der Boden mit alten Bohlen ausgelegt, die Wände kahl. Zwei Betten mit Matratzen standen nebeneinander darin. Vanessa belegte sofort das eine, während sich Tom die Mühe machte, seine Schlafstatt ein paar Meter von der ihren wegzurücken. Ganz bestimmt wollte er nicht unmittelbar neben Vanessa einschlafen. Wimille setzte sich auf den Boden.

»Wollen Sie das Bett haben?«, fragte Tom ihn.

Doch Wimille schien ihn gar nicht zu bemerken. Er starrte einfach nur geradeaus, tief in Gedanken versunken. »So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Faszinierend«, brummte er schließlich und blickte Tom ratlos an. »Was soll ich jetzt tun? Ich hatte zwar von Schraten gehört, aber sie mir immer ganz anders vorgestellt. Ich weiß nichts über Elderwelt, seine Gebräuche, seine Einwohner, und Computer gibt’s hier nicht, keine Technologie.« Er stockte. »Tom, ich weiß nicht, wie ich hier von Nutzen sein kann. Was tue ich denn jetzt nur?«, rief er, wobei er immer hysterischer klang.

»Erst mal tief durchatmen und beruhigen«, sagte Tom und schluckte. Wimille ein Häufchen Elend? Und er hatte sich auf den Mann verlassen! Etwas Besseres, als ihn zu beruhigen, fiel ihm jedoch nicht ein. Er selbst hatte nämlich auch keine rechte Idee, wie es jetzt weitergehen sollte. Für gewöhnlich war Veyron derjenige, der die Pläne ausheckte.

»Ich habe Angst«, gestand Wimille leise.

Darauf hatte Tom keine Antwort, Vanessa allerdings schon. »Ich auch«, sagte sie. »Lasst uns nach Ernie suchen und dann von hier abhauen.«

Tom sog die Luft ein und versuchte, seine eigene Unruhe zu unterdrücken. Es hatte ihm gerade noch gefehlt, mit zwei Angsthasen in einem fremden Land festzustecken, die beide in Panik verfielen. »Werden wir, werden wir. Aber jetzt lasst uns erst mal schlafen. Wenn die Sonne aufgegangen ist, sehen wir uns in der Stadt um und finden heraus, wohin man Ernie gebracht hat«, schlug er vor.

Vanessa war einverstanden; selbst Wimille lächelte zaghaft und gab zu, dass dies immerhin ein halbwegs vernünftiges Vorgehen schien.

Tom gab Wimille das jetzt nutzlose Ohr-Mikro zurück, der es gedankenverloren in die Tasche seines Jacketts steckte. Es würde wohl einige Zeit dauern, bis Veyrons Bruder mit der für ihn ungewohnten Situation zurechtkam.

»Also, wollen Sie das Bett nehmen? Ich bin es gewohnt, auf dem Fußboden zu schlafen«, wiederholte Tom seine Frage.

Schließlich nahm Wimille das Angebot dankbar an, und Tom machte es sich auf dem Fußboden bequem. Er wartete, bis Vanessa und Wimille eingeschlafen waren, was überraschend schnell geschah. Die Aufregung des Tages hatte an den Nerven und den Kräften der beiden gezehrt, Tom dagegen kannte so etwas inzwischen. Er wünschte sich nur, Veyron wäre hier und würde sie mit irgendeinem Plan aus dieser Misere retten. Wie es aussah, blieb dieser Part jetzt an ihm hängen.

Am nächsten Tag waren sie alle schon sehr früh wach. Eine Waschgelegenheit fanden sie in der ›Unterkunft‹ nicht, Frühstück gab es auch keines. Tom bedauerte es, dass sie kein Gepäck mitgenommen hatten – aber ein Ausflug nach Elderwelt war ja auch gar nicht geplant gewesen. Auf Rückfrage beim Hauswirt, wo sie etwas zu Essen bekämen, deutete dieser nur auf die Haustür.

»Basar. Macht gerade auf«, murmelte er, sichtlich darum bemüht, Tom nicht zu nahe zu kommen.

Tom bedankte sich höflich, worauf sich der Wicht beeilte, sein Dunkler-Meister-Sätzchen aufzusagen. Der arme Kerl tat Tom richtig leid.

Draußen auf der Straße herrschte inzwischen in wenig mehr Leben. Unter Zeltplanen hatten verschiedene Händler ihre Waren auf Tischen ausgebreitet, präsentierten Obst, Dörrfleisch und Trockengemüse, daneben Amphoren voll Trinkwasser. Wein oder Säfte schien es in der ganzen Stadt nicht zu geben, Milch war ebenso unbekannt. Auch Kleidung oder Schmuck suchte man auf diesem Basar vergebens. Überhaupt waren es recht wenig Händler für einen so großen Ort wie Seramak. Tom hätte drauf wetten können, dass die Schuld am wirtschaftlichen Niedergang die Schwarze Horde trug. Überall lungerten ihre Wächter herum, Schrate wie Menschen – und soweit Tom es überblicken konnte, allesamt von der schlimmsten Sorte. Wichtigtuerische Fettsäcke mit schwarzen Schöpfen und ungepflegten Bärten gammelten an den Hausecken herum, mit boshaften Blicken Händler und Kunden beäugend. Neben ihnen lungerten dürre, ausgemergelte Gestalten. Die eigentlichen Einwohner der Stadt liefen geduckt umher, als könnten sie ihre Besorgungen nicht schnell genug erledigen. Tom wurde Zeuge, wie sich zwei Frauen an einer Kreuzung begegneten und ein Gespräch in ihrer Sprache begannen. Als wenig später eine dritte Dame dazustieß und sich an der Unterhaltung beteiligte, wurde die Schwarze Horde auf einmal aktiv. Das geschäftige Treiben auf dem Basar kam augenblicklich zum Erliegen, während ein Dicker und zwei mit Knüppeln bewaffnete Dürre sich zwischen die drei Frauen drängten. Sie schlugen zwei der Frauen brutal zu Boden, die Dritte ergriff weinend die Flucht. Das Entsetzen hing fast spürbar über den Leuten auf dem Markt.

 

»Keine konspirativen Treffen, verflucht noch mal«, grölte Fatty. »Wann kapiert ihr Primitivlinge das endlich?«

Nachdem sie ihren Standpunkt klargemacht hatten, kehrten die Wächter auf ihre Positionen zurück. Zögerlich kam das Treiben auf dem Basar wieder in Gang; deutlich leiser. Es wurde nur noch getuschelt und geflüstert.

Tom warf Vanessa einen kurzen Blick zu. Sie war kreidebleich geworden. »Oh mein Gott. Ich hoffe nur, die Kerle haben nichts mit Ernie angestellt«, jammerte sie.

Tom schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, Wimille allerdings sagte nichts, sondern musterte die Wächter mit strengen Blicken. Er befand sich offenbar wieder ganz in seiner Rolle als ›Direktor Swift‹ vom MCD.

Als sie um die Ecke bogen, stieß Vanessa ein kurzes Kreischen aus. Tom blickte erschreckt auf, und dann sah auch er es: ein Galgen, an dem mehrere Körper hingen, ausnahmslos junge Leute, Frauen wie Männer, sogar Kinder. Sie baumelten im Wind hin und her, Fliegen krabbelten über ihre Leiber, um den Hals trugen sie hölzerne Schilder, auf die man ihre Verbrechen niedergeschrieben hatte. »Vergas, der Horde Respeckt zu zohlen«, stand auf einem, »Unerlauptes Pfeiffen auf der Strase« auf dem nächsten. »Unsitliches Gehape«, lautete der Vorwurf an ein Mädchen. »Im Besits illegahlen Spillzeuks« war der Tötungsgrund für einen Knaben.

So schnell sie konnten, eilten sie an den grausigen Früchten des Galgenbaums vorüber und bogen in die nächste Straße.

Vanessa keuchte angestrengt und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Tom, wo sind wir denn da nur gelandet? Das ist ja schrecklich. Diese Kerle, sie ermorden Kinder!«, rief sie. Tränen standen ihr in den Augen.

Tom musste zugeben, dass es ihm nicht anders ging. Die Schrate waren zwar schreckliche Monster, doch er bezweifelte, dass diese Verbrechen allein ihrer Bosheit entsprungen waren. Vielmehr hatte er die menschlichen Mitglieder der Schwarzen Horde im Verdacht. Nur zu gut wusste er, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig waren. Hass und Bösartigkeit strahlten aus den Augen jedes Einzelnen der Schwarzen-Horde-Mitglieder. Es waren fanatische Irre, dem Glauben an den Dunklen Meister genauso verfallen wie Henry Fowler.

»Wir müssen Ernie finden«, sagte er, um Vanessa auf andere Gedanken zu bringen. »Kommt, wir gehen zu diesem Palast da und schauen uns dort einmal um.«

Er meinte damit das größte Gebäude im Zentrum der Stadt, welches auf einem kleinen Hügel thronte. Es bestand genau genommen aus einem gewaltigen, sechs Stockwerke hohen und von einer Kuppel gekrönten Rundbau, umgeben von fünf rechteckigen Nebengebäuden. Das Größte von ihnen, im Süden an den Turm angrenzend, war immerhin etwa drei Stockwerke hoch und an die hundert Meter lang. Der Komplex schien zudem das einzige Bauwerk in Seramak zu sein, das sowohl Balkone als auch Fenster besaß. Mit seiner von Säulen verzierten Fassade und den aufwendig geschnitzten Fensterläden handelte es zweifelsohne um den Regierungspalast. Wenn sie es geschickt anstellten, erfuhren sie dort, wo Ernie sich aufhielt.

Ohne weiter auf die Umgebung zu achten, eilten sie durch eine weitere Seitengasse, vorbei an zahlreichen Gemüseständen. Eingeschüchtert machte man ihnen Platz, Menschen drehten sich von ihnen weg. Kein Wunder, Tom und Vanessa trugen noch immer die schwarze Lederkluft, die alle Mitglieder der Schwarzen Horde kennzeichnete. Wimille wirkte mit seinem Smoking und dem strengen, geierartigen Gesicht nicht weniger Furcht einflößend.

Gerade passierten sie den Stand eines Tonwarenhändlers, als Tom eine in einen schwarzen Umhang gehüllte Kundin anrempelte. Blitzartig fuhr die Frau herum und musterte ihn erschrocken. »Verzeiht«, sagte sie.

Tom nickte zum Zeichen, dass er die Entschuldigung annahm. Ihr Gesicht war verschleiert, er konnte nur ihre Augen sehen. Irgendwie schienen sie ihm seltsam. Täuschte ihn der helle Schein der Sonne, oder starrten ihn da ungesund gelbe Raubtieraugen an? Vielleicht war sie eine Schratin. »Kein Problem«, meinte er zögerlich und ging weiter.

»Verzeiht!«, rief ihn die Frau erneut an.

Tom drehte sich zu ihr um. Was wollte sie denn noch?

»Seid Ihr nicht Tom Packard aus Fernwelt?«, rief ihm die Frau zu.

Tom erstarrte. Tausend Gedanken wirbelten durch seinen Verstand, sein Herz schlug schneller. Wie konnte sie das wissen? Woher kannte sie ihn überhaupt? Waren sie sich schon einmal begegnet?

»Mein Name ist Henry Fowler, Madame«, sagte Tom. Sein Versuch, dabei möglichst selbstbewusst zu klingen, scheiterte kläglich.

»Ach wirklich?«, höhnte die Frau. Langsam wie eine Katze, bevor sie auf ihre Beute losspringt, näherte sie sich. »Warum klingst du dann genau wie Tom Packard? Warum riechst du wie er?«

Tom spürte, wie ihm abwechselnd heiß und kalt wurde. Wer um alles in der Welt war diese Fremde? »Wer seid Ihr?«, fragte er halblaut. Etwas in seinem Hinterkopf riet ihm, sofort das Daring-Schwert zu rufen – auch auf die Gefahr hin, vor der Schwarzen Horde seine Identität preiszugeben.

Die Fremde nahm den Gesichtsschleier ab, und Tom zuckte zurück. Ihm starrte ein Mädchen entgegen, kaum älter als er selbst. Ihr Gesicht war schneeweiß und so glatt wie Porzellan. Doch als hätte man dieses hübsche Porzellangesicht zu hart auf den Boden geschlagen, verliefen schwarze Sprünge und Brüche in alle Richtungen, manche ganz fein, andere zackig und grob. Bösartige, gelbe Augen leuchteten aus schwarzen Höhlen, und an der Stirn der Fremden konnte Tom einen Ansatz von dunkelrotem Haar erkennen. Eine Hexe, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte eine leibhaftige Hexe vor sich.

»Ich bin Brokaris, eine Hexe des Nordens, Schwester des Kreises der Beschützerinnen«, stellte sie sich vor und warf die Kapuze ihres Umhangs zurück, wodurch ihr burgunderrotes Haar hervorquoll. Im gleichen Augenblick riss sie ihre Rechte hoch und schnippte mit den Fingern. Eine Flamme entzündete sich zwischen Daumen und Zeigefinger. Ehe Tom reagieren konnte, schleuderte sie diese auf ihn. Im allerletzten Moment warf er sich zu Boden, sodass ihn die Flamme verfehlte und in das Gebäude hinter ihm einschlug.

Die folgende Explosion sprengte die Mauer des Hauses und schleuderte Lehmbrocken in alle Richtungen. Die Druckwelle fegte Marktstände zur Seite, warf Vanessa, Wimille und alle übrigen Personen zu Boden.

Die Hexe stieß ein schrilles Lachen aus. »Lange habe ich nach dir gesucht, nach dir und deinem Meister. Endlich habe ich euch gefunden. Jetzt wirst du bezahlen!«, rief sie, während sich ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht breitet – wie bei einer Katze vor dem Sahnetopf.

Tom mühte sich auf die Beine. Er musste schnell sein, das wusste er. Noch war seine Identität vor der Schwarzen Horde nicht aufgeflogen. Ohne lange zu überlegen, stürmte er vorwärts und sprang die Hexe an. Offenbar hatte sie das nicht erwartet. Er stieß sie zurück und verpasste ihr einen Fußtritt, der sie gegen den Stand des Tonwarenverkäufers katapultierte. Sofort setzte er ihr nach, sprang sie an und hieb mit der Faust zu, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Fast hatte er erwartet, dass das Porzellangesicht unter seinen Schlägen zerbrechen würde, aber die junge Hexe war hart im Nehmen. Außer einer blutigen Nase zeigten sich keine Spuren seiner Hiebe. Im nächsten Moment spürte Tom ihr Knie in seinem Magen, hart wie ein Fels. Er keuchte, die Luft blieb ihm weg. Ihr Stiefel traf ihn im Gesicht und schmetterte ihn zu Boden. Im Nu war die Hexe wieder auf den Beinen und wischte sich das schwarze Blut aus dem Gesicht.

Im nächsten Moment wurde sie von einem Tonkrug getroffen, der an ihrem Kopf zerschellte. Vanessa war aufgesprungen und hatte sich zwei große Krüge geschnappt, die sie der Hexe nun gegen den Schädel hieb. Auch der zweite zerbrach in tausend Scherben, ließ die Hexe torkeln. Da schnappte sich Vanessa einen dritten Krug, um ihn nach der Hexe zu schleudern, doch diesmal war Brokaris darauf gefasst. Eine unsichtbare Kraft packte Vanessa und katapultierte sie meterweit durch die Gasse.

Ihr Eingreifen hatte Tom jedoch die Zeit verschafft, um wieder auf die Füße zu kommen. Er trat der Hexe gegen das linke Knie, was sie heulend zusammenklappen ließ. Ein Schlag mit dem Ellenbogen in ihr Porzellangesicht schickte Brokaris zu Boden.

»Hartnäckiges Miststück«, schimpfte Tom, dann sah er sich um. Die bedauernswerten Einwohner von Seramak waren geflohen – er konnte es ihnen nicht verdenken –, hinter ihm brannte und qualmte die Ruine des kleinen Hauses, der Töpferwarenstand lag in Trümmern. Neben ihm quälte sich Vanessa gerade in die Hocke, doch von Wimille war nichts zu sehen. Tom seufzte. Wahrscheinlich hatte er zusammen mit den Einheimischen die Flucht ergriffen. Doch das war im Moment Toms geringste Sorge. Sie mussten diese Hexe fesseln und der Schwarzen Horde übergeben. Vielleicht konnten sie auf diese Weise …

Weiter reiften seine Pläne nicht. Eine Druckwelle traf ihn mit voller Wucht und warf ihn gegen die Mauer eines weiteren Tonhauses. Unter der Wucht stürzte diese ein und begrub Tom unter einer Wolke aus Schutt und Staub. Hastig wischte er sein Gesicht frei, um atmen zu können. Was …? Nachdem der erste Schock abgeklungen war, spürte er die Schmerzen in Rücken und Kopf. Plötzlich war Brokaris über ihm, stürzte sich wild kreischend mit einem Dolch auf ihn. In letzter Sekunde konnte er ihren mörderischen Hieb abfangen, indem er das Handgelenk ihres Messerarms umfasste. Er fletschte die Zähne, während sie um den Dolch rangen. Tom war schockiert, wie stark Brokaris war. Seine Kräfte erlahmten.

Die Hexe merkte es und grinste wölfisch. »Das ist für meine Königin, Eternis, die du zusammen mit deinem Meister ermordet hast!«, zischte sie ihm ins Ohr.

Die Spitze des Dolchs berührte bereits seine Lederjacke. Nur noch Millimeter, dann wäre es aus mit ihm. Er brauchte jetzt das Daring-Schwert; er brauchte es auf der Stelle.

Genau in diesem Moment wurde Brokaris von starken Händen gepackt und von ihm fortgerissen. Plötzlich waren zahlreiche Schrate und menschliche Wächter da. Zu viert zwangen sie die tobende Hexe zu Boden, kreuzten ihre Arme auf dem Rücken und stellten sie ruhig. Krumme, schartige Säbel richteten sich auf sie. Tom rappelte sich erleichtert auf. Wer hätte gedacht, dass er sich mal so freuen würde, die hässlichen Visagen zu sehen! In diesem Moment schwenkte die Klinge des Anführers herum und zeigte auf Tom. Zwei andere Kerle – darunter der ungepflegte Fettsack, hatten Vanessa in ihrer Gewalt.

»Schluss mit diesem Aufruhr!«, schimpfte eine Stimme. Ein junger, ebenfalls schwarz gekleideter Mann trat hinter den Wächtern der Horde hervor. Respektvoll wichen Schrate und Menschen zurück.

Tom glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Das da vor ihm war Ernie Fraud! »Ernie, na Gott sei Dank«, japste er.

Der Angesprochene starrte ihn verdutzt an. Erst jetzt schien er ihn zu erkennen. »Tom Packard?«, fragte er ungläubig.

Tom lächelte schief. »Und nicht allein.«

Ernie wirbelte herum und starrte Vanessa an. »Ness«, keuchte er. »Was machst du hier? Was macht ihr beide hier? Wie kommt ihr überhaupt hierher? Habt ihr euch auch der Schwarzen Horde angeschlossen?«

Vanessa nutzte die Verblüffung der schmierigen Kerle, um sich aus ihrem Griff zu befreien. Angewidert strich sie ihr Shirt glatt. »Wir«, sagte sie und reckte trotzig das Kinn, »sind hier, um dich nach Hause zu holen.«

Die Mitglieder der Schwarzen Horde richteten ihre verwunderten Blicke auf Ernie.

»Was geht denn hier ab, Mordkommandant?«, fragte der Fettsack verwirrt. »Was meint das Flittchen damit?«

Noch ehe er wusste, wie ihm geschah, traf ihn Ernies Faust mitten ins Gesicht, und er brach zusammen. Die Schrate rundherum glucksten amüsiert, die Menschen wichen verunsichert zurück.

Mordkommandant, dachte Tom entsetzt. Mordkommandant? Hieß das, Ernie war der Anführer dieser Ungeheuer? Sollte Ernie etwa für all die Untaten in dieser Stadt verantwortlich sein – auch das Hängen von Frauen und Kindern?

»Die Gesetze der Schwarzen Horde sind streng«, sagte Ernie steif. »Wenn ihr euch nicht der Schwarzen Horde angeschlossen habt, seid ihr Betrüger!« Die letzten Worte spuckte er förmlich aus.

Vanessas ungläubiger Blick spiegelte Toms Gefühle.

 

»Hängen oder köpfen?«, gurrte der Schrat begeistert und packte Tom am Kragen.

Ernie schien tatsächlich darüber nachdenken zu müssen. Toms Entsetzen ließ sich kaum mehr in Worte fassen. Ernie Fraud, ein Irrer und Mörder? Der schüchterne Ernie, ein Schlächter, eine Bestie … Das konnte doch unmöglich wahr sein!

»Sperrt sie in den Kerker, alle beide«, entschied er schließlich. »Ihre Anwesenheit hier ist eigentlich gar nicht möglich. Da ist etwas Seltsames im Gange. Ich habe noch Fragen an die zwei. Führt sie ab!«

Ein wenig enttäuscht packten die Schrate Tom und Vanessa, verdrehten ihnen die Arme auf den Rücken und stießen sie ein paar Schritte vorwärts.

»Halt!«, fauchte Brokaris, die man noch immer am Boden festhielt. Mit dem Kinn nickte sie in Toms Richtung. »Der da gehört mir! Ich habe seine Spur um die halbe Welt verfolgt. Ihr könnt mich nicht einfach so meiner Rache berauben! Ich bin eine Hexe des Nordens!«

Voller Verachtung blickte Ernie auf die junge Hexe nieder. »Die Schwarze Horde hat keinerlei Bündnis mit den Hexen des Nordens! In den Augen des Dunklen Meisters seid ihr Abtrünnige«, beschied er sie kalt.

Der Schrat hinter Tom kicherte boshaft. »Hängen oder köpfen?«

Diesmal fällte Ernie seine Entscheidung furchtbar schnell. »Heizt den Ofen an. Dieses Weibsstück verdient die Grimm-Behandlung«, befahl er.

Brokaris’ Wut wich Furcht und Schrecken. Mit für Tom kaum fassbarer Kraft – er wusste, wie stark Schrate waren – befreite sie sich aus dem Griff der Wächter, doch ehe sie entkommen konnte, schlug einer der Schrate mit seiner Keule zu, traf die Hexe am Hinterkopf und schickte sie bewusstlos zu Boden. Tom sah nur noch, wie der Schrat sie aufhob und einem Sack gleich, über die Schulter warf. Dann wurden Vanessa und Tom auch schon die Straße entlang gedrängt, fort vom Ort des Geschehens. Ihre ganze Mission, das wurde ihm soeben klar, erwies sich als vollkommener Fehlschlag. Der Mann, den zu retten sie gekommen waren, stand auf der Seite des Bösen.

Und wo zum Teufel war Wimille abgeblieben?

Diese Frage beschäftigte Tom noch eine ganze Weile. Auf dem Weg zum Gefängnis ließ sich Wimille nicht blicken. Entweder er war davongerannt und versteckte sich, oder (was Tom sehr hoffte) er entwickelte irgendeinen Plan, Vanessa und ihn zu befreien.

Der Kerker befand sich direkt unterhalb des Regierungspalastes, mitten im Zentrum von Seramak. Die Schrate brachten Tom und Vanessa durch den großen Haupteingang des Gebäudes. Interessiert vermerkte Tom, dass man die ursprünglich sicher aus Holz bestehenden Tore durch zwei eiserne Panzertüren ersetzt hatte, die neu aussahen und nicht zum Stil des Bauwerks passten. Offenbar wollte sich die Schwarze Horde im Notfall verbarrikadieren können. Die Empfangshalle hinter den Toren mündete ins Treppenhaus, das in die Obergeschosse und hinunter in den Kerker führte. Tom konnte sofort erkennen, dass man diese Stufen neu aus dem Fels geschlagen hatte, auf dem der Palast ruhte. Es war eine grobe Arbeit; die Horde legte keinen Wert auf glatte Wände oder gar Verzierungen. Die einzigen Lichtquellen in der herrschenden Finsternis bildeten schmale Luftschächte zur Oberfläche und ein paar Fackeln an den Wänden.

Am Fuß der Treppe machte Tom ein Gitter aus, an dessen Stäbe sich Hände klammerten. Ängstliche Gesichter starrten ihnen entgegen, wichen aber zurück, als sie die Schrate sahen. Nun standen Vanessa und Tom vor dem Gitter, die Schrate öffneten das darin eingelassene Tor und stießen sie hindurch.

»Viel Spaß beim Verrotten«, höhnte ein verwachsener Kerl, sperrte das Tor ab und spuckte Tom und Vanessa durch das Gitter an, bevor sich die Gruppe entfernte. Noch lange hallte ihr boshaftes Gegröle von den Wänden wider.

Tom sah sich um. Wachen schienen sie nicht für nötig zu halten, denn Wände und Boden des immensen Gewölbes, dessen Ausmaße sich im Dunkel verloren, bestanden aus massivem Fels. Es war also unmöglich, sich ins Freie zu graben. Die Lüftungsschächte waren so eng, dass man gerade mal seinen Arm hineinstecken konnte. An Flucht war also nicht zu denken. Wenn dem so wäre, hätte es schon jemand versucht, dachte Tom und starrte seine Mitgefangenen an. Männer, Frauen und Kinder, alt und jung, es war alles vertreten. Manche saßen in kleinen Grüppchen beisammen, tuschelten miteinander, andere lehnten an den Wänden und starrten ins Leere. Einige waren verletzt, Arme und Beine verbunden, sie wiesen blutige Striemen und schlecht verheilte Narben auf. Im hinteren Teil des Kerkers hatte jemand ein paar Decken ausgebreitet, auf denen die Schwächsten ruhten, versorgt von anderen, denen es besser ging. Einen Moment meinte Tom, die Frauen könnten Krankenschwestern sein, so wie sie sich kümmerten, nur wozu? Am erschreckendsten fand er, dass diese Leute so abgestumpft waren. Sie hatten kaum aufgesehen, als sie hereingestoßen worden waren, und zeigten auch jetzt eher Furcht als Neugier. Lag vielleicht an ihren Klamotten …

»Oh, Tom. Wo sind wir bloß gelandet? Das kann doch alles nicht wahr sein! Ich will wieder nach Hause«, jammerte Vanessa. Tränen rannen über ihre Wangen, sie zitterte.

Tom seufzte resigniert. Recht hatte sie ja, aber an den Tatsachen ließ sich nun mal nicht rütteln: Es war alles absolute Realität, was sie erlebten, und nach Hause ging es von hier auch nicht. »Wir stecken wirklich in der Scheiße, Vanny. Aber das hilft jetzt nichts. Lass uns das Beste daraus machen, okay?«, raunte er und legte einen Arm um sie.

Sofort stieß sie ihn zurück. »Und was wäre das? He? Tom, was sollen wir denn jetzt machen? Die werden uns umbringen«, zischte sie, packte ihn am Arm und krallte sich in sein Fleisch, bis es schmerzte.

»Autsch! Hey, beruhig dich mal wieder! Es ist nicht das erste Mal, dass ich irgendwo eingesperrt bin. Wir finden schon einen Weg hier raus. Vielleicht zeigt sich Ernie ja gnädig«, sagte er – obwohl er nicht wirklich daran glaubte.

Die Erwähnung ihrer großen Liebe brachte Vanessa auf der Stelle wieder zum Weinen. Tom nahm sie bei der Hand und führte sie zu ihren Leidensgenossen im hinteren Teil der Zelle. Vielleicht konnten sie sich hier nützlich machen. Wenn sie Glück hatten, erfuhren sie von den Leuten hier mehr über die Lage in Seramak.

»Entschuldigung«, sprach er eine der jungen Frauen an. Dem Aussehen nach stammte sie aus China, und wenn er es in der Dunkelheit richtig einschätzte, musste sie etwa Mitte zwanzig sein, vielleicht ein wenig älter. Sie wirkte zumindest sehr jugendlich und hübsch.

Ihre großen, dunklen Augen starrten ihn überrascht und auch etwas verängstigt an. Sie wich unwillkürlich vor ihm zurück. »Die Horde hat dich verstoßen«, fragte sie, wobei es mehr nach einer Feststellung klang.

Tom schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Wir haben uns als Mitglieder der Horde ausgegeben, aber wir gehören nicht zu denen. Darum sind wir hier gelandet.«

Die junge Chinesin schüttelte traurig den Kopf. »Da seid ihr nicht die Ersten. Aber die Einzigen, die deswegen noch nicht am Galgen baumeln. Wollt ihr euch nützlich machen? Ihr seht stark und gesund aus, und ich kann ein paar kräftige Hände brauchen. Die Lahmen müssen mehrmals am Tag gewendet werden, damit sie sich nicht wund liegen.«

Tom erklärte sich sofort einverstanden, Vanessa allerdings schien geistig abwesend und kaute nur auf ihren Fingernägeln herum.

»Ich bin Tom, das ist Vanessa«, stellte er sie beide vor.

»Li Su«, sagte die junge Krankenschwester mit einer Verbeugung.

Tom erwiderte sie, darauf achtend, sich nicht tiefer zu beugen als sein Gegenüber. Von Veyron hatte er gelernt, dass dies als unhöflich galt. Dabei nutzte er die Gelegenheit, die junge Frau zu mustern. Sie war sehr schlank, und ihr Gewand bestand aus mehreren übereinander gezogenen, zerfledderten Kitteln. An manchen Stellen konnte er braune Flecken erkennen – getrocknetes Blut? Wenn ja, wahrscheinlich von den Verletzten.

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