Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen

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Sari: Veyron Swift #4
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»Wir müssen ihn aufhalten. Lass uns sofort aufbrechen«, sagte sie und wollte schon gehen, doch Tom schüttelte den Kopf.

»Felixstowe ist riesig. Ohne weitere Informationen werden wir das Schiff nie finden, das Ernie nehmen will«, meinte er.

Vanessas Wangenknochen traten hervor, so fest biss sie ihre Kiefer zusammen. Nur mühsam brachte sie ihren Tatendrang unter Kontrolle.

»Das ist wirklich nicht weiter schwer«, sagte nun Wimille mit einem amüsierten Kichern. »Vergleiche ich den Ort der letzten aufgezeichneten Datenübertragung mit den Schiffen in Felixstowe, so hat Mr. Fraud seine letzte Nachricht an Miss Sutton von einem Schiff gesendet, einem Containerfrachter.«

»Können Sie herausfinden, wie das Schiff heißt und ob es schon ausgelaufen ist?«, fragte Tom, worauf Wimille meinte, das nichts leichter als das wäre.

Während Veyrons Bruder mit irrsinniger Geschwindigkeit Befehle in die Tasten hämmerte, zog Vanessa Tom etwas zur Seite. »Wie macht er das? Wieso kann er sich innerhalb von Augenblicken in alle Systeme der Welt hacken?«, wollte sie wissen.

»Wimille besitzt die Gabe, Programme zu lesen wie andere Leute Bücher. Und wie ein genialer Lektor findet er jeden noch so kleinen Fehler in den Codes und jede Sicherheitslücke. Er ist überhaupt ein technisches Genie. Veyron hat mir mal erzählt, dass Wimille ihm seine sämtlichen Smartphones zusammenbastelt und programmiert. Er nimmt einfach dein Telefon in die Hand, zerlegt es und erkennt sofort jeden Makel in der Konstruktion. Aber mehr weiß ich auch nicht«, versuchte Tom, das Phänomen Wimille zu erklären. Veyron sparte ja stets mit Informationen und gab immer nur das Notwendigste preis.

»Es ist die Zaltic Asp«, rief Wimille einen Moment später triumphierend. »Ein Super-Containerschiff, das achtzehntausend ISO-Container laden kann, 18000 TEU, wie man es in der Logistikbranche ausdrückt. Das Schiff liegt noch am Pier, planmäßiges Auslaufen ist für morgen Abend vorgesehen. Betreiber ist …« Plötzlich stand er auf und verließ seinen Hackerraum. Ohne weitere Erklärung schlüpfte er in eine Jacke und verließ die Wohnung.

Tom hörte kurz darauf das Surren der Haustür. Vanessa und er eilten zum nächsten Fenster und sahen Wimille unten auf der Straße zu den nahen Garagen eilten und in einer davon verschwinden. Kurz darauf schoss ein himmelblauer VW-Käfer heraus, der blubbernd die Straße entlangjagte, bis er außer Sicht war.

»Also, du hast schon wirklich zwei seltsame Vögel als Onkel. Kannst du mir sagen, was das eben sollte?«, fragte Vanessa.

Tom schüttelte nur den Kopf und kehrte in das Zimmer zurück. Etwas hatte Wimille aufgeschreckt, ihn regelrecht verstört; Tom musste wissen, was. Die Antwort entdeckte er gleich darauf auf einem der Bildschirme, wo ein Diagramm der Zaltic Asp abgebildet war. In blutroten Lettern stand darunter: Zaltianna Trading Company.

Mit einem Seufzen ließ sich Tom in Wimilles Sessel sinken. Auch das noch!

»Was bedeutet das?«, fragte Vanessa neugierig. Tom lächelte unglücklich. Natürlich! Ihr sagte der Name dieser Firma gar nichts, er jedoch hatte in den letzten Jahren diesen Namen oftmals gehört, und er verfluchte ihn.

»Die Zaltianna Trading Company, kurz ZTC, ist eines der größten Logistikunternehmen der Welt. Die unterhalten eine Flotte von Schiffen und Flugzeugen und transportieren so ziemlich alles. Krumme Geschäfte stehen bei denen auf der Tagesordnung. Ich kann dir nur so viel sagen, Vanessa: Wenn sich Ernie auf einem Schiff der ZTC befindet, dann ist er in Lebensgefahr! Ich weiß es, ich hab es am eigenen Leib erfahren«, erklärte er finster. Selbstverständlich sagte er ihr nicht, dass sein Vater ein Geheimnis der ZTC aufgedeckt hatte – nur um kurz darauf ermordet zu werden, zusammen mit Toms Mutter. Er konnte ihr auch nicht davon erzählen, dass sich im Besitz der ZTC ein Durchgang nach Elderwelt befand. Dort unterstützte sie die Anhänger des Dunklen Meisters mit Technologie und anderer Ausrüstung. Die ZTC finanzierte beispielsweise die Piraten Elderwelts. Und jetzt befand sich Ernie Fraud in deren Klauen – entweder freiwillig oder dazu gezwungen.

»Tom, du machst mir Angst«, riss ihn Vanessas Stimme aus seinen finsteren Überlegungen. Tom sprang aus dem Sessel und fasste sie mit beiden Händen an den Schultern.

»Du hast Angst? Gut, denn das solltest du auch! Diese Leute sind Mörder, Vanessa. Ich weiß noch nicht, wie wir Ernie retten können, aber ich werde mir was einfallen lassen. Jetzt muss ich erst einmal Wimille finden. Wir brauchen noch mehr Informationen und einen guten Plan. Fahr zurück nach Harrow, ich melde mich morgen bei dir«, sagte er. Draußen sah er bereits die Sonne untergehen, und ihm wurde bewusst, wie spät es inzwischen war. Ein perfekter Vollmond stand am Himmel. Heute Nacht hätte der verrückte Henry Fowler sein letztes Opfer in irgendeinem Park präsentiert, mit den Schriftzeichen aus dem Schwarzen Manifest – dasselbe Buch, wegen dem sich Ernie Fraud nun auf der Zaltic Asp befand. »Wir alle sind in Gefahr. Ich melde mich bei dir«, sagte Tom ein wenig geistesabwesend.

Gemeinsam verließen sie Wimilles Wohnung. Anschließend brachte Tom Vanessa noch zur nächsten Underground-Station. Er wartete, bis sie eingestiegen war, ehe er seinen eigenen Plänen folgte. Jetzt galt es, Wimille aufzuspüren. Theoretisch konnte Veyrons seltsamer Bruder überall hingefahren sein, doch Tom hatte eine bestimmte Ahnung, wo Wimille hinwollte. Und falls er nicht dort war, so wäre ein Besuch an jenem Ort vielleicht so oder so notwendig.

Mit dem nächsten Bus fuhr Tom nach Uxbridge. Drei Jahre lang hatte er jenen Ortsteil Londons schon nicht mehr aufgesucht, aber früher hatte er diese Straßen sein Zuhause genannt – bis seine Eltern damals ums Leben gekommen waren; ermordet von übermächtigen Kräften. Dort angekommen zog es ihn zuerst nach Norden, wo das frühere Haus seiner Eltern stand. Seine Stieftante hatte es kurz nach dem Unglück verkauft, um damit irgendwelche Schulden abzubezahlen. Als Vormund Toms durfte sie das auch ohne seine Einwilligung machen. Darüber konnte er sich heute noch ärgern. Vermutlich würden seine ganze Wut und die lange zurückgehaltene Trauer erneut hochkommen, wenn er vor seinem ehemaligen Zuhause stünde. Darum entschied er sich schließlich, das nicht zu tun. Wahrscheinlich würde er Wimille dort sowieso nicht finden. Veyron und Wimille waren in ihrer Jugend Nachbarn von Susan Evans gewesen, und beide hatten eine enge Beziehung zu ihr gehabt, die erst durch Susans Heirat mit Joseph Packard einen Riss bekommen hatte. Von Veyron wusste Tom, dass Wimille Susan besonders verehrt hatte.

Es gab hier noch einen anderen Ort, an dem Toms Eltern präsent waren. Also nahm er den nächsten Bus nach Süden, zum Hillingdon & Uxbridge Friedhof. Fünf Minuten später durchschritt er bereits das große Torgebäude, einen großen, dunkelgrauen Bau, der dem finstersten Mittelalter entsprungen zu sein schien. Inzwischen war es bereits Nacht, die Sterne standen am dunklen Firmament. Den Weg zum Grab seiner Eltern kannte er in- und auswendig – selbst nach drei Jahren wusste er ihn noch ganz genau. Auf den leeren Wegen des Friedhofs traf Tom nicht eine Menschenseele.

Inmitten einer grünen Rasenfläche stand eine schwarze, steinerne Stele, viele Meter vom nächsten Grab entfernt. Im oberen Teil war ein kleines, goldenes Kreuz eingraviert, und darunter stand:

Joseph Lloyd Packard 1976-01-12 – 2011-02-18

&

Susan Eleanor Packard, geborene Evans, 1977-09-14 – 2011-02-18

Tom seufzte, als er die Inschrift las. Eine tiefe Scham befiel ihn. Seit er damals zu Tante Priscilla nach Ealing hatte ziehen müssen, war er nicht mehr hierhergekommen. Kein einziges Mal, aus Angst, dass ihn der Schmerz über den Verlust seiner Eltern übermannen würde. Tatsächlich begann er zu zittern, und während ihn mehr und mehr fror, erschwerte ihm ein Kloß im Hals das Schlucken. Die Stille hier, die Einsamkeit der Säule auf dem Rasen, all das machte ihm deutlich, wie allein er war. Außer Tante Priscilla wusste Tom von keinem Verwandten seiner Eltern. Sein Vater war ein Einzelkind gewesen, seine Mutter die Adoptivtochter der Evans’. Beide Großelternpaare waren schon vor rund zehn Jahren gestorben. Dennoch wirkte die schwarze Stele wie neu, sauber geputzt, und das Gras war gemäht. Am Fuß des Grabsteins lag eine einzelne, blutrote Rose.

»Ich komme jeden Sonntag hierher und bringe Susan ihre Rose«, hörte er die halblaute Stimme Wimille Swifts hinter sich. Langsam drehte sich Tom um und entdeckte Veyrons Bruder im Schatten eines Baumes.

Als er ins Mondlicht trat, sah Tom, dass Wimilles Augen verquollen waren, als hätte er heftig weinen müssen. Vorsichtig und mit einem zaghaften Lächeln kam er näher und stellte sich neben Tom.

»Ich weiß, Sonntag ist erst morgen. Aber vielleicht habe ich morgen keine Zeit mehr dafür, nicht wahr?«, meinte Wimille und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Ich habe deine Mutter geliebt, weißt du? Anders als Veyron, der hat in Susan stets nur die Schwester gesehen, die wir nie hatten. Jemanden, der ihn verstanden hat und ihn mochte. Das hat er mit einer kindischen Anhänglichkeit erwidert. Ich aber sah in ihr die Frau meiner Träume. Sie konnte mich zum Lachen bringen, wie es sonst niemand schaffte. Es war pure Glückseligkeit, auch nur in ihrer Nähe zu sein. Ich hab ihr Liebesbriefe geschrieben, Dutzende. Selbst als sie mir sagte, dass es zwischen uns nichts anderes geben könnte als Freundschaft, war sie sehr nett und verständnisvoll.« Mit einem um Vergebung flehenden Blick schaute er Tom an.

Tom schenkte ihm ein Lächeln. »Ich weiß«, sagte er. »Veyron hat es mir erzählt – okay, er hat es eigentlich mehr oder weniger nur angedeutet. ›Da musst du einen anderen Swift fragen‹, hat er gesagt, als es darum ging, ob er in meine Mutter verliebt war. Aber ich kann eins und eins zusammenzählen, wissen Sie.«

 

Wimille lächelte dankbar und berührte Tom an der Schulter. Doch schon im nächsten Moment wandte er sich ab und gab einen gequälten Laut von sich. »Ich war ein Idiot, Tom! Und unerträglich eifersüchtig auf deinen Vater! Darum bin ich aus Uxbridge weggezogen. Veyron hat sich dadurch zu einem großen Fehler hinreißen lassen, weißt du? Er hat gemeint, er müsste mich verteidigen, und sich bemüht, allerhand vermeintlich schlimme Sachen über deinen Vater herauszufinden, und hat Susan gewarnt. Er wollte verhindern, dass deine Eltern zusammenbleiben. Veyron hat mich stets schützen wollen, selbst als kleiner Junge schon. Aber immer, wenn er versucht, die Menschen zu behüten, die er liebt, dann geht etwas schief. Joey war natürlich nach dieser Sache nicht gerade gut auf Veyron zu sprechen, aber Susan hielt seinen Versuch, sie und Joey auseinanderzubringen, für einen Scherz. Sie hat es als Einzige nie ernst genommen. Ja, sie rang Veyron sogar das Versprechen ab, auf ihre Kinder genauso aufzupassen wie auf sie, sollte ihr jemals etwas zustoßen. Ihre Entscheidung aber, Joey zu heiraten, war unverrückbar. Veyron musste das schließlich genauso akzeptieren wie ich.

Ich glaube, diese Tatsache hat ihn tiefer verletzt, als er zugeben wollte. Susan war mit dir schwanger, als auch er aus Uxbridge fortging. Wir hatten nie wieder Kontakt zu deinen Eltern.«

Tom wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Viele der Dinge, die ihm Wimille erzählte, hatte er selbst erst letztes Jahr unter ganz besonderen Umständen erfahren. Endlich erkannte er auch ein paar Zusammenhänge. Veyron war, was dieses Thema betraf, in den vergangenen drei Jahren stets sehr verschwiegen gewesen.

»Kurz vor Susans und Joeys Tod kam Veyron zu mir, ganz aufgeregt. Wir müssten augenblicklich jede Anstrengung unternehmen, Susan zu beschützen. Joey und sie würden bedroht, von einer so dunklen Macht, wie man sie sich kaum vorstellen könne. Ich habe also die Zaltianna Trading Company gehackt und die Spuren, die dein Vater bei seinen Recherchen hinterlassen hat, umgeleitet. Veyron und ich, wir haben ausgeknobelt, auf wen der Verdacht fallen sollte – bei einer Partie Schach. Ich habe natürlich in drei Zügen gewonnen – wie immer. Heute bin ich mir allerdings nicht mehr sicher, ob er mich nicht einfach nur gewinnen ließ. Es ging doch überraschend schnell, wie ich fand«, fuhr Wimille fort.

Tom musste schlucken. Er wusste inzwischen, dass seine Eltern vom Schattenkönig ermordet worden waren, dem obersten Häscher des Dunklen Meisters. Veyron und Wimille hatten darum gespielt, wer sich für Susan und Joey opfern sollte, und Veyron hatte Wimille gewinnen lassen, um seinen Bruder zu retten. Und ich habe Veyron meine Unterstützung verweigert, als er sie brauchte, dachte er schuldbewusst.

Wimille stieß ein finsteres Lachen aus und holte Tom damit in die Realität zurück. »Doch den Schattenkönig konnten wir nicht täuschen! Er hat Joey von Anfang an in die Falle laufen lassen. Veyron und ich, wir kamen zu spät. Wir haben versagt. Darum bist du heute eine Waise, darum gehört das Haus, das rechtmäßig dein sein sollte, jetzt einem Robert T. Moorhead, und deine Tante sitzt in Venezuela wegen Veruntreuung und Betrugs im Gefängnis. Und ich …« Wimilles Stimme eben noch zitternd vor Wut, versagte, und er brach in Tränen aus, während er auf die Knie sank. »Vergib mir, Tom, bitte vergib mir! Ich habe alles versucht. Alles nur erdenklich Mögliche habe ich versucht, aber ich konnte Susan nicht retten. Ich war zu langsam«, jammerte er.

Tom legte seine Hand auf Wimilles Schulter, bückte sich zu ihm hinunter, um ihn zu trösten. Noch bevor er auch nur ein Wort sprechen konnte, riss sich Wimille jedoch schon wieder los, sprang auf und stieß einen wütenden Schrei aus.

»Das ist alles Veyrons Schuld! Warum hat er diese Falle nicht erkannt? Er hätte schneller sein, hätte das Auto deiner Eltern abfangen müssen! Er hätte sie retten können!«, brüllte er der Nacht entgegen. Einen Moment später sackte er wieder zusammen und schluchzte einige Male.

Vorsichtig strich Tom Wimille über die Haare, als wäre er das Kind, nicht umgekehrt. »Es ist nicht Ihre Schuld, Wimille. Und auch nicht die Veyrons. Ich kenne die Wahrheit. Sie beide haben Ihr Möglichstes getan, mehr kann niemand verlangen. Und Susan und Joey wären sicher stolz auf Sie, wenn sie wüssten, was Sie bereit waren, auf sich zu nehmen«, sagte er leise.

Wimille zuckte kurz zusammen, dann atmete er tief durch.

Tom fuhr fort. »Was immer zwischen meinen Eltern, Veyron und Ihnen vorgefallen sein mag, es ist längst vergeben. Aber ich habe jetzt eine Mission, bei der ich Ihre Hilfe benötige. Ich muss auf dieses ZTC-Schiff und Ernie Fraud da runterholen. Der Junge weiß nicht, was er tut. Er befindet sich in allergrößter Gefahr.«

Wimille wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Nach einem weiteren Durchatmen wirkte er wieder halbwegs gefasst. »Wie kann ich dir helfen? Ich werde alles tun, Tom, was immer du verlangst. Um deiner Mutter willen und um die Schuld zu begleichen, diese ewige Schuld«, sagte er.

»Können Sie die Company erneut hacken? Ich brauche irgendwas, das mir den Zugang zu diesem Schiff ermöglicht.«

Wimille seufzte und zog sein Smartphone aus der Jackentasche. Mit einem triumphierenden Lächeln reichte er es Tom. »Habe ich bereits getan«, verkündete er. »Lass uns nach Felixstowe fahren und an Bord der Zaltic Asp gehen.«

Tom schüttelte jedoch den Kopf, als er das hörte. »Nein, das werde ich allein tun. Ich brauche Sie hier, Wimille. Sie müssen alles überwachen und mir die Türen öffnen.«

Nun war es an Wimille zu widersprechen. »Veyron ist nicht da, um dich zu beschützen, so wie er es Susan geschworen hat. Darum werde ich das nun an seiner statt übernehmen. Ich komme mit!«

Schweren Herzens erklärte sich Tom damit einverstanden. Er wusste ja inzwischen, wie weit die Entschlossenheit der Swift-Brüder ging, und es gab keine Kraft der Erde, sie daran zu hindern.

4. Kapitel: Die Zaltic Asp

Zunächst kehrten sie in Wimilles Wohnung zurück und besprachen das weitere Vorgehen. Tom stellte seinen Plan vor – oder besser gesagt, das, was er sich im Verlauf der Rückfahrt ausgedacht hatte. Überraschenderweise erklärte sich Wimille mit allem einverstanden. Anschließend verschwand er in seinem Hacker-Zimmer, um kurz darauf von einem Raum der Wohnung in den nächsten zu eilen, einmal mit Werkzeug, ein anderes Mal mit irgendwelchen Geräten in der Hand. Tom vormochte sich nicht einmal vorzustellen, was Veyrons Bruder so alles trieb, darum schrieb er Vanessa und Lilly ein paar Nachrichten und warnte die beiden Mädchen davor, irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen zu erzählen.

Als Wimille nach etwa dreißig Minuten mit seinen Tätigkeiten fertig war, setzte er sich zu Tom an den Tisch des karg eingerichteten Wohnzimmers. »So, nun können wir konkreter werden. Die wichtigsten Vorbereitungen sind abgeschlossen«, sagte er.

Tom nickte eifrig und zeigte Wimille die Dinge, die er aus Veyrons Arbeitszimmer mitgebracht hatte. »Und dann wäre da noch das Daring-Schwert«, verkündete er, streckte die Hand in die Luft und rief den Geist von Professor Daring, der in der magischen Klinge steckte. Wie aus dem Nichts materialisierte das Schwert in Toms Hand; das feine Juwelenmuster seiner Klinge leuchtete blau. Tom reichte Wimille die Waffe, der sie mit professionellem Interesse untersuchte.

»Überraschend leicht«, stellte er fest, als er das Heft in die Hand nahm. Probehalber schwang er sie einmal nach links und dann nach rechts. »Lässt sich gut führen, hervorragend ausbalanciert. Einem Rapier nachempfunden, aber die Klinge ist etwas breiter und kürzer, der Griff massiver. Ein schön gestalteter Korb. Handarbeit, wie ich sehe.«

Er gab es Tom zurück, der die Waffe in seinen Gürtel steckte, wo sie sich von einem Augenblick zum nächsten in nichts auflöste.

Wimille hob interessiert die Augenbrauen. »Weißt du, wie dieses Materialisieren und Dematerialisieren funktioniert?«, wollte er wissen.

Tom zuckte mit den Schultern. »Es ist eine Zauberwaffe. Professor Lewis Daring, der zum Zaubererorden der Simanui gehörte, hat nach seinem Tod seinen Geist auf dieses Schwert übertragen. Und ich sage Ihnen, das Verschwinden und bei Bedarf Auftauchen ist noch einer der harmlosesten Tricks. Ich schätze, es hängt mit der Simarell zusammen, der Zauberkraft der Simanui«, versuchte er zu erklären.

Wimille machte ein missmutiges Gesicht. »Magie, Magie, Magie!«, rief er aus und hob in flehender Geste die Hände. »Warum lassen sich die Menschen mit solch billigen Antworten abspeisen? Der Begriff Magie, mein lieber Tom, steht für nichts anderes als ›Ich weiß es nicht‹. Hinter jeder Magie steckt zumeist nichts weiter als ein der Allgemeinheit unbekanntes technisches Verfahren unter Ausnutzung der Physik. In diesem speziellen Fall wohl Quantenphysik. Nur weil unsere Wissenschaft noch nicht alle Geheimnisse entschlüsseln konnte, haben wir es hier noch lange nicht mit Zauber zu tun.«

Tom musste kurz schmunzeln. Wimille wirkte wie ein Oberlehrer, der an der Ahnungslosigkeit seines Schülers verzweifelte. Ein Wesenszug, den sich die Swift-Brüder teilten. Eben wollte er etwas zu Wimille sagen, als es plötzlich klingelte – nicht der schrille Ton von vorhin, sondern ein ganz normales, angenehmes Klingeln. »Moment mal«, sagte Tom verwirrt.

Wimille gestattete sich ein listiges Lächeln. »Die richtige Klingel ist die zweite von unten. Ich habe nach unserer Rückkehr nur schnell das Namensschild ausgetauscht, um die Nachbarschaft nicht mitten in der Nacht aufzuscheuchen. Ich erwarte nämlich wichtigen Besuch – von der Polizei«, erklärte er, wirbelte auf den Absätzen herum und verschwand im Treppenhaus.

Tom fühlte sich nach dieser Offenbarung ein wenig unbehaglich. Warum sollte Wimille die Polizei ins Haus bestellen, obendrein noch diskret? Wollte Wimille ihn verraten, um ihn hier in London festzusetzen und allein nach Felixstowe zu fahren?

Einen Moment später kehrte Wimille zurück, in den Händen ein in Plastik eingeschweißtes Päckchen. Von Polizeibeamten war nichts zu sehen. Wimille riss ungeduldig die Folie vom Päckchen und öffnete es dann. Triumphierend zeigte er Tom den Inhalt. »Das Schwarze Manifest!« Mit kindlicher Begeisterung schlug Wimille das abscheuliche Machwerk auf, blätterte ein paar Seiten vor und dann zurück.

»Woher haben Sie das?«, fragte Tom finster.

Wimille warf ihm das Buch zu. »Es gehörte einem gewissen Henry Fowler«, sagte er.

Tom schauderte. Es war wahrhaftig das Buch dieses widerwärtigen Frauenmörders. Am liebsten hätte er es weggeworfen, so weit wie nur irgend möglich. Dann stockte er. »Moment mal! Henry Fowler wurde verhaftet, und dieses Buch ist ein Beweismittel. Es sollte eingelagert sein!«, protestierte er.

Wimille zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ich habe es anfordern lassen. Im Namen von Commissioner Hopkins. Der Polizist an der Tür machte zwar ein komisches Gesicht, aber letztlich befolgte er ja nur seine Anweisungen«, erklärte er.

Tom musste lachen. Noch eine Gemeinsamkeit, welche sich die Swift-Brüder teilten. »Sie haben Hopkins’ dienstinternen E-Mail-Account gehackt? Mann, kein Wunder, dass Veyron immer mit seinen krummen Dingern durchkommt«, meinte er.

Wimille wollte das nicht weiter kommentieren, sondern deutete auf das Schwarze Manifest und räusperte sich in seiner Oberlehrer-Art. »Zurück zum Thema! Das Buch ist wichtig. Du wirst es benötigen, um dich als Anhänger der Schwarzen Horde auszugeben.«

Toms Abscheu verwandelte sich schlagartig in Neugier. »Was ist die Schwarze Horde?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, mein Junge«, erwiderte Wimille mit unpassender Fröhlichkeit. »Aber darum geht es in der Einleitung. ›An alle Anhänger der Schwarzen Horde‹, lautet der Aufruf. Ich schlage vor, du studierst es. Am besten fängst du damit jetzt an.« Pfeifend verschwand Wimille in einem Nebenzimmer und schloss ab.

Tom legte das Schwarze Manifest auf den Tisch. Widerwillig schlug er es auf und begann zu lesen. Weit kam er damit nicht. Er schaffte gerade die Einleitung, in der von Verschwörungen die Rede war und davon, dass man aus dem ›goldenen Käfig‹ ausbrechen müsse, welcher von den ›Institutionen‹ geschaffen worden sei, um die Gesellschaft zu kontrollieren, dann fielen ihm die Augen zu, und er schlief über dem Schwarzen Manifest ein. Die kurze und aufregende Nacht forderte ihren Tribut.

 

Als er wieder aufwachte, schien bereits die Sonne durch die Fenster herein. Er fand sich auf der einzigen Couch in Wimilles Wohnung wieder. Sein Gastgeber selbst war nirgendwo zu finden, dafür aber ein Zettel mit ein paar Informationen: Er sei einkaufen gefahren, um sich neu einzukleiden, und er schlage Tom vor, dies ebenfalls zu tun. Veyrons Bruder hatte ihm sogar genaue Anweisungen hinterlassen, was er sich kaufen sollte und wo er die Sachen am besten bekäme. Des Weiteren legte ihm Wimille einen Besuch beim Friseur nahe, ebenfalls mit genauen Anweisungen Haarschnitt und Farbe betreffend.

Tom konnte nur den Kopf schütteln. »So was ziehe ich bestimmt nicht an. Verunstalten lasse ich mich nicht«, murmelte er.

Auf dem Tisch fand er noch einen weiteren Zettel:

Tu es! Oder wir haben heute Nacht nicht die geringste Chance!

W.S.

Tom seufzte. Auch das noch!

Also fuhr er mit dem Bus in die Stadt und besorgte die geforderten Sachen: alles in Schwarz. Am schlimmsten fand er die schweren Stiefel und die dicken Ledersachen, in denen er sich nur eingeschränkt bewegen konnte. Beim Friseur ließ er sich einen Schnitt mit Linksscheitel verpassen, sein krauses Haar glätten und das natürliche Rotblond von einem tiefen Schwarz überdecken.

»Ich sehe aus wie ein Zombie«, meinte er zu Wimille, als sie sich kurz nach Mittag wieder in 213 Gloucester Crescent trafen.

»Hast du das Buch nicht gelesen? Es schreibt sehr detailliert vor, wie sich die Anhänger der Schwarzen Horde zu kleiden haben, um sich von der fehlgeleiteten Masse abzuheben und sich untereinander zu erkennen«, meinte er vorwurfsvoll.

Tom seufzte. »Ich bin eingeschlafen, hab’s nicht mal über die Einleitung hinaus geschafft«, gab er zu.

Wimille schaute ihn tadelnd an. »Ich weiß. Zum Glück konnte ich letzte Nacht noch etwas Zeit erübrigen, um rund zweihundert Seiten zu lesen. Ein interessantes Machwerk, ganz eindeutig mit dem Ziel, verlorene Seelen zu manipulieren und in die Arme dieses Teufels, des Dunklen Meisters, zu treiben.«

Nun zeigte Wimille auch seine Einkäufe vor: ein teurer Smoking, ebenso kostspielige Lackschuhe und – was Toms Verwunderung noch steigerte – ein Sack voller Golfbälle.

»Was wollen Sie denn mit denen?«, fragte er.

Veyrons Bruder gluckste vergnügt. »Ich nehme an, du würdest es Magie nennen. Ich dagegen nenne es eine kleine technische Spielerei. Du wirst es sehen, wenn es so weit ist. Ruh dich derweil noch etwas aus, sammle deine Kräfte. In zwei Stunden fahren wir nach Felixstowe. Dann geht es um Leben und Tod.«

Während Wimille in seinem Arbeitszimmer verschwand, studierte Tom die jüngsten Nachrichten auf seinem Smartphone. Die letzte Nachricht von Jane besagte, dass Veyron und sie in einer Stadt namens Bistritz angekommen seien, wo sich irgendwo der Durchgang nach Elderwelt befinde. Tom hatte kein gutes Gefühl dabei, Jane mit seinem Patenonkel allein zu lassen, aber in Wahrheit konnte er gar nichts dagegen tun. Selbst wenn er jetzt sofort nach Elderwelt aufbräche, käme er an einem ganz anderen Punkt heraus als Veyron und Jane. Er hatte nicht einmal den Hauch einer Vorstellung, wo sich das Reich der Seelenkönigin befand. Wahrscheinlich bräuchte er Wochen, um von Fabrillian oder Talassair in jenes Reich zu kommen. Und dann könnten Jane und Veyron längst wieder zu Hause sein und ihrerseits Tom suchen.

Nein! Das alles würde nur in einem sinnlosen Teufelskreis enden. Klüger wäre es, Veyrons Angelegenheit vollkommen zu vergessen und sich voll und ganz darauf zu konzentrieren, Ernie Fraud vor der ZTC und der Schwarzen Horde zu retten.

Mit dem VW Käfer ging es kurz darauf nach Felixstowe. Während der Fahrt hatten sich Tom und Veyrons Bruder nicht viel zu sagen. Wimille trug den sündhaft teurer aussehenden Smoking und hatte sich die Haare mit reichlich Gel nach hinten gestrichen, er dagegen trug seine schwarzlederne Rockerkluft. Ein größerer optischer Kontrast zwischen ihnen war eigentlich gar nicht möglich. Er fragte sich, was Wimille damit wohl bezwecken wollte. Abermals kamen ihm Zweifel, ob der Mann auch wirklich denselben messerscharfen Verstand besaß wie sein Bruder, oder ob er schlichtweg verrückt war.

Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie die große alte Hafenstadt an Englands Ostküste. Die gewaltige Hafenanlage mit ihren hoch aufragenden Lastenkränen war schon aus weiter Ferne auszumachen und bildete einen starken Kontrast zu den altehrwürdigen Gebäuden der Stadt.

Sie hatten den Hafen kaum erreicht, als sie auch schon die Zaltic Asp ausfindig machten. Wie ein Turm ragte sie auf, jenes Containerschiff, auf dem Ernie Fraud sein Schicksal zu besiegeln gedachte – falls Tom es nicht in eine andere Richtung zu wenden vermochte. Mit dem pechschwarzen, wuchtigen Rumpf, dem breiten, runden Bug und den sich dagegen fast wie Spielzeug ausnehmenden schneeweißen Deckaufbauten wirkte die Zaltic Asp fast ein wenig anachronistisch im Vergleich zu den anderen modernen, meist eher farbig gehaltenen Containerschiffen. Jedoch verzwergte sie mit ihren rund vierhundert Metern Länge und 200.000 Tonnen Verdrängung nahezu alle anderen Schiffe in Felixstowe. In strengen, blutroten Lettern lief der Schriftzug der Zaltianna Trading Company von Bug bis Heck, als wollte die ZTC ihre Konkurrenten regelrecht bedrohen. Tausende winzig aussehender Container stapelten sich auf dem gewaltigen Oberdeck, die meisten nachtschwarz und mit dem Schriftzug der ZTC versehen, die wenigen andersfarbigen Container anderer Logistikunternehmen wirkten inmitten der dunklen Türme wie Fremdkörper.

Tom stellte fest, dass der ZTC-Bereich im Hafen der Einzige war, der durch einen doppelten Metallzaun abgeriegelt war. Bewaffnete Sicherheitsmänner in paramilitärischen Kampfanzügen patrouillierten am Zaun entlang. Besucher waren hier eindeutig nicht erwünscht.

Ich weiß nicht, ob Wimille verrückt ist, dachte Tom, als Veyrons Bruder mit einer an Irrsinn grenzenden Selbstverständlichkeit vor das Zugangstor fuhr. Aber ich bin es ganz sicher. Wie sollen wir denn da lebend wieder rauskommen?

Sofort flankierten zwei mit MPs bewaffnete Männer den himmelblauen Käfer. Tom wurde ganz mulmig im Magen. Klar, er hatte zwar schon schlimmere Situationen überstanden, aber diese Kerle waren schwer bewaffnet und viel trainierter als er. Ohne Veyron an seiner Seite fühlte er sich ein wenig schutzlos. Wimille kannte dagegen keine Ängste. In aller Seelenruhe kurbelte er die Scheibe herunter und reichte eine schwarze Checkkarte nach draußen, ohne den Mann anzusehen, der sie mit einiger Verwunderung entgegennahm und sie durch einen Scanner am Tor zog. Sofort summte die elektronische Entsperrung, was die beiden Wachen ebenso zu überraschen schien wie Tom. Respektvoll gab der Mann Wimille die Karte zurück. Ohne einen von beiden anzusehen, gab Wimille Gas, und sie drangen auf das Gelände der ZTC vor.

»Was war denn das jetzt?«, fragte Tom flüsternd.

»Eine ZTC-Zugangskarte, Priorität Ultra, Management Control Department«, erklärte Wimille gelassen.

Tom riss überrascht die Augen auf.

Ein flüchtiges, triumphierendes Lächeln huschte über Wimilles dünne Lippen; ganz ähnlich dem seines Bruders. »Das Management Control Department ist die gefürchtetste Abteilung in der Hierarchie der ZTC. Die Manager dort feuern Leute nach Gutdünken, mit sofortiger Wirkung. Kündigungsschutz hat bei ihnen niemand. Veyron fand heraus, dass sie recht unlautere Methoden beherrschen, um unliebsame Mitarbeiter oder anderweitig lästige Menschen loszuwerden. Erpressung zum Beispiel, oder Mord«, erklärte Wimille. »Für dich bin ich von jetzt an Direktor Swift.«