Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen

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Sari: Veyron Swift #4
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Inzwischen hatte sie sich fast ein Dutzend Meter von Tom und Wimille entfernt. Der seltsame Kauz referierte gerade über die Unzulänglichkeiten dieser Wasserstofftanks und wie man sie besser und sicherer bauen könnte. Er klang dabei wie ein Lehrer. Echt langweilig.

Dann entdeckte sie am Boden etwas, das ihre Aufmerksamkeit gefangen nahm. Kleine, runde Hügel, eher nur Kuppeln aus Sand oder Geröll in der Größe halber Fußbälle. Sie war sich sicher, dass die bis vor einem Moment noch nicht da gewesen waren. Vorsichtig näherte sie sich ihnen, um sie genauer zu untersuchen. Hatte es nur den Anschein, als würden sich diese Dinger bewegen – oder wirkte es nur so, weil es dunkel war?

»Hey«, rief sie Tom und Wimille zu. »Seht euch mal das an.«

Als hätte sie damit ein Stichwort gegeben, explodierten die Kuppeln in Wolken aus Sand und Staub. Heraus sprangen schwarz gekleidete Ungeheuer. Vanessa war im ersten Moment starr vor Schreck, sie schienen aus dem Boden zu wachsen wie groteske Pilze: menschlich von Größe und Gestalt, die Gesichter jedoch grausige Fratzen. Für einen Augenblick schien die Welt stillzustehen. Überdeutlich sah sie die Bestien, deren Hautfarbe von Aschgrau bis Schwefelgelb changierte. Wulstige Narben glänzten im Mondlicht, und mit Entsetzen sah sie, dass einige von ihnen auf schlecht verheilten Knochenbrüchen daherschlurften. Die Augen der Monster glommen in der Dunkelheit wie die von Raubtieren, schleimiger Sabber glänzte auf gelben, teilweise verfaulten Zähnen, als sie ihre schwarzen Münder aufrissen und hechelten, als freuten sie sich bereits auf die Mahlzeit. Scheiße, die fressen mich auf, dachte Vanessa in heller Panik. Kreischend wirbelte sie erneut herum und rannte. Die geifernden, fauchenden Unholde waren sofort hinter ihr her, schwangen Dolche und schartige Säbel in ihren Klauen.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass auch Wimille und Tom von diesen Unholden angegriffen und zurückgetrieben wurden. Eine ganze Gruppe der Bestien schnitt Vanessa den Weg ab. Verzweifelt sprang sie auf Tom zu und klammerte sich an ihm fest. Wimille Swift, der sich eben noch gewehrt hatte, schien plötzlich zur Salzsäule erstarrt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die Ungeheuer an, als könne er vor Angst keinen Muskel rühren. »Tom, was sind das? Was sind das für Monster?«, heulte sie verzweifelt.

»Schrate«, rief Tom ungläubig. Die Kerle umkreisten sie, fauchten und grölten, lachten und drohten ihnen mordlüstern mit ihren Waffen. Wo waren die auf einmal hergekommen?

Er wollte schon das Daring-Schwert zu sich rufen, überlegte es sich jedoch anders. Wenn er jetzt zu den Waffen griff und die Unholde niederstreckte, würde ihre Tarnung auffliegen. Vielleicht gab es einen anderen Weg aus dieser Klemme. Cool bleiben, entschied er. Wimilles leichenblasses Gesicht deutete darauf hin, dass von ihm diesmal kaum Hilfe zu erwarten wäre. Also musste er nun die Rolle spielen, die ihm von Anfang an zugedacht war.

»Die sehen aus wie Orks«, meinte Vanessa voller Angst.

Das empörte die Schrate, einer sprang vor, um sie anzugreifen, seine scharfen, schiefen Zähne fletschend. Tom schob sich schützend vor Vanessa.

»Ein Ork sollte dich mal in die Finger kriegen, du kleines Miststück!«, kreischte der Schrat. »Er würde dir das Gedärm rausreißen!«

»Genau, du dreckiges Flittchen! Wir sind nämlich zivilisiert und anständig«, fauchte ein anderer.

»Hey, beruhigt euch«, brüllte Tom die Schrate an, die daraufhin überrascht zurückwichen. »Seht ihr nicht, wer wir sind? Das hier ist Direktor Swift vom Management Control Department!«

»Und wir sind die Schwarze Horde«, konterte ein großer, bulliger Schrat-Hauptmann, dessen Unterkiefer arg in die Breite wucherte. Seine Zähne ragten wie Hauer aus dem Maul und reichten fast bis unter seine krumme Nase.

»Wir auch, Mann. Ich bin Henry Fowler«, erwidert Tom so furchtlos, wie er konnte. Mit Schraten war nicht einfach umzugehen, das hatte er inzwischen gelernt. Am sichersten war es, sie sofort zu erschlagen, aber diese Option erschien momentan ausgesprochen unklug.

»Ausweisen, aber plötzlich«, kollerte der Hauptmann unbeeindruckt.

Tom stupste Wimille an. Der griff zitternd unter sein Jackett und fischte seine ID-Karte heraus. Mit einem ungehaltenen Knurren nahm sie der Hauptmann entgegen. Aus dem Gürtel holte er ein kleines Kartenlesegerät und zog Wimilles Ausweis durch. Tom erschrak regelrecht, mit welcher Selbstverständlichkeit dieses primitive, stumpfsinnige Ungeheuer mit derart fortschrittlicher Technologie umzugehen verstand.

Als eine grüne Diode aufzuleuchten begann, schien der Hauptmann zufrieden und gab Wimille die Karte zurück. Der steckte sie sofort wieder ein, dabei wie hypnotisiert die Schrate anstarrend.

»Da pisst ihr MCD-Typen euch ganz schön in die Hose, wenn ihr die wirkliche Schwarze Horde seht – und nicht diese weichgespülten Menschlein, was?«, lachte der Hauptmann.

Gackernd und krächzend fielen seine Artgenossen mit ein. Plötzlich trat Vanessa vor, was die Schrate sofort wieder in Verteidigungsstellung gehen ließ.

»Was ist mit Ernie? Könnt ihr uns sagen, wo wir Ernie finden? Bitte, ich muss es wissen.«

Verdutzt starrten sich die Schrate an. Einer tippte sich an die Stirn, die anderen lachten abfällig.

»Nie gehört«, meinte der Hauptmann kalt.

»Ein Junge, so alt wie wir. Er muss gestern hier angekommen sein«, versuchte Vanessa die Sache zu erklären.

Tom fand es erstaunlich, wie schnell sie ihre Angst beiseiteschob, wenn es um Ernie ging. Als wären die Schrate nette Verkehrspolizisten, die man mal eben nach dem Weg fragen konnte …

Die Schrate wurden still und schauten einander an.

»Ach der … Den werdet ihr schon noch kennenlernen! Ihr geht jetzt nach Seramak runter und begleitet den Direktor zur Unterkunft. Nachts herrscht ein strenges Ausgehverbot! Morgen meldet ihr euch im Rekrutierungsbüro, sonst setzt’s was«, bellte der Hauptmann und wedelte in Richtung Norden, wo die Lichter der fremden Stadt lagen.

Tom salutierte zackig, was die Schrate jedoch nur gackernd auflachen ließ.

»So ein Blödsinn! Deine Späßchen werden dir schon noch vergehen, Schwarzlocke! Abmarsch!«, brüllte der Hauptmann.

Tom nickte, nahm Wimille und Vanessa bei der Hand und führte sie rasch fort. Die ganze Zeit spürte er die bohrenden Blicke der Schrate in seinem Rücken, ihre Mordgier schien beinahe greifbar. Noch nie in seinem Leben hatte ihn ein so ungutes Gefühl geplagt. Schrate im Rücken, sein Leben von deren Wohlwollen abhängig, Vanessa Sutton unsterblich in diesen irren Ernie verschossen und Wimille Swift vor Angst zu nichts mehr zu gebrauchen.

Da steckte er ja in einem sauberen Schlamassel!

5. Kapitel: Im Reich der Seelenkönigin

Jane und Veyron waren von der Seelenkönigin einfach auf dem Platz mit dem Weltentor stehen gelassen worden. Bedrückt vermerkte Jane, dass sich der Platz mehr und mehr leerte, bis sie beide die einzigen lebenden Wesen auf dem Hof waren. Sie machte Veyron Vorhaltungen, in welchen Schlamassel er sie da nun wieder hineinmanövriert hatte, doch der ging kaum darauf ein.

»Machen wir das Beste draus, Willkins«, war alles, was er zu sagen wusste.

Als wäre die ganze Misere nichts anderes als ein Sonntagsnachmittagsausflug, spazierte er über den Hof und untersuchte verschiedene Nischen und Türen. Wie sich herausstellte, ruhten die Gebäude der Burg auf der Spitze eines zehn Meter hohen Felsens. Der Hof, auf dem sie sich befanden, war nichts weiter, als der eingeebnete, gepflasterte Gipfel, der mit der Befestigungsmauer auf einer Ebene lag. Über eine in den Fels getriebene Treppe gelangte man schließlich in den unteren Teil der Burg.

Veyron trat er an die Zinnen der Brustwehr und schaute auf das Land hinaus. Jane ging ihm hinterher, doch viel gab es dort nicht zu sehen. Ansmacht, wie das Reich der Seelenkönigin genannt wurde, hatte sich an diesem Tag fast vollständig in Nebel gehüllt. Ratlos, was sie tun sollte, setzte Jane sich auf den Boden vor dem Weltentor. Wieso hatte sie sich bloß zu diesem Irrsinn bequatschen lassen? Veyron hatte sie, während er mit fast kindlicher Begeisterung jedes Detail der Burg inspizierte, vollständig ignoriert. Du musst total den Verstand verloren haben, Jane, dachte sie. Veyron hat mein Loyalitätsgefühl ausgenutzt! Immer wieder macht er das!

Aber du hättest ja nur ›Nein‹ sagen müssen, meldete sich ein anderer Teil ihres Verstandes. Die Wahrheit war, dass sie einfach der Versuchung nicht hatte widerstehen können, nach Elderwelt zurückzukehren. Allerdings hatte sie auf einen weitaus gastfreundlicheren Ort spekuliert. Selber schuld. Jetzt musste sie – genau wie Veyron es gesagt hatte – das Beste daraus machen.

Es war etwa eine Stunde seit ihrer Ankunft vergangen, als zwei Sklaven aus dem Hauptgebäude der Burg traten, ein Junge und ein Mädchen, beide noch sehr jung, aber armselig gekleidet. Eiserne Manschetten an den Handgelenken zeugten von ihrem Status, das Zittern ihrer Gliedmaßen und die Blässe im Gesicht von ihrer Furcht. Sie traten vor Jane und verbeugten sich artig.

»Ich bin Uric und das ist Femoin«, stellte der Junge sich und das Mädchen vor. »Wir sollen Euch und Meister Swift in Eure Gemächer bringen. So lautet der Befehl der Königin«, stotterte er.

Jane erkannte sofort, dass er die Worte auswendig gelernt hatte. Seine Aussprache war miserabel, sehr wahrscheinlich sprach er gar kein Englisch. Sie nickte zustimmend, was die beiden jungen Leute sichtlich erleichterte, und rief Veyron. Interessiert kam er näher. Rasch erklärte sie ihm den Sachverhalt, worauf er den beiden Sklaven aufmunternd zulächelte.

 

»Dann lasst uns mal sehen, wo uns die Königin unterzubringen gedenkt«, meinte er.

Uric und Femoin schauten sich nur verwirrt an. Veyrons Lächeln wurde noch gutmütiger. Schließlich nickte auch er in freundlicher Zustimmung. Die Sklaven verbeugten sich gehorsam, dann eilten sie davon, Jane und Veyron hinterdrein.

Das Innere der Burg stand in Sachen Tristheit dem Äußeren in nichts nach. Die Mauern waren alt, unverputzt, und abgesehen von ein paar Fackelhaltern gab es weder Zierrat noch Wandteppiche oder Gemälde, nichts, woran sich das Auge zu erfreuen vermochte. Dafür entdeckte Jane an allen Ecken und Biegungen die schwarzen Wachen der Seelenkönigin. Sie alle blickten starr und leer aus trüben Augen vor sich hin, rührten sich keinen Millimeter, schauten ihnen nicht einmal entgegen. Als sie an zwei weiteren Wachen vorbeikamen, konnte Jane der Versuchung nicht widerstehen. Blitzschnell berührte sie einen der Männer, doch nicht einmal ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Da können selbst die Grenadier Guards der Königin noch was lernen, dachte sie beeindruckt. Wahrscheinlich standen sie alle unter dem Einfluss der Seelenkönigin und konnten sich gar nicht bewegen, selbst wenn sie wollten. Arme Kerle, befand sie.

Uric und Femoin führten sie eine hohe Treppe hinauf. Im zweiten Stock des Hauptgebäudes öffneten sie eine schwere Holztür und deuteten hinein. »Meister Swift«, sagte Uric und versperrte Jane den Weg, sodass nur Veyron hineingehen konnte.

Jane erhaschte dennoch den Blick auf ein karg eingerichtetes kleines Zimmer, das außer einem Waschzuber nur ein Bett und einen kleinen Nachttisch enthielt. Veyron schien dennoch zufrieden und nickte den Sklaven zu. Sie verbeugten sich abermals, schlossen vorsichtig die Tür und führten Jane dann weiter. Drei Türen weiter lag Janes Zimmer, ein Raum mit identischen Maßen, der aber immerhin über ein Fenster nach draußen verfügte. Na ja, Schießscharte traf es wohl eher. Sie entdeckte zumindest kein Fensterglas, und die Öffnung schien allenfalls breit genug, um den Kopf hinauszustrecken. Vorsichtig setzte sie sich auf das Bett, nur um festzustellen, dass es überraschend bequem war. Auf dem Nachttisch standen zwei halb abgebrannte Kerzen. Anders als in Veyrons Unterkunft fehlte in ihrem Zimmer der Waschzuber.

»Können wir sonst noch etwas für Euch tun?«, fragte Uric neugierig.

Jane sprang überrascht auf. »Ich dachte, Ihr zwei sprecht meine Sprache gar nicht!«, rief sie aus.

Die Sklaven sahen sich betreten an, dann wandten sie sich wieder Jane zu. »Haben wir auch nicht«, sagte Uric.

»Sie hat es getan«, wisperte Femoin und deutete vielsagend nach oben. »Sie gab uns vorhin dieses Wissen. Es schmerzt sehr«. Sie tippte sich mit zwei Fingern gegen die Schläfen.

Jane verstand. Die Seelenkönigin und ihre telepathische Kontrolle. Sie hatte ihre Sprachkenntnisse auf die beiden jungen Leute übertragen. Offenbar war das kein sonderlicher Spaß und obendrein schmerzhaft.

»Bitte, können wir sonst noch irgendetwas für Euch tun?«, fragte Uric erneut. Er wirkte fast flehend, als wollte er nicht weg von Jane.

Zu gern hätte sie allerhand erfunden, das ihr Hierbleiben nötig machen würde, doch in diesem Augenblick packte Femoin Uric am Arm und schüttelte den Kopf.

»Mach sie nicht wütend«, warnte sie ihn und deutete zur Decke. Mit Tränen in den Augen wandte sich Uric ab und trat in den Gang.

Mit bedauernder Miene folgte ihm Femoin. »Schlaft gut«, raunte sie Jane zu, dann schloss sie die Tür.

Kaum war sie allein, nahm Jane ihren Rucksack ab und stellte ihn neben das Bett. An Einschlafen war nicht zu denken. Das Schicksal der beiden Sklaven wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Lange saß sie ratlos auf dem Bett, bis die Einsamkeit sie übermannte. Veyrons Gesellschaft war besser als keine, entschied sie und machte sich auf den Weg zu seinem Gemach. Auf ihr Klopfen reagierte er nicht, und als sie die Tür öffnen wollte, fand sie diese abgesperrt. Enttäuscht und wütend kehrte sie in ihren eigenen Raum zurück und verbrachte die restlichen Stunden bis Sonnenuntergang damit, aus dem kleinen Fenster zu starren. Jane begann sich zu fragen, was Tom während ihrer Abwesenheit wohl anstellte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und studierte die letzten Nachrichten.

- Bin unterwegs!

- Bin bei Veyrons Bruder. Schwarzes Manifest! Veyron Bescheid geben!

- DRINGEND!!!

- ZTC-Alarm!

- Wimille und ich schlagen zu. Wünscht uns Glück.

Jane biss sich auf die Lippe. Die letzten Nachrichten hatte sie gar nicht an Veyron weitergegeben, zu aufregend war die ganze Reise mit der Seelenkönigin gewesen. Aber sicherlich hatte Tom die gleichen Nachrichten auch an seinen Patenonkel geschickt, und die Meldungen an Jane waren nur zur Absicherung, damit Veyron auch sicher über alles Bescheid wusste. Musste sie sich Sorgen machen? Gerade harmlos klang es nicht, was er schrieb. Aber Tom war ein kluger Junge, der schon zahlreiche Abenteuer bestritten hatte. Ihm würde schon nichts passieren. Bestimmt war er vernünftig genug, mit irgendwelchen gefährlichen Aktionen bis zu Veyrons Rückkehr zu warten.

Mit einem unguten Gefühl im Magen steckte sie das Telefon wieder weg und legte sich aufs Bett. Seit ihrer Ankunft hatten sie die Seelenkönigin nicht mehr zu Gesicht bekommen, und auch sonst keinen Offiziellen von Ansmacht – sofern es die überhaupt gab und sie keine Zombies waren. Von Höflichkeit hielt die Dame nicht viel, aber was hatte sie erwartet? Durch die Schießscharte sah sie die letzten Strahlen Sonnenlicht ins Zimmer fallen, dann wurde es dunkel. Nach all der Aufregung setzte ihr die Müdigkeit überraschend schnell zu. Schließlich schlief sie ein.

Doch die Träume brachten ihr keinen Frieden. Immer wieder erschien die monströse Fratze des Bestiengenerals in ihrem Traum, immer wieder verwandelte er sich vor ihren Augen in ein fliegendes Ungeheuer. Dunkelwölfe lauerten in den Schatten, ihre roten Augen starrten sie an, fletschten die Zähne. Dann war da Veyron, der sie ständig ignorierte, wenn sie etwas zu ihm sagte, bis sie schier verzweifelte, und die Seelenkönigin. In ihren Träumen kam sie mehr als einmal durch irgendeine Tür herein und begutachtete sie von oben bis unten, um auf geisterhafte Weise wieder zu verschwinden.

Janes Träume liefen wie ein Film weiter. Einmal stand plötzlich ein Schatten mitten in ihrem Zimmer. Mannshoch überragte er ihr Bett. Jane wurde ganz mulmig, und sie rief um Hilfe, doch keine Silbe drang aus ihrem Mund. Der Schatten beugte sich über sie, das Mondlicht enthüllte ein teuflisches Grinsen in seinem Gesicht. Sie erkannte es wieder, dieses Gesicht: Dunkelgrau war es, uralt und ausgetrocknet wie bei einer Moorleiche, umrahmt von dünnem, schlohweißem Haar. Der Blick aus den tiefschwarzen Augen heftete sich auf Jane. Auf dem Haupt trug die Gestalt eine Krone aus acht Zacken. Der Schattenkönig! Der Dämon, der sie letztes Jahr fast getötet hatte.

Mit einem Schrei sprang Jane in die Höhe, spürte einen stechenden Schmerz in der Hüftgegend, genau da, wo der Schattenkönig sie getroffen hatte. Instinktiv fasste sie sich an die Stelle. Augenblicklich verschwand die Pein. Panisch sah sie sich in ihrem Zimmer um.

Es war noch immer dunkel, aber vom Schattenkönig fehlte jede Spur – es war nur ein Traum gewesen! Erleichtert sackte Jane zusammen. Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Vom Schattenkönig hatte sie lange nicht mehr geträumt. Was das wohl zu bedeuten hatte? Es muss an der Finsternis liegen, die diese Gemäuer ausstrahlen, vermutete sie.

Sie nahm ihren Rucksack zur Hand und kramte darin herum, bis sie ein Feuerzeug fand. Schnell entflammte sie die beiden Kerzen auf dem Nachttisch und legte sich dann wieder hin. Ohne Licht würde sie hier auf keinen Fall mehr ein Auge zu tun. Und morgen würde sie sich Veyron vorknöpfen. Wer, wenn nicht er, war an dieser misslichen Lage schuld …

Am nächsten Morgen, die Sonne war gerade erst aufgegangen, suchte Jane nach Veyron. Diesmal fand sie seine Zimmertür offen vor, doch der Mann selbst war nicht anwesend. Auf dem kleinen Nachttisch hatte er eine Nachricht hinterlassen. Mache eine kleine Exkursion. Verärgert zerknüllte Jane den Zettel und warf ihn in die Ecke. Für ihren Geschmack zeigte Veyron bei der ganzen Sache viel zu viel Begeisterung, und es schien ihr offensichtlich, dass er ihr aus dem Weg ging, seit sie hier angekommen waren. Sie begann sich zu fragen, warum er sie überhaupt auf dieses Abenteuer mitgenommen hatte. Aber so leicht würde sie es ihm nicht machen, einfach nur still und stumm der Dinge zu harren, die da kommen würden.

Entschlossen verließ sie sein Zimmer und marschierte schnurstracks den Korridor hinunter. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, die regungslosen Wachen nach Veyron zu fragen. Sie schienen sich seit gestern überhaupt nicht bewegt zu haben. Ihre trüben Augen starrten noch immer ins Nichts.

»Ihr wisst auch nicht, wo sich Veyron befindet, oder?«, seufzte sie, wohl wissend, wie hoffnungslos es war, diese armen Teufel überhaupt anzusprechen. Umso erstaunter war sie, als einer der Männer plötzlich vortrat, herumwirbelte und ihr mit einem Handzeichen bedeutete, ihm zu folgen. Jane tat, wie ihr geheißen, erfüllt von einem überaus mulmigen Gefühl. Der Wächter führte sie den Gang entlang, an dessen Ende eine schwere Holztür lag, die von zwei weiteren Wachen flankiert wurde. Die Männer öffneten die Tür, als sich Jane mit ihrem Begleiter näherte, und traten zur Seite. Eine Wendeltreppe führte einen Turm hinauf, und die Kerle machte Gesten, dass sie diesem Weg folgen solle, offenbar allein, denn sie blieben stehen und rührten sich keinen weiteren Zentimeter. Jane schluckte, folgte aber widerwillig den wortlosen Anweisungen. Stufe für Stufe ging es nach oben, während sich hinter ihr die Tür schloss.

Am Ende der Treppe gelangte sie in ein großes, geräumiges Zimmer, beinahe eine Halle, die wohl das ganze oberste Stockwerk des Turms einnahm. Ein Bett stand hier, groß genug, um mindestens sechs Personen aufzunehmen, mehrere schwarze Schränke und ein großer Tisch, der von zahlreichen Stühlen umstanden war. Dunkle Vorhänge verdeckten die kahlen Wände, abgesehen von einer einzigen Stelle. Dort durchbrach ein riesiges, kreisrundes Fenster die Wand, seine Verglasung war eine netzartige Metallverstrebung eingefasst. Davor stand die Seelenkönigin und blickte nach draußen. Wie eine überdimensionale Spinne schien sie in den Fäden zu hängen und ihre Beute zu belauern.

Eben kam Jane in den Sinn, wie sehr sie Spinnen hasste. Die Dämonin trug wie gestern ihr gewaltiges, schwarzes Kleid. Mit Schaudern stellte sich Jane vor, dass darunter ganz leicht acht entsetzliche Spinnenbeine Platz fänden. Doch die Seelenkönigin schenkte ihr keinerlei Beachtung, ihr blasses Gesicht war auf die nebelverhangene Landschaft außerhalb der Burg gerichtet.

»Ihr habt Euch wohl schon von Euren Verletzungen erholt«, stellte Jane nach einer ganzen Weile unangenehmen Schweigens fest.

Ein arrogantes Lächeln flog über die schwarzen Lippen der Seelenkönigin. »Der Bestiengeneral vermag mich nicht zu töten. Ha! Dies ist ihm wahrlich noch nie gelungen! Dennoch habe ich offenbar nachgelassen. Es ist wohl schon zu lange her, dass ich jemanden eigenhändig tötete. Ich bin aus der Übung«, sagte sie.

Jane fröstelte. Mit welcher Selbstverständlichkeit dieses Ungeheuer von Mord und Totschlag sprach, entsetzte sie.

Die Seelenkönigin bemerkte ihre Reaktion, und ihr Lächeln wuchs in die Breite, entblößte ihre spitzen Raubtierzähne. »Wie schwach ihr Fernwelt-Menschen geworden seid! Alle, die ich dort traf, schrecken vor Grausamkeiten zurück. Ein jeder dort fürchtet Schmerzen beinahe ebenso wie den Tod. Die Gedanken der Fernweltler leisten noch weniger Widerstand als der Pöbel dort draußen. Es war mir ein Leichtes, sie alle zu übernehmen und zu kontrollieren«, verkündete sie, wobei sie die Fäuste in überheblicher Geste in die Hüften stemmte. »Teilte ich Eure Einstellung, Jane Willkins, ich wäre längst tot! Ich beherrsche dieses Land und sichere damit mein Überleben. Herrsche oder werde beherrscht, das ist die einzige Regel, die hier etwas zählt!«

Mit jedem Wort war die Stimme der Seelenkönigin fauchender geworden. Ein bösartiger Stolz schwang darin mit. Jane wollte am liebsten den Kopf schütteln, doch sie wagte es nicht. Veyron musste den Verstand verloren haben, sich mit diesem Monster einzulassen …

 

Plötzlich schnellte die Seelenkönigin vor, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. Sie umfasste ihren Kopf und hob sie ohne Schwierigkeiten vom Boden. Ihre schwarzen Augen studierten Jane ausgiebig, sie bleckte ihre Vampirzähne. Ein gieriges, lüsternes Lächeln flog über ihre dunklen Lippen. »Eure Furcht, sie ist beinahe greifbar … wie stimulierend. Das erregt mich … Ihr wärt ein so leichtes, so schönes Opfer …«, gurrte die Seelenkönigin.

Jane konnte sehen, welch diebische Freude über das schrecklich-schöne, blasse Gesicht unter ihr huschte. Eine regelrechte Verzückung begann die Dämonin zu erfüllen. Plötzlich änderte sich jedoch ihr Gesichtsausdruck, verwandelte sich in Furcht. Sie ließ Jane abrupt los, sodass sie zu Boden plumpste, und wich blitzschnell zurück. Wie vom Wahnsinn ergriffen taumelte die Seelenkönigin rückwärts. Ihre Furcht verwandelte sich in schiere Todesangst. Zitternd und wimmernd prallte sie gegen das große Netzfenster. Jane hoffte, dass es unter ihr zerbrach und diese abscheuliche Hexe in die Tiefe stürzte. Aber das Fenster hielt – leider.

»Er hat euch berührt«, wimmerte die Seelenkönigin, beide Hände zur Abwehr erhoben.

Die Dämonin fürchtete sich – vor ihr? Jane fand nach einem Moment der Verblüffung ihre Sprache wieder. »Wer? Von was redet Ihr?«

»Der Schattenkönig, die rechte Hand des Dunklen Meisters. Er ist mit Euch. Ich spüre seine Präsenz!«

Jane fasste sich an die Hüfte. »Er hat mich im letzten Jahr verletzt, das stimmt«, gab sie zu und zog ihr T-Shirt hoch, um ihr die Stelle zu zeigen. Zum Glück war längst alles verheilt, nicht einmal eine Narbe war geblieben.

Auf die Seelenkönigin schien dies tatsächlich eine beruhigende Wirkung zu haben. Erleichterung löste Panik und Entsetzen ab. »Also ist es nur ein Echo seiner Macht«, seufzte sie. Dann holte sie tief Luft, ihre Augenbrauen zogen sich drohend zusammen. »Seid froh, dass er Euch zuerst berührte. Sein Echo schützt Euch vor meiner Macht. Geht mir aus den Augen! Verschwindet, sofort!«, zischte sie.

Das ließ sich Jane nicht zweimal sagen. Ohne ein Wort des Abschieds wirbelte sie herum und stürzte zur Treppe. So schnell sie konnte, eilte sie nach unten, fort von diesem Scheusal.

Auf den Gängen stellte sich ihr keine einzige Wache in den Weg, alle Türen waren weit geöffnet. Jane wollte gar nicht mehr zurück in ihr Zimmer, nur noch nach draußen an die frische Luft. Sie hatte das Gefühl, als würde sie innerhalb dieser entsetzlichen Mauern keine Luft mehr bekommen. Und tatsächlich: Als sie den Burghof erreichte, fühlte sie sich frei. Aller Druck wich von ihr. Sie atmete ein paar Mal tief durch und lief dann erleichtert zu den Zinnen. Vielleicht könnte sie über die Brüstung nach unten klettern und fliehen? Sie musste auf der Stelle von hier weg. Aber schon der erste Blick hinab beerdigte diesen Wunsch sofort wieder. Die Mauern reichten bestimmt zehn Meter senkrecht in die Tiefe. Verflucht Veyron, warum haben Sie mich nur hierher geschleppt?, dachte sie wütend. Dann schloss sie die Augen, um etwas Ruhe in sich einkehren zu lassen. War dies wirklich alles Veyrons Schuld, oder lag es am dunklen Einfluss der Seelenkönigin?

Nach einer Weile öffnete sie die Augen und blickte über das Land. Der Großteil Ansmachts verbarg sich noch immer im Nebel, aber sie konnte heute immerhin weit genug sehen, um am Fuß der Burg ein Dorf auszumachen. Die Häuser waren allesamt ärmlich, kaum mehr als Holzverschläge, mit Stroh gedeckt, die Straßen nichts als Trampelpfade. Hinter dem Dorf lagen einige karge Äcker. Überhaupt schien die Vegetation in diesem Teil des Landes nur sehr spärlich entwickelt. Bäume und Sträucher wirkten allesamt kränklich und dürr. Was für eine trostlose Gegend, dachte Jane bedrückt. Die Leute, die unten an der Mauer vorbeimarschierten, wagten kaum aufzublicken. Dennoch hoben einige Jüngere den Kopf, schauten voller Staunen zu Jane auf. Die Älteren packten die Kinder am Kragen und duckten sie sofort wieder weg. Die Angst vor der Seelenkönigin war allgegenwärtig.

»Ach, da sind Sie ja. Guten Morgen, Willkins«, ließ sie Veyrons dunkle Stimme herumfahren. Mit einem entspannten Lächeln im Gesicht spazierte er zu ihr herüber, die Hände in die Taschen seines dunklen Mantels gestopft.

Sofort packte sie der Zorn, weil er nicht das geringste Anzeichen von Missmut oder wenigstens eines schlechten Gewissens zeigte. »Wo sind Sie gewesen? Warum gehen Sie mir aus dem Weg? Was soll das alles?«, fuhr sie ihn an, was ihn jedoch nur überrascht die Augenbrauen heben ließ.

»Na, Sie sind ja wieder pampig heute. Im Moment geselle ich mich zu Ihnen, also kann keine Rede davon sein, dass ich Ihnen aus dem Weg gehe. Falls Sie die verschlossene Tür gestern meinten, so stimme ich Ihnen insofern zu, dass ich mich isolierte, um in Ruhe meine Gedanken zu sammeln und zu ordnen. Nehmen Sie das nicht persönlich. Tom kennt das auch nicht anders, wenn ich in Klausur mit meinen Gedanken bin. Nun zu der Sache, wo ich eben gewesen bin: Ich studierte die Burg und fand eine Bibliothek. Unsere Gastgeberin ist sehr belesen. Allerdings werden Sie da keine Herzschmerzromane finden, Willkins«, erwiderte er, noch immer in bester Laune.

Jane verzog das Gesicht. Sie war wirklich nicht in der Stimmung, sich von ihm aufziehen zu lassen. »Sie sind genau wie dieses Land: karg und kalt«, murrte sie. »Wie kann man sich nur mit diesem Weibsbild einlassen? Sie ist ein Teufel!«

Veyron seufzte enttäuscht. »Ihr Weitblick ähnelt dagegen der Sichtweite in diesem Nebel. Erkennen Sie denn nicht die Vorteile, die uns diese Mission bietet? Wir haben hier die einzigartige Chance, mehr über die Schatten zu lernen als jemals irgendjemand zuvor. Dieses Wissen könnte uns später beim Kampf gegen den Dunklen Meister von immensem Wert sein.«

Jane schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dieses Miststück hat Sie verhext. Veyron, Sie haben Ihren Verstand verloren!«

Einen Moment lang erwiderte er nichts darauf, sondern blickte hinunter auf das Dorf, als hätte er sie gar nicht gehört. »Sehen Sie den Marktplatz? Da ist eine alte Händlerin, die gerade einem Mann etwas verkauft. Was schlussfolgern Sie, wenn Sie ihn betrachten?«, fragte er sie, statt auf ihren Vorwurf einzugehen.

Jane folgte seinem Fingerzeig. Da war tatsächlich eine alte Händlerin, die einem für Ansmachts Verhältnisse gut gekleideten Herrn ein paar Dinge verkaufte. Ein kleiner Junge stand neben dem Mann und tippelte unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Der Mann hat etwas gekauft. Spielzeug. Der Junge ist wahrscheinlich sein Sohn. Der Mann scheint recht gut betucht zu sein, wenn man seine Kleidung mit der aller anderen vergleicht. Die vielen Beutel an seinem Gürtel, hmm … bestimmt ist er ein reicher Kaufmann. Und er stützt sich auf einen Stock, hat also Schmerzen im Kreuz oder beim Gehen. Sehen Sie? Leute analysieren kann jeder, wenn man nur genau hinschaut.«

»Dann schauen Sie auch genau hin, Willkins«, konterte Veyron sofort. »Der Mann ist ein sehr angesehener Arzt und bekannt für seine Selbstlosigkeit. Obendrein ist er nicht nur Vater dieses Jungen, sondern auch noch eines Mädchens. Seine Frau ist schwanger, und er ist stolzer Besitzer eines kleinen, verspielten Hundes. Trotzdem ist er alles andere als reich und leidet den gleichen Hunger wie die meisten Einwohner hier. Körperliche Gebrechen weist er dagegen keine auf, weder am Bein noch an der Hüfte. Dafür aber eine Verletzung an der rechten Hand.«

Jane stand für einen Moment der Mund offen. Sie schaute noch einmal hinunter zu den drei Menschen und versuchte zu erkennen, was Veyron zu diesen Schlüssen brachte. Sie fand jedoch nichts, abgesehen von dem kleinen Verband an der rechten Hand. Der war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Okay, aber das war ja nur eine Kleinigkeit. Und überhaupt: Woher wollte Veyron wissen, dass der Mann einen Hund besaß? Geschweige denn Vater eines Mädchens war!