Eigentlich ganz einfach

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Sie zuckte jedoch wieder zurück, als ich meinerseits nicht gleich antwortete, sondern nur mit großen Augen zurück schaute. Offensichtlich war sie sich nicht ganz sicher wie diese Feststellung bei mir ankommen war.

Unser Gespräch verlief bisher viel lockerer und angenehmer, als ich und wahrscheinlich auch Frau Berger von solchen Interviews gewohnt waren. Aber würde ich es auch lustig finden, wenn man mir sagt ich sähe nicht unterernährt aus?

Ihre Sorge war natürlich völlig unbegründet. Ganz objektiv betrachtet, also eben aus meiner Sicht, habe für mein Alter eine eher jugendliche Figur.

Nicht, dass ich einen unterernährten Eindruck machen würde, doch übergewichtig bin ich bestimmt nicht, höchstens vielleicht ein klein wenig untergroß. Überhaupt sehe ich jünger aus, als man dies durch simple Subtraktion meines Geburtsjahrs vom aktuellen Jahr erwarten würde. Meine Frau bestreitet dies manchmal, aber vermutlich will sie mich nur necken oder sie hat – sorry – keine Ahnung. Soll sie mich doch mal neben meine Schulkameraden hinstellen. Wirklich, ganz objektiv: kein Vergleich - finde zumindest ich.

Nicht, dass ich Probleme mit meinem Alter hätte, hatte ich eigentlich nie. Dass ich viele Jahren lang immer wieder den 29. Geburtstag gefeiert habe und dies heute noch tue, hat damit überhaupt nichts zu tun. Ich fühle mich eben noch jung.

„Machen Sie sich nun mal nur keine Sorgen, Frau Berger, bisher zumindest hat es immer gereicht einigermaßen satt zu werden. Auch wenn’s, wie ich finde, zum ordentlichen Ratsherrenbauch noch nicht ganz gereicht hat – aber darüber scheinen wir zwei ja verschiedene Meinungen zu haben“, sagte ich spöttisch.

Frau Berger errötete leicht, hüstelte, rutschte auf ihrem Sessel, schrieb etwas auf und entschied sich zum jetzigen Zeitpunkt lieber nichts zu sagen.

„Aber im Ernst. Für langfristige Kapitalanlagen, wie zum Beispiel für die private Rentenvorsorge mit Anlagehorizonten von 30 oder gar mehr Jahren, stellt die Geldentwertung schon ein wichtiges und dringend zu beachtendes Kriterium dar. Die Verzinsung muss hier zunächst den über die lange Dauer nicht unerheblichen Kaufkraftverlust wieder auffangen um zunächst wenigstens den Geld-Kaufkraft-Gegenwert zu erhalten. Daran denken viele nicht, weil es so theoretisch und noch weit weg erscheint. Das ist aber fatal.

Geldentwertung ist einer der beiden Feinde der meisten Kapitalanlagen. Die Steuer der zweite. Eine langfristig erfolgreiche Kapitalanlage muss Inflation und Steuer berücksichtigen, sonst bleibt u.U. am Ende zwar mehr Geld, aber weniger Kaufkraft. Und ehrlich, was ist letztendlich das Ziel einer Kapitalanlage: mehr Geld, das selbst ja zu nichts zu gebrauchen ist, oder mehr Kaufkraft?“

„Na mehr Kaufkraft natürlich, Herr Lewis, ist doch klar!“

Irgendwie merkte sie, dass ich jetzt wieder in meinem Element war und, schon ganz Profi, bremste sie mich schon wieder gekonnt aus.

„Das ist sehr interessant, Herr Lewis, können wir darauf später nochmals zurückkommen? Unsere Leser interessieren sich insbesondere für den Menschen Tom Lewis und seinen Werdegang. Und wenn ich ehrlich sein soll, dann fasziniert mich dieser Mensch auch immer mehr.“

Das ging runter wie Öl. Sie schaute mich dabei wieder mit ihren großen, lächelnden Augen an. Ich empfand ihren Blick schon leicht anhimmelnd. Aber wie das so ist, jeder sieht seine Welt eben so, wie er sie gerne sehen möchte.

Jetzt war ich so schön bei einem Fachthema angelangt, bei dem ich mich sicher fühlte und schon lenkt diese zauberhafte Boulevard-Fee so charmant, aber ziemlich entschieden wieder davon ab. Mit Speck fängt man Mäuse, dies schien auch diese Frau Berger schon genau zu wissen.

„Wollen Sie mir erzählen, wie es mit dem kleinen Jungen in der Fremde weiterging, nachdem er hier bei uns gelandet war und seine ersten Erfahrungen mit diesem Geld, das eigentlich zu nichts zu gebrauchen ist, gemacht hatte?“

Sie fragte dies in einer Mischung aus Neugier und fordernder Strenge. Gleichzeitig hatte sie wieder ihr Lächeln aufgesetzt, bei dem kein Mann der Welt ihr einen Wunsch abschlagen könnte. Ich wollte eigentlich nicht, lieber hätte ich weiter über Geld und Wirtschaft doziert. Aber was soll’s und wenn man schon so nett gefragt wird.

„Gerne, aber ich fürchte so wirklich aufregend wird dies wohl kaum sein.“

„Das macht nichts, ich will ja keinen Thriller schreiben“, sagte sie augenzwinkernd.

„Na ja, im Prinzip erging es mir so wie allen Ausländerkindern, die hier aufwachsen. Das zunächst größte Problem war die fremde Sprache.

Ich hatte dabei allerdings den bereits genannten Vorteil – meine Neugier! Und, ebenfalls nicht unwichtig, Eltern, die sich liebevoll um mich gekümmert und mich gefördert haben. Die neue Sprache war ihre Muttersprache, was mich gegenüber Kindern mit ausländischen Eltern darüber hinaus deutlich besser stellte.

Ich bin eigentlich ziemlich schüchtern, müssen Sie wissen“, ich grinste spitzbübisch zu ihr hinüber, suchte intensiven Blickkontakt und ergänzte mit verschmitzter Miene „aber Gott sei Dank merkt das keiner.“

Sie lächelte mit ihren strahlenden Augen zurück, viel intensiver als es sich gehörte. Also wieder ganz objektiv betrachtet, aus meiner Sicht eben.

Ich wusste schon immer, dass die meisten Frauen nicht auf Muskeln, sondern auf Humor stehen. Klarer Punkt an mich, denn nutzlose Muskelmasse schleppe ich nun wirklich nicht mit mir herum.

„Und weil dies schon damals so war, fand ich schnell Anschluss zu den anderen Kindern in der Straße.

Die Sprache zu lernen war so im wahrsten Sinn des Wortes ein Kinderspiel. Wenn alle mit einem Kind ein halbes Jahr lang ausschließlich in einer fremden Sprache sprechen, wird es diese Sprache beherrschen. Eine Fähigkeit, die es als Erwachsener nie mehr haben wird.“

„Aber Sie waren doch anders als die anderen und Ihnen fehlten die Erfahrungen in dieser neuen Welt. Erfahrungen, die all die anderen bereits von klein auf hatten sammeln können“, merkte sie etwas ungläubig an, strich ihre blonden Haare aus dem Gesicht und beugte sich wieder zu mir vor.

„So schlimm war es auch wieder nicht. Äußerlich unterschied ich mich kaum von den anderen Kindern, außer dass ich immer ein wenig aussah, als wäre ich gerade aus dem Urlaub gekommen.“

Ich lächelte dabei freundlich zu ihr hinüber und sie lächelte zurück.

„Was das entdecken und erfahren der für mich neuen Welt betrifft haben Sie sicherlich Recht. Erstaunlicherweise war es jedoch nicht so, dass ich deswegen ausgegrenzt wurde. Ganz im Gegenteil. Natürlich lernte ich viel von meinen Spiel- und Schulkameraden, aber umgekehrt war es genauso. Weil alles für mich neu war, war fast alles ein Abenteuer. Und ich konnte meine Freunde so an Abenteuern teilhaben lassen, von denen sie vorher gar nicht wussten, dass es welche sind.

Schon mit 7 oder 8 Jahren ist man außerdem den kritiklosen Warum-Fragen eines Kleinkinds längst entwachsen. Natürlich fragte auch ich oft ‚warum’, fast nie jedoch ohne ein ‚warum-nicht-anders’ folgen zu lassen. Beliebt war auch hartnäckiges Nachfragen noch nach dem kleinsten Detail.

Erwachsene waren, glaube ich, von mir ziemlich genervt – meinen Kameraden imponierte so ein Rebell, der sich nie mit einem ‚das ist eben so’ zufrieden gab. Klar, dass sie mir hierin versuchten nachzueifern.“

„Sie meinen die anderen Kindern hat Ihre andauernde Fragerei beeindruckt?“

„Ja, klar. Am besten gefiel uns, wenn Erwachsene nicht mehr weiter wussten und nicht böse sein durften, weil wir uns stets bemühten die Fragen immer äußerst interessiert und höflich zu formulieren.“

„Sie waren eben ein gut erzogenes Kind!“

„Nein, nein, Frau Berger, nicht, weil wir besonders gut erzogen oder von Natur aus so höflich waren, nein, sondern weil wir schnell erkannt hatten, dass Erwachsene gegen Höflichkeit so absolut wehrlos sind.

So war eigentlich alles ganz einfach – für mich zumindest, für meine Mitmenschen wohl nicht immer.“

Oh, oh, ich zuckte innerlich zusammen. Noch keine Viertelstunde und schon das 2. ‚eigentlich ganz einfach’, das kann ja noch heiter werden.

„Ja, man kann sagen ich hatte das, was man eine ganz normale Kindheit und Jugend nennt. Nur musste ich anfangs eben etwas mehr fragen und etwas schneller lernen, als die anderen“.

„Dann war also die Schule für Sie kein Problem, trotz Ihres anfänglichen Handicaps?“

Ich lachte schon wieder und Frau Berger schien etwas irritiert.

„Nein, die Schule war für mich nie ein Problem, Frau Berger. Ich habe sie nie sonderlich ernst genommen. Es gab ja so viele andere Dinge, die viel interessanter waren.

Probleme damit hatten meine Eltern und meine Lehrer. Aber das lag daran, dass sie eine Einstellung zur Schule und meiner Ausbildung hatten, die meiner hierzu geradezu diametral entgegenstand.“

„Das heißt Sie waren kein guter Schüler?“ fragte mein Gegenüber schon fast entsetzt und riss dabei ihre großen, hübschen Augen noch weiter auf.

„An dieser Stelle, Frau Berger, kann ich Ihren jugendlichen Lesern – falls Sie solche haben – Mut machen. Jugendlichen Mut zu machen ist ja gerade in unserer heutigen Zeit ganz wichtig. Auch aus schlechten Schülern kann noch etwas werden. Einstein soll sogar sitzen geblieben sein!“

„Stimmt, habe ich auch gehört.“

„Obwohl, wenn ich es mir unter dem Gesichtspunkt sitzen bleiben genau überlege, war ich eigentlich gar nicht so richtig schlecht. Ich habe nur intuitiv das angewandt, was ich später als das ökonomische Minimal-Prinzip kennen gelernt habe.“

„Sie meinen mit kleinstem Einsatz das optimalste Ergebnis zu erreichen“, fragte schmunzelnd meine überaus reizende Gesprächspartnerin und sortierte erneut ihre Model-Beine neu.

 

„Fast! Ganz so kann es allerdings nicht funktionieren. Mit kleinstem Einsatz wird man nie das optimalste Ergebnis erreichen können. Aber mit einem geringst möglichen Einsatz lässt sich durchaus ein definiertes Ergebnis erzielen, nach dem sogenannten Minimalprinzip. Bei mir war dies das jährliche Erreichen des Klassenziels. So habe ich ungestreift die Realschule durchlitten, ohne hängen zu bleiben. Mit 6 Jahren hier angekommen und Mittlere Reife mit 16 Jahren. Für einen vorwiegend anderweitig interessierten Schüler, andere bezeichneten mich eher als faulen Hund, doch gar nicht schlecht.

Und nachdem ich in Mathe gerade noch eine 4 geschafft hatte, dachte ich dies wären doch die besten Voraussetzungen um eine Lehre zum Bankkaufmann zu beginnen.“

„Das ist jetzt nicht ihr Ernst, Herr Lewis, oder? “ fragte sie mit entsetzter Miene und kritzelte wieder auf ihrem Block herum.

Ich fand, dass dieser entsetzte Gesichtsausdruck ihrem Engelsgesicht etwas fast ruchloses verlieh. Diese junge Frau faszinierte mich immer mehr – viel mehr auf jeden Fall, als korrekt gewesen wäre.

„Nein, natürlich nicht“, erklärte ich schelmisch.

„Tatsächlich war es ganz anders. Ursprünglich wollte ich Polizist werden. Kojak-mäßig, beste Aussichten auf eine gute Pension, Macht und Abenteuer, vor allem aber das beste Anfangsgehalt aller in Frage kommender Berufe. Schließlich musste mein Moped und meine Freundin - man beachte die Reihenfolge - finanziert werden.

Außerdem waren meine Eltern, abgesehen davon, dass sie selbst keine großen Sprünge machen konnten, der Meinung, dass ich mir meinen Luxus, der über die Grundausstattung eines Jugendlichen hinausging, selbst erarbeiten müsste. Und so hielt sich Geld bei mir an den volkswirtschaftlichen Grundsatz: es war ein knappes Gut - und deshalb stets gerne gesehen.“

„Und weshalb sind Sie heute Banker und nicht Polizist? Wenn Ihnen das, wie Sie sagen, mehr eingebracht hätte und wovon Sie offensichtlich geträumt hatten, Herr Lewis?“

„Liebe Frau Berger, Geld ist doch nicht alles“ – ich schaute sie dabei mit einem gespielten Ausdruck des Entsetzens und weit aufgerissenen Augen an – „und Abenteuer gibt es für einen jungen Mann schließlich überall!“

Frau Berger wusste offensichtlich nicht so recht, was sie von dieser Antwort halten sollte. Meinem festen Blick hielt sie nicht lange stand, sie schaute fast schon schüchtern auf ihr Schreibpapier.

Tom, dachte ich, halte dich zurück. Die Sache artet langsam in einen stilechten Flirt aus. Macht doch Spaß, hörte ich plötzlich meine innere Stimme, vor allem bei einem so netten, jungen Ding. Innere Stimmen sind eben auch nicht mehr das, was sie einmal waren.

„Aber auch das ist nicht ganz ehrlich“, ergänzte ich in schuldbewusstem Ton.

„Wie meinen Sie das, Herr Lewis, nicht ganz ehrlich?“

Irgendwie schien ich es jetzt geschafft zu haben die junge Dame ganz zu verwirren.

„Um mit der Wahrheit herauszurücken waren es zwei Faktoren. Erstens, dass ich für die Polizeiausbildung damals noch zu jung war und zweitens, für mich ausschlaggebend, der Winter.“

„Wie, was meinen Sie mit ‚der Winter’?“

Auch diese Frage wurde von ihr nicht so vorgetragen, als würde sie irgendetwas verstehen. Konnte sie auch gar nicht. Sichtlich verunsichert sortierte sie die Beine wieder neu, legte ihren Stift zur Seite und verschränkte ihre Arme vor ihrer Luxusausstattung im Shirt.

„Das, Frau Berger, ist eigentlich ganz einfach“.

Hurra, fast eine halbe Stunde vorbei und erst 3 mal ‚eigentlich ganz einfach’ gesagt. Ich befürchte ich kenne die Headline von Bergerlein’s Artikel bereits. Reginchen, halte dich bloß zurück, sonst werde ich sauer!

„Im letzten Winter vor Schulende wurde ich von meiner Mutter zur Bank geschickt. Es war kalt, richtig kalt. An der einzigen Kreuzung in unserem Stadtteil war die Ampel ausgefallen. Ein junger Polizist regelte den Verkehr. Es war saukalt und ich war froh, als ich bald in der Bank angekommen war. Dort bediente mich ein junger Bankangestellter - in der warmen Schalterhalle. Jetzt war mir klar, frieren wollte ich nicht, lieber schön im Warmen sitzen. Ich werde Bankkaufmann!“

„Herr Lewis, sind Sie mir bitte nicht böse, aber diese Geschichte glaube nicht einmal ich Ihnen, obwohl ich Sie sonst ganz nett und witzig finde.“

Auch dieser Satz ging runter wie Öl. Ich wirke einfach gut auf junge Frauen. Kann ich absolut verstehen. Wäre ich eine junge Frau, es würde mir genauso gehen.

„Aber wie um Himmels willen soll ich das meinen Leser verklickern. Ein Mann wie Sie trifft doch so keine Entscheidungen, die sein ganzes, weiteres Leben beeinflussen.“

Sie fuchtelte dabei mit ihren Armen und signalisierte damit endgültig ihr völliges Unverständnis.

Wenn ich die Ringe an ihren Fingern richtig interpretiere, dachte ich dabei zufrieden, ist da kein Ehe- oder Verlobungsring darunter. Kaum zu Ende gedacht meldete sich schon wieder meine innere Stimme, dieses Mal so wie es sein soll: du alter Esel, was geht dich das nun wieder an?

„Ja, Frau Berger, da haben Sie recht, ein Mann in meiner Position trifft so keine Entscheidungen“, antwortete ich mit ruhiger, sonorer Stimme, die so bankmäßig seriös klingt.

Aber ich war damals nicht der Mann von heute, sondern der Junge von damals. Es war zugegebenermaßen eine Bauchentscheidung. Vermutlich hatte ich sie bereits vorher schon unbewusst getroffen und dieses Erlebnis war nur die nachvollziehbare Bestätigung für diese unterbewusste Entscheidung. Vielleicht sollten Sie zu solchen Entscheidungsprozessen einmal einen Psychologen interviewen. Auf jeden Fall war die Entscheidung richtig, so wie oft die unerklärlichen Bauchentscheidungen die richtigen sind, während manche Kopfentscheidungen sich oft prima erklären lassen, aber trotzdem falsch sind. Ist Ihnen das nicht auch schon oft so gegangen, Frau Berger?“

„Schon, aber das bezog sich höchstens auf private, unbedeutendere Angelegenheiten. Größere und berufliche Entscheidungen werden schon sorgfältig und analytisch durchdacht“, antwortete sie mit betont sicherer Stimme – es war trotzdem nicht wahr und das wussten wir beide.

„Sie entscheiden doch heute hoffentlich auch anhand von Analysen, harten Fakten und wissenschaftlichen Methoden, Herr Lewis, oder immer noch aus dem Bauch?“

Wieder musste ich lachen, was ebenso wieder zur Folge hatte, dass mich Reginchen mit einer Mischung aus Unverständnis und Entsetzten anschaute. Und das war nicht gespielt, sondern durch und durch echt.

„Ich kann Sie beruhigen, Frau Berger. Die meisten Entscheidungen werden schon nach rationalen Gesichtspunkten und harten Fakten getroffen. Leider!“ Ich machte eine bedrückte Miene und sah sie leicht zerknirscht an.

„Wieso leider, das verstehe ich nicht.“

Sie schien es wirklich nicht zu verstehen. Nervös zupfte sie sich jetzt an den blonden Engelshaaren – und ordnete abermals ihr Fahrgestell neu.

„Ist aber eigentlich ganz einfach“ sagte ich - schon wieder einmal. Zum wievielten Mal, ich hab’ nicht genau mitgezählt.

„Oft wären intuitive Entscheidungen besser. Das hat, ein Psychologe könnte Ihnen das sicher besser erklären, damit zu tun, dass unterbewusste Entscheidungen zwar meist nicht erklärbar sind, aber auf der gesamten Erfahrungswelt des Entscheiders basieren. Somit sind sie oft vernetzter analysiert, als dies auf der bewussten Ebene überhaupt möglich wäre. Ich kenne Leute die entscheiden auch ihre Geldangelegenheiten nur intuitiv und sind sehr erfolgreich damit.“

„Das ist ja unglaublich“, wandte Sie mit ungläubigem Blick ein.

„Trotzdem wird von Profis fast nie intuitiv entschieden“, fuhr ich ohne Pause fort. „Das hat den ganz einfachen Grund, dass jede Entscheidung, egal ob intuitiv oder logisch hergeleitet, falsch sein kann. Das Problem ist dann bei der intuitiven Entscheidung, dass einem auf die Frage wieso man so und nicht anders entschieden hat, keine Antwort einfällt. Und dies ist besonders peinlich, wenn einem der Fehler mit anderer Leute Geld passiert ist. Die Menschen wollen für jede Handlung eine logische Erklärung und eine Datenbasis. Das Problem dabei ist nur, dass sich der Erfolg oder Misserfolg einer getroffenen Entscheidung erst in der Zukunft zeigt und deshalb die tatsächlich benötigte Datenbasis heute noch gar nicht gesichert vorliegen kann. So viel zu absoluter Planbarkeit und Beherrschung der Zukunft mit reiner Logik.“

Ich schloss diesen Vortrag mit resignierender Gestik und philosophischer Mimik.

„So habe ich das eigentlich noch nie betrachtet, Herr Lewis. Könnte so fast klappen auch meine Leser von dieser, eher etwas ungewöhnlichen Art der Entscheidungsfindung zu überzeugen.“

Sie schien dabei etwas nachdenklich, notierte wieder etwas auf ihren Block und strich erneut ihr blondes Haar zurück.

„Sie wollten dann also eine Lehre zum Bankkaufmann machen, weil man da im Warmen sitzt. Haben Sie mit Ihren, vorhin ja von Ihnen selbst geschilderten, mäßigen schulischen Leistungen so einfach einen Ausbildungsplatz bekommen?“

Ihre forsche Feststellung bezüglich meines bestehenden oder nicht bestehenden unterernährten Aussehens hatte sie offensichtlich vorsichtig werden lassen. Sie betonte die Worte ‚von Ihnen selbst geschilderten’ fast übertrieben.

„Na ja, auch damals waren Ausbildungsplätze, zumal für Berufe, die als attraktiv galten, Mangelware. Ich musste schon einige Bewerbungen schreiben und mich etwas bemühen. Fünf, sechs Einstellungstests und Einstellungsgespräche habe ich mitgemacht und dann hat es irgendwie geklappt.“

„Und wie haben Sie die Verantwortlichen davon überzeugt, dass Sie trotz dieses Zeugnisses ein guter Banker werden können?“

„Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Der Ausbildungsleiter der Bank, die mich dann nahm, wollte unter anderem wissen, warum ich gerade Bankkaufmann lernen wollte. Wahrscheinlich hat ihn meine originelle und ehrliche Antwort überzeugt.“

„Und wie hat diese Antwort gelautet“, fragte sie neugierig und beugte sich vor.

„Eigentlich ganz e. äh, . äh, simpel: Die Antwort lautete: weil ich mich schon immer für Geld interessiert habe!“

„Na das war ja ganz ausgefallen und überzeugend“, sagte Frau Berger und man sah ihr an, dass sie Mühe hatte nicht mit dem Kopf zu schütteln und dabei so etwas wie ‚das war ja richtig blöd’ in ihren nicht vorhandenen Bart hinein zu brummeln.

„Fand der Ausbildungsleiter offenbar auch“, erwiderte ich grinsend. Sie ging dieses Mal allerdings nicht darauf ein und zog es vor wieder an der Tasse zu nippen, was ihr die Gelegenheit gab unauffällig wegzuschauen. Nachdem sie die Tasse wieder weggestellt hatte blickte sie auf und fragte: „Als Sie dann Ihren Ausbildungsplatz ergattert hatten und die Ausbildung losging, taten Sie sich dann schwer damit. Bankgeschäft hat doch viel mit Mathematik zu tun und das war ja, wie Sie sagten, nicht unbedingt Ihre absolute Stärke.“

Wieder betonte sie die Worte ‚wie SIE sagten’, sah mich an und wartete sichtlich gespannt auf meine Reaktion.

„Falsch, Frau Berger. Falsch in zwei Punkten“, entgegnete ich energisch.

„Erstens: Bankgeschäft hat nichts mit Mathematik, sondern nur mit Rechnen zu tun. Damit meine ich, dass man mit den vier Grundrechenarten hier ziemlich weit kommt. Sinus und Cosinus sind hier Nüsse wie alle anderen auch, schön dass es sie gibt, aber brauchen tut man sie normalerweise nicht.“ Tolles Deutsch, dachte ich bei mir. Obwohl, für einen ‚Ausländer’ und fuhr fort.

„Zweitens: In der Schule gab es z.B. so schöne Aufgaben wie: Sie stehen x Meter vor einem Turm und schauen in einem Winkel y auf diesen Turm, wie hoch ist dieser Turm? Oder zumindest so ähnlich. Als praktisch veranlagtem Menschen war mir diese Fragerei immer ein Graus.

Meine Antwort lautete deshalb: Es wird nicht möglich sein den Blickwinkel exakt zu bestimmen. Steige deshalb auf den Turm und lasse ein Maßband herunterhängen, daran kannst du die Höhe einfach und exakt ablesen. Für diese Antwort, obwohl objektiv richtig, gab es allerdings dummerweise keine Punkte. Die Lehrer hatten hier, wie fast immer, ein schlechtes Beispiel gewählt, das meine Neugier und meine Praxisveranlagung nicht ansprechen konnte. Hätte ich einen Sinn und einen Nutzen in meiner gescheiterten mathematischen Ausbildung erkennen können, wäre ich sicher auch in Mathematik besser gewesen.

Jetzt, beim Bankrechnen, war das ganz anders. Alles was hier gelehrt wurde war anwendbar, ließ sich in der Praxis sofort ausprobieren und es ging immer um den Schmierstoff unserer Wirtschaft. Um das knappe Gut Geld. Und knapp war dieses Gut nicht nur in der reinen Lehre, sondern auch in meinem täglichen Leben – also alles mehr als praxisnah.“

 

„Wollen Sie damit sagen, dass aus dem eher schlechten Schüler plötzlich ein guter wurde?“

„Zunächst einmal, Frau Berger, wurde aus dem gelangweilten und unterforderten Schüler ein hoch motivierter, ein Azubi dem der Sinn seines Tuns einleuchtete. Einer dessen Neugier geweckt wurde, der mehr wissen wollte von dieser faszinierenden Welt des Geldes. Einer der Fragen stellte und Antworten haben wollte – einer, der seine älteren Kollegen, wie seine Mitmenschen früher in anderen Bereichen, mit Fragen zu quälen begann. Wer es schafft Jugendliche für etwas zu begeistern wird erstaunt sein, welche Leistungen diese im Stande sind zu erbringen. Meine Ausbildungszeit hat mir einen solchen Spaß gemacht, dass ich, wäre es möglich, sofort die Zeit nochmals zurückdrehen und sie gerne nochmals erleben würde.“

Wahrscheinlich lag bei diesem Satz ein entrücktes Strahlen in meinem Gesicht. Es ist tatsächlich so. Ich würde selbst auf meine Vorstandsbezüge verzichten und mich noch einmal mit dem Lehrlingsgehalt zufrieden geben.

„Das heißt, Sie haben sich nur noch in den Stoff hineingefressen und wurden plötzlich zum Streber“, fragte Frau Berger etwas ungläubig, während sie erneut ihre Luxusstelzen sortierte und abermals ihr goldenes Haar nach hinten streifte.

„Bestimmt nicht“, antwortete ich lachend „ein Streber war ich nie. Dazu war ich schon immer viel zu gesellig.“

„Wenn Sie so schwärmen, Herr Lewis, bekommt man ja richtig Lust Banker zu werden. Worin bestand denn der Spaß.“

Die Neugier war ihr bei dieser Frage buchstäblich ins hübsche Gesicht geschrieben und ich antwortete etwas belustigt: „Die meisten Menschen meinen, dass Bankkaufleute ziemlich langweilige Menschen sind, stets ernst und korrekt. Das ist aber nur die äußere Fassade. Sie können unerwartet lustig, ja manchmal richtig kindisch sein. Wahrscheinlich ist das eine Art Ausgleich für das im Kundenverkehr erzwungene steife Auftreten.“

„Worin bestand denn dieses lustig und kindisch sein“, wollte das Zeitungsmädel wissen.

„Lustig zum Beispiel waren oft die gemeinsamen Unternehmungen mit der Mannschaft einer Filiale, oft ein richtig gutes Team. Gemeinsam Essen gehen, Gartenfeste und was es alles sonst noch gab. Lustig war auch der Religionsunterricht in der Berufsschule. Wir gingen da nie hin, alle waren ja über 14 Jahre alt, also religionsmündig und konnten sich selbst abmelden. Dafür trafen wir uns in der Kneipe gegenüber der Schule. Unser Religionslehrer bekam das ziemlich schnell mit – wahrscheinlich waren wir nicht die erste Klasse, die auf diese Idee kam – und setzte sich dann zu uns rüber in die Kneipe. Ich glaube nicht, dass er seinen Stoff laut Lehrplan zu 100% vermitteln konnte, aber lustig war’s immer.“

„Und was meinten Sie mit kindisch“, fragte sie jetzt neugierig und kaute lässig an ihrem Stift, was schon wieder ziemlich erotisch wirkte.

„Kindisch wurde es z.B. in der Berufsschule. Dazu muss man sich unsere damalige Klasse vorstellen. Zwanzig adrett gekleidete junge Damen und Herren im Alter zwischen 16 und 21 Jahren. Die Damen im Kostüm, die Herren selbstverständlich in Anzug und Krawatte. Morgens Berufsschule, mittags Ausbildung im Betrieb, also wieder den stets seriösen und ernsten Bankkaufmann mimen. Wir hatten zusammen ein wirklich supergutes Verhältnis und waren, von den Noten her, eine richtige Vorzeigeklasse. Gott sei Dank gab es keine Verhaltensnoten, die hätten sonst den Notenschnitt ziemlich gedrückt.“

„Ja was haben Sie denn angestellt?“ Die Neugier leuchtete ihr aus den großen blauen Augen.

„Wenn man es genau nimmt nicht viel. Wir haben zum Beispiel nur das vorhandene, ungenutzte Mobiliar etwas zweckentfremdet verwendet.“

„Wie denn?“

„Nach kurzer Zeit hatte es sich eingebürgert vor Beginn der ersten Stunde die Mädels einzufangen und in die leeren Wandschränke zu sperren.“

„Wie, die Damen in den Schrank sperren? Alle?“

Frau Berger konnte es offensichtlich mal wieder kaum glauben. Zumindest machte sie einen solchen Eindruck.

„Nein, Nein, Frau Berger, natürlich nicht alle“, erklärte ich ihr lachend, “Anita nicht.“

„Warum Anita nicht, wer war Anita?“

Das war die typisch weibliche Reaktion. Das entsetzte ‚alle?‘ signalisiert jedem Mann, dass er mit einer Verneinung wieder aus der Nummer herauskommt. Das aber ist weit gefehlt. Im Gegenteil. Jetzt ist das Entsetzen darüber, dass eine ausgelassen wurde natürlich noch größer.

„Anita war ein richtig nettes Mädel“, fuhr ich fort, „mit einem entzückenden Hinterteil. Und das passte auch noch genau in den leeren Plastikmülleimer, als wäre der dafür angepasst worden. Und was lag da näher, hier kam Anita dann auch rein. So, dass eben noch Kopf, Arme und Beine heraus schauten. Dann ging’s ab mit dem frisch gefüllten Papierkorb auf den Tisch des Lehrers.“

„Das ist ja richtig gemein, haben sich die Mädels denn nicht gewehrt und die Lehrer gebeten zu helfen?“ fragte entsetzt meine süße Interviewerin, fuchtelte mit den Armen und schien es mal wieder äußerst ernst zu meinen.

Mein Sympathiebonus schien ins Bodenlose zu fallen. Schade eigentlich. Zugegeben, die Aktionen waren nicht besonders erwachsen und dem heutigen Bild von der Gleichberechtigung der Geschlechter entspricht es auch nicht 100%ig. Dafür hat es, das glaube ich heute noch, auch den Mädels Spaß gemacht. Auch wenn sie dies nie zugeben würden.

Und jetzt machte es mir einen riesigen Spaß Reginchen etwas zu necken. Was sich neckt, das liebt sich. Na ja, so weit war es noch nicht. Aber ich musste mir schon eingestehen, dass sie mir sympathisch war. Schon etwas zu sympathisch für einen alten Esel wie mich.

„Gewehrt haben sie sich natürlich schon, das war ja der Reiz.“

„Aber, den Lehrer oder die Lehrerin haben die Mädels doch wohl darauf angesprochen?“

Ich machte bewusst eine kleine Pause. In Rhetorikkursen lernt man, dass man größere Wirkung erzielt, wenn man nicht immer nur am Stück plappert.

„Nein, sie wussten doch, die würden sowieso nicht mitmachen, das mussten die Jungs in ihren Anzügen und Krawatten schon alleine für sie tun.“

Ich sagte dies im macho-frechen, nicht ganz ernstzunehmenden Ton und grinste übers ganze Gesicht. Innerlich freute ich mich über meine Antwort, die zwar nicht Ihrer Frage, wie sie gemeint war, entsprach, die ich dafür umso lustiger fand.

„Sind die Mädchen da nicht sauer geworden, das war ja eine richtige Tortur.“

Sie war entsetzt. Die zwischen damals und heute aktive Emanzipationsbewegung hatte offensichtlich ihre Spuren hinterlassen.

„Im Ernst, wenn eine ernsthaft sauer geworden wäre, hätten wir sie natürlich in Ruhe gelassen“, antwortete ich politisch korrekt. Es fiel mir nicht sonderlich schwer, ich glaube, es war tatsächlich so, ich hoffe es wenigstens. Ansonsten Mädels von damals: es tut mir aufrichtig leid, zumindest so leid wie möglich – aber es war richtig ‚geil’ mit Euch und ihr wolltet es doch auch, oder?

Seriös und mit ernstem Gesicht trug ich diese Antwort vor. Frau Berger schien beruhigt und vorerst einigermaßen zufrieden gestellt.

„Wahrscheinlich!“ relativierte ich gleich meine Aussage.

„Richtig sauer wurde aber nie eine der kostümbekleideten, aparten, Damen. Ich glaube eher, wenn wir eine von ihnen ausgelassen hätten, wäre diese beleidigt gewesen. Es war irgendwie ein spätpubertäres Spiel, Ringelpiez mit Anfassen und die Mädels ließen sich gerne von den Jungs fangen, glaube ich zumindest.“