Mara und der Feuerbringer

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»Ganz genau.« Der Zweig klang belustigt. »Aber keine Sorge, deine Mama denkt natürlich, dass es ganz allein ihre Idee war, und vermutlich ist sie sogar stolz darauf. Hat auf jeden Fall für Aufmerksamkeit gesorgt unter deinen Freundinnen, oder?«

»Kann man so sagen«, murmelte Mara. »Und das sind nicht meine Freundinnen, sondern die von meiner Mutter.«

»Gut, dann wäre das geklärt«, sagte der Zweig in geschäftigem Tonfall und fuhr ebenso zielstrebig fort: »Du bemerkst, ich versuche all deine ersten Fragen möglichst schnell zu beantworten, damit wir bald zum Wesentlichen kommen können. Und somit nehme ich an, dass du dich als Nächstes fragst, warum Pflanzen überhaupt sprechen. Antwort: Pflanzen sprechen nicht. Pflanzen denken. Stell dir einfach vor, wir könnten so laut denken, dass du es in deinem Kopf hören kannst. So, als würdest du in einem See stehen und die Wellen spüren, weil jemand irgendwo weiter weg einen Stein ins Wasser geworfen hat. Du hörst nicht das Platschen, aber du spürst die Wellen, verstehst du?«

Mara nickte stumm. Was hätte sie auch sonst tun sollen?

»Fein. Weiter«, sagte der Zweig und wirkte zunehmend in Eile. »Jetzt ist deine nächste Frage natürlich, ob Bäume auch sprechen können, und die Antwort ist ebenso natürlich: Ja! Nur sprechen die Bäume so verdammt langsam, dass man davon nicht mehr mitkriegt als eine Art Brummeln. Der Baum, von dem ich stamme, zum Beispiel, der hat vor 34 Jahren angefangen, dem Baum rechts von ihm zum 200-jährigen Geburtstag zu gratulieren. Aber wenn er dann endlich mit der Gratulation fertig ist, kann er gleich wieder von vorne anfangen, weil es dann Zeit ist fürs 450-jährige Jubiläum.«

Mara hatte ein Gesicht aufgesetzt, das man bestenfalls als überforderte Verwirrtheit bezeichnen konnte.

»Und mach ja nicht den Fehler, einen Baum unterbrechen zu wollen!«, sagte der Zweig gerade. »Denn dann dauert es noch länger – weil er zwischendrin noch drum bittet, ihn doch höflicherweise erst mal ausreden zu lassen, bevor er dann genau da weitermacht, wo man ihn unterbrochen hat. Diesen Fehler machst du genau ein einziges Mal!« Der Zweig kicherte und Mara konnte nicht anders, sie musste auch grinsen. »Na ja, irgendwann hat man sich gewöhnt an das dauernde Gebrumme der Bäume, ich hör’s schon gar nicht mehr. Manchmal denk ich mir, es wäre fast angenehmer, ein Mensch zu sein, weil ihr euch das alles nicht mit anhören müsst. Was uns, und hier bitte die elegante Überleitung beachten, zurück zu dir bringt, Mara … vorausgesetzt, du bist jetzt ein bisschen entspannter?«

Aha, das war also der Grund gewesen für den Smalltalk über die Baumsprache!, dachte Mara und fand, dass das den Zweig irgendwie sympathisch machte. Doch bevor sie darüber nachgrübeln konnte, dass sie gerade einen Zweig als sympathisch bezeichnet hatte, sprach dieser weiter und zog das Tempo wieder an: »Also, du bist nicht verrückt und ich bin auch kein Traum oder so was Ähnliches. Du hörst mich, und du verstehst mich, und es gibt nicht mehr viele Menschen von deiner Sorte. Ehrlich gesagt, sieht es ganz danach aus, als wärst du die Letzte, die das kann. War wohl irgendwann bei euch nicht mehr so populär, mit Pflanzen zu sprechen.«

»Aber das verstehe ich nicht!« Mara konnte nicht anders, sie musste den Zweig unterbrechen. »Ich meine, ich verstehe eigentlich das meiste nicht von dem, was du sagst, aber das verstehe ich erst recht nicht! Heute saßen diese ganzen Schreckschrauben aus dem Kurs von der Flatterfrau vor euch, und ihr habt kein Wort gesagt, obwohl die drei Stunden lang drum gebettelt haben!«

Können Zweige grinsen? Wenn ja, dann tat ihr Zweig das jetzt.

»Du meinst, einmal abgesehen davon, dass Menschen wie diese meistens nur sich selbst hören, und das in voller Lautstärke? Nein, Mara, wir Pflanzen sprechen nur zu euch Menschen, wenn wir etwas mitzuteilen haben. Das war schon immer so. Und ich muss mich jetzt trotz Wasserglas mal ein bisschen beeilen, denn man hat mir eine Menge aufgetragen, was ich dir erzählen muss.«

Doch Mara unterbrach ihn schon wieder: »Wer? Wer hat dir das aufgetragen? Und warum erzählt er mir das nicht einfach selbst?«

Der Zweig klang jetzt zum ersten Mal etwas unsicher: »Das weiß ich nicht. Ich kann dir nur sagen, dass uns allen heute Morgen bei Sonnenaufgang plötzlich klar war, was wir zu tun hatten und was ich zu sagen habe.«

Der Zweig schwieg einen Moment, als würde er nachdenken.

»Komisch eigentlich, ich könnte schwören, dass ich mir gestern über kaum mehr Gedanken gemacht habe als über ein paar Blattläuse«, sagte er. »Aber was soll’s, es ist, wie es ist, und wer auch immer wollte, dass ich dir was ausrichte, soll nicht von mir enttäuscht werden. Also, jetzt pass auf, denn nun geht es um dich: Mara, du bist eine Spákona

Mara starrte den Zweig verständnislos an. »Was bin ich?«, fragte sie, und der Zweig wiederholte das Wort noch einmal sehr langsam und überdeutlich: »Spá-ko-na. Eine Spákona

Der Zweig hielt kurz inne.

»Du weißt nicht zufällig, was das bedeutet?«, fragte er, aber Maras Gesichtsausdruck machte eine Antwort überflüssig. Der Zweig seufzte. »Tja, dann sind wir schon zwei. Aber so hat man mir das aufgetragen. Du bist eine Spákona! Was immer es ist – du bist es. Herzlichen Glückwunsch. Oder Beileid. Oder beides. In jedem Fall bitte merken: Spákona

»Äh … ich … ich schreib’s mir auf«, stammelte Mara und schrieb das Wort ebenso gewissenhaft wie verwirrt mit Bleistift auf die vollgekritzelte Unterlage auf ihrem Schreibtisch. Dabei bemerkte sie, dass sie über das a einen kleinen Strich gemacht hatte, obwohl sie dieses ungewöhnliche Detail niemals so aus den Worten des Zweigs hätte heraushören können. Trotzdem hatte sie das seltsame Strichlein ebenso unbewusst mitgeschrieben, wie sie auch einen Punkt über ein i gesetzt hätte.

Dann sah sie wieder den Zweig an, und zwar mit dem Blick eines vier Meter großen, leuchtend rot blinkenden Fragezeichens, das jeden Moment in den schillerndsten Farben platzen und das gesamte Zimmer verwüsten würde, wenn nicht sofort irgendjemand erklärte, wer oder was eine Spákona war!!!

Falls der Zweig Maras fragenden Blick bemerkte, ließ er sich zumindest nichts anmerken. Stattdessen räusperte er sich geräuschvoll, um weiterzusprechen.

Mara ignorierte den Gedanken, dass der richtige Platz für Leute, die Zweige räuspern hörten, die Irrenanstalt war. Wenn dieses Gespräch zu nichts führte, konnte sie ja immer noch ihren Plan mit dem Langhaarschneider in die Tat umsetzen. Larissa würde ihr ja nicht weglaufen. Vorerst.

»Kommen wir jetzt zu dem wichtigsten Teil meiner Botschaft«, sprach der Zweig und Mara bemerkte, dass seine Stimme plötzlich einen sorgenvollen Unterton bekam. »Bitte leg deine Finger auf meine Blätter.«

Kurz dachte Mara darüber nach, was Larissa wohl sagen würde, wenn sie sie dabei erwischte, wie sie Händchen hielt mit einem Zweig. Doch da berührten ihre Finger auch schon seine Blätter, und etwas in Mara explodierte …


Kapitel 3


Später würde Mara einmal beschreiben, dass sich dieses erste Mal anfühlte, als wäre in ihrem Kopf ein Ballon geplatzt. Ein Ballon, den man nicht mit Luft, sondern mit Eindrücken aufgepumpt hatte: laut, verwirrend und vor allem sehr schmerzhaft!

Bilder, Gefühle und Geräusche prasselten so heftig auf Maras Bewusstsein ein, als wollten sie eine Schlacht um die Vorherrschaft in ihrem Gehirn gewinnen! Doch so einfach ließ Mara das nicht zu! Und das war der schmerzhafte Teil des Ganzen. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen diese Bilder und versuchte, sie aus ihrem Kopf zu vertreiben. Aber der Bildersturm bäumte sich nur noch mächtiger auf und warf sich mit all seiner flackernden, lärmenden Kraft gegen ihre schwindenden Barrieren. Mara warf vor Schmerz den Kopf in den Nacken und biss die Zähne zusammen, um nicht laut loszuschreien.

Doch der Sturm machte den gleichen Fehler wie Maras Mutter – er rechnete nicht mit Maras Trotz. Jajaja, sie hatte akzeptiert, dass ein Zweig mit ihr sprach, und sie hatte sogar geantwortet. Aber sie würde nicht zulassen, dass man dafür ihren Kopf mit noch mehr Wahnsinn flutete. Jetzt nicht und so schon gleich überhaupt nicht! Schließlich hatte sie doch vorhin erst beschlossen, endlich normal zu werden, und diesen Entschluss würde auch ein sprechender Zweig nicht rückgängig machen!

Wütend ignorierte Mara die Tatsache, dass der Bildersturm viel stärker war als sie, und stemmte sich urplötzlich mit ihrem gesamten vierzehnjährigen Trotz dagegen!

Aber da drang wie aus weiter Ferne und doch klar und verständlich eine bekannte Stimme zu ihr: »Was tust du da, Mara?«, und sie erkannte, dass es die Stimme des Zweiges war.

Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, aber trotzdem schaffte sie es, vier Worte hervorzustoßen: »Aber … ich … hasse das!«

Daraufhin drang die Stimme des Zweiges nun noch eindringlicher zu ihr: »Tu das nicht!«

Doch Mara hatte sich bereits für das Gegenteil entschlossen und mobilisierte nun auch noch das letzte Fünkchen bockigen Widerwillens gegen die tosende Bilderflut!

Fast glaubte sie ein Plopp zu hören, als sie mit einem Mal wieder in ihrem Zimmer landete. Unsinn, warum denn wieder, dachte Mara. Ich bin doch gar nicht weg gewesen. Ich sitze schließlich immer noch an meinem Schreibtisch und …

 

Da bemerkte sie, dass sie genau das nicht tat. Stattdessen starrte sie auf ein Poster der Beatles, von dem sie wusste, dass es über ihrem Bett an der Decke hing. Sie sah sich um und stellte fest, dass sie tatsächlich in Rückenlage auf ihrem Bett gelandet war. Der Drehstuhl war umgefallen und die Tür zu ihrem Zimmer stand weit offen. Im Türrahmen stand Maras Mutter und starrte ihre Tochter an.

»Was … was tust du denn da, Mara? Hast du dir wehgetan?«

Mara sprang sofort auf, um den Eindruck zu vermitteln, dass alles in bester Ordnung war. Dabei wurde ihr augenblicklich schwarz vor Augen, aber sie schaffte es trotzdem, mit fester Stimme und möglichst beiläufig zu antworten: »Neinnein, haha, alles gut. Ich muss doch in unserem Theaterstück umfallen, weilweilweil jemand ein … eine … ein Skateboard auf der Bühne liegen gelassen hat, und ich spiele ja die Putzfrau, und die rutscht dann darauf aus.«

Und als Mara in das zweifelnde Gesicht ihrer Mutter blickte, fügte sie noch hinzu: »Das ist. Lustig. Haha.«

»Also ich weiß ja nicht, wie ich das finden soll, wenn die Lehrer euch so gefährliche Sachen machen lassen«, sagte Mama, und Mara wusste ganz genau, wie sie das meinte. Sie meinte damit eigentlich: »Da werd ich wohl mal wieder in der Schule anrufen und mich beschweren müssen.«

Und das war für Mara immer das Aller-Aller-Allerschlimmste! In diesem Fall kam noch hinzu, dass Mara gar nicht in der Theatergruppe war und dort auch ganz bestimmt kein Stück gespielt wurde, in dem irgendwer auf einem Skateboard ausrutschen musste! Das wusste Mara sicher, und zwar weil es in ihrer Schule gar keine Theatergruppe gab.

»Neinnein, so schlimm ist das doch gar nicht, Mama!«, beeilte sie sich zu erklären. »Du musst dir keine Sorgen machen, ich steh doch in der Szene auch direkt vor einem Bett, und da fall ich dann drauf. Ich bin nur eben mit dem Fuß gegen den Drehstuhl gestoßen und der ist dabei umgekippt.«

Mara wollte den Drehstuhl mit nur einer Hand und einer besonders beiläufigen Bewegung wieder aufstellen, aber irgendwie klappte das nicht so recht, und sie musste etwas ungelenk die andere Hand zu Hilfe nehmen. Während die Lehne einmal ziemlich lautstark gegen die Tischplatte krachte und die Plastikrollen an den fünf Beinen besonders nervig klapperten, sprach Mara trotzdem weiter, als wäre nichts gewesen: »Die Frau Englbrecht passt schon auf uns auf, wir machen keine gefährlichen Sachen. Ehrlich nicht. Schau!« Und sie ließ sich noch einmal betont spielerisch auf ihr Bett fallen. »Siehst du? So sieht das dann aus. Ich kann bestimmt auch noch eine Decke zusätzlich auf das Bett legen oder so. Kein Problem. Echt. Gar nicht. Schau!«

Maras Mutter sah zu, wie sich ihre Tochter ein weiteres Mal aufs Bett warf und dabei ihren Mund zu einem breiten Lächeln verzog. Leider war Mara keine besonders gute Schauspielerin und hatte vergessen ihre Augen mitlächeln zu lassen, was ihrem Ausdruck die Echtheit einer Karnevalsmaske verlieh. Aber Mama schien die lahme Vorstellung trotz allem überzeugt zu haben. Sie nickte.

»Na gut, aber bitte sei nicht so laut beim Üben. Du weißt doch, dass sich Herr Dahnberger von nebenan bei jeder Kleinigkeit beschwert. Und bitte mach den Lattenrost nicht kaputt, der war teuer.«

Mit diesen Worten schloss sie endlich die Tür. Ja, manchmal hatte es fast den Anschein, dass Mama nur sah, was sie sehen wollte.

Mara wartete, bis sich die Schritte ihrer Mutter durch den Flur entfernt hatten und sie die Tür zum Wohnzimmer anschlagen hörte. Erst dann wendete sie sich wieder ihrem Gast auf dem Schreibtisch zu.

»Warum hast du das getan?«, fragte der Zweig.

»Was hätte ich denn sonst tun sollen?«, entgegnete Mara. »Die Wahrheit sagen?«

»Das meinte ich nicht«, sagte der Zweig. »Du hast dich gegen meine Botschaft gesperrt!«

»Ja, das habe ich«, antwortete Mara scharf. »Und ich sage dir auch warum – und zwar, obwohl ich genau weiß, dass man sich mit Zweigen nicht unterhalten kann. Ich ignoriere das jetzt nur im Moment, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll!«

Der Zweig antwortete nicht, aber Mara war ja auch noch nicht fertig.

»Es ist nämlich so: Ich will keine Visionen! Verstehst du das, äh … Zweig? Ich träum ständig irgend so einen Blödsinn und es nervt mich! Ich kann mich in der Schule kaum konzentrieren, weil ich immer wieder diese albernen Tagträume habe. Ich schau aus dem Fenster, sehe die Wolken und träum sofort irgendwas von einem Baum, der so hoch ist, dass er bis in die Wolken ragt, und wie ich daran hochklettere und die Zeit oberhalb der Wolken rückwärtsläuft. Ich schaue absichtlich woandershin, zum Beispiel auf das Hochhaus gegenüber, und sehe plötzlich den Wind, wie er lauernd um das Haus streicht, immer schneller wird und dabei zu einem Sturm anwächst. Alle in dem Hochhaus haben Angst vor ihm. Dabei will er nur das Feuer in der Wohnung eines alten Mannes ausblasen, bevor es auf die Vorhänge übergreift! Aber der Wind schafft es nicht, das Fenster zu öffnen, und wird deswegen immer stärker! Ich vertreibe auch das aus meinem Kopf, schaue auf die Straße und stelle mir im nächsten Moment vor, wie es wohl aussehen würde, wenn die Menschen von heute auf morgen verschwinden, und sehe, wie der VW Käfer von meinem Mathelehrer in hundert Jahren von Büschen und Bäumen überwuchert ist und darauf kleine Wolfsjunge fangen spielen! Und dann fragt mich der Lehrer irgendwas, und ich weiß plötzlich nicht einmal mehr, wo ich überhaupt bin!«

Mara wusste, dass die Zeit knapp war, aber sie konnte trotzdem nicht aufhören zu reden.

»Kein Wunder, dass mich alle komisch finden! Die halten mich für einen Freak! Und jetzt kommst du auch noch und erzählst mir, dass ich wirklich einer bin! Eine Dings nämlich, eine … Spákona, die mit Pflanzen spricht und wo du auch nicht weißt, ob du mir gratulieren oder Beileid wünschen sollst, und auch dafür vielen Dank! Auf jeden Fall steh ich dann ab morgen im Pausenhof vor irgendwelchen Bäumen, warte, bis die mit ihrer Begrüßung durch sind, merk nicht mal, wie sich alle über mich kaputtlachen, und setz langsam Moos an, während die anderen ihr Abi machen, oder was?! Ich will aber nicht so sein! Ich will nicht, dass alle denken, ich wär nicht ganz dicht! Ich will normal sein! So wie alle anderen, verstehst du? Ich will nicht mehr die sein, auf die Larissa mit dem Finger zeigt! Und ich will nicht so sein wie …« Sie unterbrach sich gerade noch rechtzeitig, bevor sie »meine Mutter« sagen konnte.

Stille trat in Maras Zimmer ein. Obwohl sie ihren gesamten Monolog im Flüsterton eher gezischt als gesprochen hatte, schien es ihr, als hätte der Zweig ihre Worte durchaus verstanden. Nur die Antwort war etwas anders, als Mara sich nach dieser Erklärung erhofft hatte. Denn der Zweig sagte nur: »Man bleibt, wer man ist.«

Mara schluckte. »Damit willst du sagen, dass man sich nicht verändern kann? Auch wenn man das unbedingt will?«

»Unsinn«, antwortete der Zweig. »Ich verändere mich jeden Herbst, und jeden Frühling wachsen mir neue, andere Blätter. Und doch bin ich im Sommer derselbe Zweig wie im Jahr davor, egal wie sehr ich mir manchmal wünsche, eine Steckrübe zu sein.«

»Du wünschst dir manchmal, eine St…«

»Scherz.«

»Ah, okay.« Mara war einfach nicht in der Stimmung für Scherze.

»Und du«, setzte der Zweig wieder an, »du kannst dein einzigartiges Talent so lange niederkämpfen, bis es sich anfühlt, als hättest du es nie besessen. Und vielleicht wirst du dir dann sogar vorkommen, als wärst du ein anderer Mensch. Aber wisse dies, Mara, und wähle dann weise: Wenn du jetzt nicht alles tust, um deine Gabe zum Wohl von uns allen einzusetzen, wirst du später keine Gelegenheit mehr haben, dich für oder gegen irgendetwas zu entscheiden. Denn dann wirst du zusammen mit uns allen aufhören zu sein.«

Mara hatte bereits den Mund geöffnet, um etwas zu entgegnen, aber mit dem letzten Satz hatte sie nicht gerechnet. Sie sollte ihre Gabe einsetzen, um zu verhindern, dass alle aufhörten zu sein?

Das klang so unscheinbar, so einfach und direkt. Aber gerade deswegen war Mara so erschrocken. Sie bemerkte, dass ihr linkes Bein begonnen hatte, hektisch auf- und abzuwippen, und befahl ihm, dies zu unterlassen. Zu ihrem Erstaunen schien das Bein nicht auf sie zu hören und hopste weiter nervös auf und ab, als würde sie einbeinig Fahrrad fahren.

»Also kann ich dich nur bitten, dich nicht zu verschließen, Mara«, beendete der Zweig seine Ansprache in eindringlichem Tonfall.

Mara schwieg. Was konnte man schon erwidern, wenn ein Zweig mit einem in kursiven Buchstaben sprach?

Und dann tat sie das Einzige, was ihr in dem Moment sinnvoll erschien. Sie streckte die Hände aus, berührte noch einmal die Blätter des Zweigs und hieß die Bilder mit offenen Türen herzlich willkommen.

Zu ihrem Erstaunen wartete diesmal kein schmerzhafter Bildersturm hinter der Berührung. Stattdessen flossen die Eindrücke sanft in ihr Bewusstsein und fügten sich dort sofort zu einem Ganzen zusammen, dessen Echtheit ihr schier den Atem raubte …

Sie spürte steinernen Boden unter ihren Füßen … einen leichten Windhauch, der ihr über die Augen strich. Mara musste blinzeln. Sie sah sich um. Sie stand in einer Art Höhle oder eher Grotte, weiße Kalksteine hingen von der Decke und verloren sich nach oben in unergründliche Schatten. Tropfen kalkweißen Wassers rannen an ihnen herab und trafen viele Meter weiter unten auf ihre spitzen Zwillingsbrüder, die sich nach ihren steinernen Verwandten an der Decke zu strecken schienen. Ein einziger heller weißer Lichtstrahl fiel von oben in den ansonsten dunklen Raum. Er beleuchtete eine Stelle, an der man ein paar der dicken Kalksteine offenbar mit roher Gewalt schräg abgeschlagen hatte. Die schroffen Kanten wirkten so scharf, als könnten sie den Himmel von der Hölle trennen.

Plötzlich tanzten Schatten über den Boden und in der nächsten Sekunde blickte Mara in das Gesicht eines blonden Mannes mit den wildesten und dunkelsten Augen, die sie jemals gesehen hatte. Sie standen in starkem Kontrast zu seiner hellen Haut und dem lockigen strohblonden Haar, das so lang war, dass es bis auf den Boden hinunterreichte.

Der Mann trug einen geflochtenen Kinnbart, dessen Spitze nach oben gebogen war und ihm einen seltsam frechen Ausdruck verlieh. Außerdem lächelte er schief, und das, obwohl er wahrlich keinen Grund dazu hatte: Denn er wurde von mehreren starken Händen auf die scharfkantigen Steine gedrückt, während an seinen Armen und Beinen etwas langsam emporkletterte. Schlangen? Oder Würmer? Die seltsam nass glänzenden Bänder wirkten, als wären sie lebendig, als sie sich fast sehnsüchtig um den Körper des Mannes legten. Und darum schien es Mara auch fast wie ein Verrat, als sich diese ganz plötzlich wie auf ein Kommando gleichzeitig festzogen, tief in das Fleisch des Mannes einschnitten, seine Glieder streckten, den Rücken beugten und ihn so mit einer fürchterlichen Gewalt auf die spitzen Felsen drückten. Lebendige Fesseln? Mara spürte, wie die Panik in ihr hochstieg, und musste sich zwingen, weiter zuzusehen.

Fast glaubte sie nun zu hören, wie sich die schroffen Kanten in den Körper bohrten. Und sie sah, dass sich die Fesseln veränderten … Hatten sie eben noch nass und irgendwie weich gewirkt, schien es nun, als seien sie aus glänzendem Eisen geschmiedet. Und als sich der Mann gegen die Fesseln sträubte, bewegten sie sich keinen Millimeter.

Mara wollte sich abwenden und wagte es doch nicht, die Bilder zu vertreiben. Sie sah, wie sich die Schatten der anderen Männer zurückzogen und eins wurden mit der Dunkelheit in der Höhle …

Und da entwand sich der Kehle des blonden Mannes ein seltsames Geräusch. Es passte so wenig zu der Situation, in der er sich befand, dass Mara erst gar nicht erkannte, was es war. Doch schließlich verstand sie, was der Mann tat. Er lachte. Er lachte sowohl höhnisch als auch wütend, schmerzerfüllt und hysterisch. Gleichzeitig aber klang dieses Lachen so verzweifelt, dass Mara scharfe Tränen in die Augen schossen.

Die Stimme des Mannes wurde immer lauter, immer schriller, und Mara fühlte sich erst an den Schrei eines Raubvogels erinnert. Im nächsten Atemzug aber war ihr, als wäre es ein tief grollender Bär, nein, ein heiser jaulender Wolf … und doch eine menschliche Stimme.

Die Höhle erzitterte, die Tropfsteine an der hohen Decke knackten bedrohlich. Mara duckte sich unwillkürlich, als neben ihr einer der Kalksteine aufschlug und explosionsartig in Scherben und Staub zerbrach. Doch urplötzlich war es wieder so still, dass Mara Angst hatte, der Mann würde sie atmen hören … Da! Sah er nicht gerade zu ihr hinüber? Mara hielt den Atem an, obwohl ihre Lungen sich anfühlten, als würden sie gleich platzen … Nein. Sie musste sich getäuscht haben. Der Kopf des Mannes sank erschöpft auf das steinerne Bett und er blickte ins Nichts.

 

Sie wagte es wieder, flach zu atmen, und sah sich um.

Die Höhle war erfüllt von dem steinernen Staub des zerborstenen Kalksteins und drehte sich langsam in dem gleißenden Lichtkegel wie eine Windhose in Zeitlupe.

Da erkannte Mara im Halbdunkel neben dem Gefangenen eine weitere Gestalt, die sich zögerlich aus den Schatten löste. Als sie schließlich ins Licht trat, blickte Mara in das traurigste Gesicht, das sie jemals gesehen hatte. Es war das Gesicht einer Frau. In der Hand hielt sie eine Holzschale. Doch ihr Blick war nicht auf den Gefesselten gerichtet, sondern auf irgendetwas, das sich oberhalb seines Kopfes aus der Dunkelheit schälte. Ein bösartiges Zischen, das Mara eine Gänsehaut über den Rücken jagte, drang dazu zwischen den Tropfsteinen hervor und erfüllte die Höhle mit einem mehrstimmigen Echo. Der Gefesselte schien etwas zu schimpfen oder zu fluchen, doch die Frau an seiner Seite blieb still. Stattdessen hob sie langsam die Holzschale empor und …


Die Bilder verschwanden wie in einer Nebelwand. Mara sog die Luft ein, als wäre sie nach einem Tauchgang durch die Wasseroberfläche gestoßen, riss die Augen auf und … starrte verwirrt auf die Unterseite ihres Schreibtischs.

Sie lag zum zweiten Mal auf dem Rücken in ihrem Zimmer, ihre Augen waren rot und ihr Gesicht nass von Tränen.

»Wer ist dieser Mann? Was hat er getan, dass man ihn so quält?«

Mara fiel es schwer, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. Auf eine seltsame Weise fühlte sie sich mitschuldig an dem Schicksal des Mannes, obwohl sie nichts getan hatte, außer zuzusehen. Oder etwa, weil sie nichts getan hatte? Aber was hätte sie denn tun sollen? Doch da spürte Mara noch etwas anderes: Ja, irgendetwas hatte sie daran gehindert, ihm zu helfen. Sie hatte außer Mitleid noch etwas gefühlt. Ja, natürlich hatte sie Angst gehabt – aber nicht nur vor dem geheimnisvollen Mann oder seinen Feinden! Nein, Mara hatte vielmehr Angst vor sich selbst gehabt. Davor, eine große Dummheit zu begehen, eben weil sie so viel Mitleid mit dem Gefesselten hatte. Was für ein seltsames Gefühl …

Und schon wieder eine ungelöste Frage mehr! Mara zwang sich dazu, mit dem Grübeln aufzuhören, und warf die Frage zu den anderen auf den riesigen Haufen. Dann atmete sie abermals tief durch und rappelte sich auf.

Nachdem sie sich an der Tischplatte hochgezogen und sich mit einem leisen Seufzer auf ihrem Drehstuhl niedergelassen hatte, stellte sie dem Zweig noch einmal dieselbe Frage.

»Wer ist dieser Mann und was hat er getan?«

Hoffentlich hatte der geheimnisvolle Auftraggeber dem Zweig wenigstens das mit auf den Weg gegeben. Denn wie sollte sie den Mann sonst befreien? Und das war es doch sicher, was man von ihr verlangte, oder?

Der Zweig aber schwieg und Mara spürte, wie die Angst in ihr immer stärker wurde. War der Zweig vielleicht bereits … bitte nicht, noch nicht!

Doch da ertönte endlich die inzwischen vertraute Stimme des Zweiges in ihrem Kopf und Mara beruhigte sich.

»Ganz im Gegensatz zu dir bin ich leider nicht mit der Gabe des Sehens gesegnet«, sprach er sanft. »Ich glaube auch, dass dies ein Talent ist, das nur euch Menschen vorbehalten ist.« Der Zweig seufzte. »Das ist wohl auch der Grund, warum man sich immer schon gerne der Pflanzen als Botschafter zwischen den Mächtigen und den Menschen bediente.«

Der Zweig schien sich noch einmal in seinem Glas hochzustemmen. »Nun ist es Zeit für den letzten Teil der Nachricht, Mara. Hör gut zu, ich werde es nicht wiederholen können, denn meine Kräfte schwinden. Aber mach dir keine Sorgen, das ist ganz normal. Wie alles auf der Welt komme auch ich wieder, selbst wenn es vielleicht ein bisschen dauert.«

Mara wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, und musste stumm zusehen, wie sich der Zweig ein letztes Mal aufrichtete. Nur das leise Zittern ihrer Unterlippe konnte sie nicht abstellen. Die nun folgenden Worte brannten sich so unauslöschlich in Maras Bewusstsein, als hätte man sie ihr direkt aufs Großhirn tätowiert. Und zwar in leuchtendem Rot und mit einem dicken Pfeil daneben.

»Fürchte dich vor Loki, halb Gott, halb Riese, listiger Lügner, wortgewandter Schmähredner, trickreicher Gestaltwandler, Bringer von Streit und Zwietracht, einst Freund und Gefährte der Götter, dann hinterlistiger Feind und Vater noch größerer Feinde

Mara wusste sofort, dass damit niemand anderes als der Gefesselte gemeint war, obwohl sie all das gerade zum ersten Mal hörte. Der Zweig klang, als würde er alles auswendig aufsagen, als er weitersprach:

»Die Fesseln, mit denen wir den Loki einst banden, drohen sich zu lockern. Darum finde ihn und binde ihn. Du hast die Gabe des Sehens, du wirst sehen, wo andere suchen, und du wirst wissen, wo andere zweifeln. Versagst du, droht das Ende. Nur du stehst zwischen uns und …«

Der Zweig hatte Mühe, sich aufrecht zu halten, seine Blätter hatten sich bereits eingerollt. Mara fühlte sofort wieder, wie ihr die Panik den Hals zuschnürte. Was sollte sie denn tun ohne den Zweig? Oder würde sie gleich aufwachen und feststellen, dass alles nur ein Traum war?

Plötzlich gaben die Blätter nach und der Zweig rutschte in das Glas zurück. Mara erschrak und fischte ihn behutsam aus dem Wasser, das inzwischen eine leicht gelbliche Färbung angenommen hatte.

Die Stimme des Zweiges in Maras Kopf war nur noch ein leises Flüstern, als er versuchte die Botschaft zu Ende zu bringen »… zwischen uns und den …«

Wieder rutschte der Zweig ein Stück weiter in die gelbliche Flüssigkeit, hielt sich aber einen Moment, als müsste er noch etwas loswerden, und hauchte ein letztes Wort.

Für Mara klang es wie Anorak.

»Was?«, stieß Mara hektisch hervor. »Bitte, warte, ich meine … ich hab dich nicht verstanden, bitte, was meinst du denn mit …«

Doch anstatt eine Antwort zu geben, glitt ihr der Zweig kraftlos durch die Finger in das trübe Wasser und verstummte.

Mara konnte nicht sagen, wie lange sie danach noch an ihrem Schreibtisch gesessen hatte. Sie war einfach sitzen geblieben, unfähig, auch nur ein Glied zu bewegen. Und als die Sonne bereits hinter dem gegenüberliegenden Haus verschwunden war und auf der Straße die Laternen aufflackerten, war Mara an ihrem Schreibtisch eingeschlafen.