LIFE KILLS

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3: Kopflos

Der erste Mord. Ein Einzelfall. Das dachten sie damals. Ein Monolith, der aus dem Alltag herausragte. Aus dem Sumpf tödlicher Eifersucht, Gier und Dummheit, mit dem sie es normalerweise zu tun haben. Der Mord, der ein neues Kapitel ankündigen sollte. Damals ahnten sie noch nichts, aber: Ab hier griffen die bewährten Methoden nicht mehr. Ab hier gab es kein Zurück mehr. Sie steckten fest.

Es fing harmlos an: Gray und Weinstein fuhren ins Büro. Gray am Steuer, Weinstein am Telefon. Der ältere Kollege, kurz vor der Pensionierung und seit Jahren auf Psychopharmaka, nickte und grunzte alle paar Sekunden. Dann legte er auf und atmete tief ein.

„Mord im Arcadia. Wir müssen.“

„Müssen was?“

Weinstein verdrehte die Augen. Gray wendete an der nächsten Kreuzung und fuhr zurück in die Innenstadt. Mord im Arcadia. Das klang nach Überstunden. Sie fuhren über den Lastenaufzug in den dreizehnten Stock und gingen durch dicke Teppiche den Flur entlang. Zimmer 1309. Gray nickte seinen Kollegen zu und trat ein. Vor dem Bett blieb er stehen. Auf einmal hatte er stechende Kopfschmerzen. Er fasste sich an die Schläfe und sah zu Weinstein. Der Kollege warf einen Blick auf das blutüberströmte Bett und drehte sich wortlos um. Am nächsten Tag meldete er sich krank. Eine Woche später war er frei gestellt.

Unter normalen Umständen hätte Gray ihn aufgehalten. Unter normalen Umständen wäre alles anders gelaufen. Doch als Gray in dem Zimmer stand und auf das Bett starrte, auf den kopflosen Körper und das Blut, das auf den Teppich getropft und an die Wände gespritzt war, als Gray das alles sah, konnte er sich nicht mehr umdrehen. Er hatte schon viel gesehen. Er war schon an Tatorten gewesen, die dem Gemetzel hier in nichts nachstanden. Doch die Kopfschmerzen wurden schlimmer. Und er hatte eine böse Vorahnung. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er sah, was er sah, und er hatte das Gefühl, dass das nicht alles war.

Ein Kollege von der Spurensicherung zeigte auf das Badezimmer und Gray drehte langsam den Kopf. Durch die geöffnete Tür sah er das Waschbecken. Im Waschbecken sah er den Kopf. Er atmete tief ein. Er wartete. Er wusste nicht genau, auf was. Dass Weinstein wieder zurückkommen würde. Dass ein anderer Kollege ihn ablösen würde. Ein junger, motivierter Beamter, der mit der Spurensicherung auf dem Boden herumkriechen und nach Stoffresten suchen würde. Jack, geh nach Hause. Wir übernehmen das hier.

Er bewegte sich erst wieder, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Sophia. Seine Sophia. Sein Schrecken, sein Segen. Seine neue Partnerin, wie sich herausstellte. Ersatz für Weinstein und Verbündete in einem aussichtslosen Kampf in den folgenden Monaten. Aber das wusste er damals noch nicht. Denn der erste Mord ist immer ein Einzelfall. So lange, bis ihn der zweite zu einer Serie macht.

Sophia begrüßte ihn mit einem kurzen Nicken, sah sich um und ging ins Badezimmer. Gray folgte ihr mit gesenktem Blick. Die weißen Kacheln schimmerten bräunlich im gelben Licht. Haare klebten am Waschbeckenrand. Gray zwang sich, den Kopf anzusehen. Sophia zog sich Handschuhe über und fasste ins Becken. Vorsichtig drehte sie das Gesicht nach oben. Gray zuckte zusammen. Das Gesicht war gereinigt worden. Der Kopf in Sophias Händen lächelte.

Fiordia, meine Liebe, meine Lust. Zuerst fühlt es sich einfach an, dann wird es kompliziert, und dann wirst du kompliziert und es funktioniert nicht mehr.

Die nächsten Tage verbrachten Gray und Sophia damit, Informationen zu sammeln und das berüchtigte Netz zu knüpfen. Das feinmaschige, unsichtbare Netz, in das sie den Täter locken wollten. Sein Profil. Doch es taten sich immer wieder Löcher auf. Blinde Stellen, Sackgassen, frisch geknüpfte Fäden lösten sich zwischen ihren Fingern auf. Sie wussten nur soviel: Der Tote war ein britischer Tourist. Er war am Tag vorher eingereist und eingecheckt. Über seine Reisepläne war nichts Genaues bekannt. Auch der Tatort gab ihnen Rätsel auf: Es gab weder Finger- noch Fußabdrücke. Die Autopsie ergab, dass der Mann kurz vor seinem Tod Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Man fand Spuren eines latexfreien Kondoms. Jedoch keine anderen Körperflüssigkeiten als seine eigenen. In seinem Blut wurden Reste eines starken Schlafmittels festgestellt. Der Gerichtsmediziner war nicht der Meinung, dass der Mann „friedlich lächelte“. Gray und Sophia schon und Fox verschüttete beim Diskutieren seinen Kaffee. Die Ermittlungen kamen nicht voran.

Der nächste Mord sechs Wochen später versetzte das gesamte Präsidium in Alarmbereitschaft. Die Ähnlichkeiten zum Arcadia-Fall waren frappierend: Wieder hatte es einen Touristen erwischt, Reisegrund unbekannt. Diesmal war der abgetrennte Kopf des Mannes zurück an den Hals gelegt worden. Auch „Schwanenhals“ lächelte. Und der Autopsiebefund stimmte weitgehend mit dem des letzten Mordes überein. Der Innenminister schaltete sich ein. Das Team wurde aufgestockt. Verbissen knüpften sie weiter am Netz.

Drei Monate vergingen, ohne dass sie in den Ermittlungen weiter kamen. Sie ließen die großen Hotels der Stadt bewachen. Verhörten Hotelpersonal. Erstellten Phantombilder von potenziell Verdächtigen. Entwickelten Täterprofile und verwarfen sie wieder. Sie forschten in der Satanistenszene, trafen sich mit Beamten, die verdeckt in radikalen politischen Gruppen aktiv waren. Wälzten Dossiers über Sexualdelikte, Perversionen, Geisteskrankheiten. Dann ging alles ganz schnell: Die nächsten drei Morde geschahen innerhalb einer Woche. Sie unterschieden sich darin, dass die Männer, ausnahmslos Touristen oder Geschäftsreisende von außerhalb, nicht nur geköpft, sondern in mehrere Stücke zerteilt wurden. Allen gemeinsam war das mysteriöse Lächeln.

Ab dem vierten Mord tauchten blutige Schmierereien an den Wänden auf. Kryptologen entzifferten, widersprachen sich, stellten Theorien auf, verwarfen diese wieder. Gray und Sophia verbrachten Tage in Archiven und verglichen Bilder von Serien- und Ritualmorden auf der ganzen Welt. Es gab Parallelen. Fälle, die Ähnlichkeiten aufwiesen. Fälle, die aufgedeckt und Fälle, die nie gelöst wurden. Serien, die Serien nach sich zogen. Spontantäter und Täter, die alles bis ins kleinste Detail planten. Von einem Motiv in ihrem eigenen Fall jedoch keine Spur.

Ab dem dritten Mord gab es Hinweise auf einen Verdächtigen. Ein junger, dunkelhaariger Mann wurde an den Tatorten gesichtet. Nach dem fünften Mord nahmen sie einen Hotelangestellten fest, der kurz davor in einem der anderen Hotels gearbeitet hatte. Nach Mord sechs ließen sie ihn frei.

Ab dem siebten Mord fanden sie endlich die ersehnte Fremd-DNA: Der abgetrennte linke Schenkel wies Bissspuren auf. Sie begannen, Bluttests bei Verdächtigen zu machen. Ohne Erfolg. Der Täter spielte mit ihnen. Sie mussten, ob sie wollten oder nicht, mitspielen. Nach dem achten Mord gelangte eine Information zu viel an die Öffentlichkeit und Gray musste auf einer Pressekonferenz erscheinen. Fox zog ihn von den Kameras weg. Der Pressesprecher der Polizei behielt die delikaten Umstände für sich, gab aber zu, dass es in den letzten Monaten zu einer Reihe von Übergriffen auf Touristen gekommen sei. Es bestünde jedoch kein Grund zur Sorge.

Was Gray zunächst verdrängte und später bewusst verschwieg, war, dass ihn das Phantombild an jemanden erinnerte. Als Sophia schließlich unbedingt mit einem ehemaligen Informanten reden wollte, wusste Gray sofort, wen sie meinte. Ohne, dass sie es vor einander zugaben, schwebte Cameron im Raum. Ein vages, unangenehmes Gefühl machte sich bei Gray breit. Zwei Tage später, unmittelbar nach dem neunten Mord und dem ersten entzifferbaren Fiordia-Graffiti am Tatort, nahm er sich ein Herz und klickte das Phantombild an, als Sophia neben ihm saß. „Willst du mit Cameron sprechen?“

Sie biss auf ihren Kugelschreiber. „Was meinst du?“

„Ich kenne ihn. Ich meine, von früher.“

„Ich weiß.“

„Er hat damit nichts zu tun. Da bin ich mir ganz sicher.“

Sie sah ihn an. „Ja? Nachfragen schadet nichts.“

4: Der Sprung

Der Mann, massiv, aber wendig, fährt mit einer ausladenden Geste über den Schreibtisch. Tassen klirren, Stifte rollen, Papiere flattern. Fox ist gereizt. Seine Ungeduld hängt wie kalter Nebel zwischen ihm und Gray und Sophia, die schweigend vor ihm sitzen. Gray blickt auf den Boden. Dann zu Sophia. Dann wieder auf den Boden. Jede falsche Bewegung kann unangenehme Folgen haben. Er hat in diesem Raum schon zu viele Dinge fliegen sehen, um dieses Risiko einzugehen.

Fox lockert seine Krawatte. Die Fakten sind beunruhigend. Sein Gesicht ist rot. Elf Morde nach demselben Muster. Fox atmet tief aus. Elf Touristen und Geschäftsreisende wurden in ihren Hotelzimmern abgeschlachtet, neun davon in mehrere Teile zerlegt. Er atmet tief ein. Das Gemetzel, die Verwüstung der Zimmer von Tat zu Tat schlimmer. Er zählt innerlich bis fünf und atmet wieder aus. Und jetzt noch Fiordia. Er kratzt sich am Hals und zählt weiter.

Sophia räuspert sich. „Jack und ich sind der Meinung, dass …“

„Ja?“ (Eins, zwei, drei, vier, fünf)

„Also, wir denken, dass der Mörder, oder die Mörder, es könnten ja auch mehrere sein …“ (neun, zehn, elf, zwölf), „dass der Mörder uns auf eine falsche Fährte locken will. Die Zeichen sind zu gewollt, zu …“ Sie wirft Gray einen Hilfe suchenden Blick zu. Er sitzt zusammengesunken neben ihr, seine Augen halbgeschlossen.

„Zu offensichtlich. Die Hieroglyphen, die Graffitis …“

„Offensichtlich? Was meinst du mit offensichtlich? Wissen wir, was sie bedeuten? (siebenundzwanzig, achtundzwanzig, achtund …, verdammt …)“

 

„Noch nicht. Aber ...“

Fox atmet tief aus. Das Zählen wird ihm zur Qual. Er rutscht nach vorne. Seine Hand greift zur Wasserflasche. Plastik. Gut. Scherben wurden ihm verboten. Er atmet tief ein. „Was aber?“

„Wir glauben, das bedeutet nichts. Der Täter erwähnt Fiordia nur, um uns zu verwirren.“

„Wieso können wir eine Verwicklung der Fiordia-Sekte völlig ausschließen? Habt ihr dafür Beweise? Und was bedeuten diese ganzen Graffitis überhaupt? Leute, wie wäre es, wenn ihr noch mal die Kryptologen einschalten würdet? Nur so ein Tipp von mir.“ Er lässt sich zurück in den Stuhl fallen und drückt die Flasche an die Brust. Jetzt nicht komplett die Nerven verlieren. Nur ein bisschen. Er sieht, wie Sophia den Mund verzieht. Wie er diese Trotzigkeit hasst.

Sophia beißt sich auf die Lippe: Sie glaubt nicht an eine Fiordia-Verschwörung. Fox starrt seine beiden Ermittler an. Gray versinkt tiefer im Stuhl. Fox’ Stimme wird leiser. „Was soll das sein, Jack? Sekundenschlaf?“

Sophia schubst ihren Kollegen an. Als Gray nicht reagiert, nimmt sie einen tiefen Atemzug. „Noch was. Die Indizien häufen sich immer mehr und wirken so ... arrangiert. So, als würde der Täter einer bestimmten Dramaturgie folgen. Wir wissen nicht, wohin uns das noch führen wird, aber ich denke, der nächste Mord ist schon geplant.“

Fox zieht eine Grimasse, die Flasche zittert. Er flüstert, immer noch kontrolliert. „Umso wichtiger, dass wir endlich Fortschritte machen. Dass ihr endlich vorankommt. Jack? Folgst du mir? Bist du noch da? Hallo?“

Dann geht alles ganz schnell. Gray wird sich später nicht mehr genau erinnern können, ob er zuerst den Aufprall gehört oder gefühlt hat. Jedenfalls ist er plötzlich nass. Und Fox sitzt nicht mehr hinter dem Schreibtisch, sondern springt neben ihm auf und ab. So schnell, wie der Ausbruch begann, ist er auch schon zu Ende. Sophia und Gray sehen konzentriert auf ihre Hände. Gray kratzt sich heimlich unter dem nassen Stoff am Schenkel. Fox setzt sich wieder hinter den Schreibtisch und sagt, als sei nichts passiert: „Und ist der Verdächtige dieses Mal wieder gesichtet worden?“

„Vage Andeutungen des Liftboys. Sonst hat ihn niemand gesehen.“

„Niemand hat irgendwas gesehen oder gehört? Leute, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!“ Fox schüttelt den Kopf. Sophia und Gray werfen sich einen Blick zu.

Fox fährt fort, „Der Täter verabreicht den Opfern ein Beruhigungsmittel, so viel wissen wir. Danach tötet und zerteilt er sie. Und das recht fachmännisch. Und schnell. Der Täter muss kräftig sein, wenn er das so sauber hinkriegt. Was denkt ihr?“

Gray räuspert sich. „Vielleicht ist der Verdächtige ein Lockvogel, der später andere ins Zimmer lässt.“

„So, so. Interessante Theorie, Jack. Wie auch immer. Schneider sitzt mir im Nacken. Es wäre schön, wenn ihr nächste Woche mehr Infos hättet. Und ich meine damit nicht eine neue Leiche.“ Fox’ Stimme wird leiser und sein Kopf verschwindet in einer Schublade. Sophia macht eine kurze Kopfbewegung zur Tür und beide verabschieden sich schnell.

Wir gehen in die Sterne, weil wir nicht anders können, nichts anderes macht mehr Sinn, wenn du es einmal getan hast. Es ist kein Zwang, es ist ein Ausweg, der einzige Ausweg.

Wann fing es an? Wann hörte es auf? Am Anfang waren es nur vereinzelte Randnotizen. Ungeklärte Todesfälle im Äußeren Ring der Stadt. Scheinbar ohne Zusammenhang. Zwei Menschen verbrannten sich auf der Straße, während Passanten hilflos zuschauten. Drei Jugendliche wurden tot in einem Keller gefunden, vergiftet. Andere stürzten sich zu Tode. Sie hinterließen keine Abschiedsbriefe, ihre Motive blieben im Dunkeln. Schnell wurden sie wieder vergessen. Doch dann schwappte eine Welle von Massenselbstmorden in ein Sommerloch und sorgte für Medienhysterie: Die Polizei fand an einem einzigen Wochenende 28 Tote in einer Wohnung und vierzehn Leichen in einem Lagerhaus. Das machte die Randnotiz über Nacht zu einer Schlagzeile, den vereinzelten Fall zu einem Phänomen. Tragisch und verstörend, aber auch faszinierend. Zumal immer häufiger ein Name kursierte, ein mögliches Motiv: Fiordia.

Im lokalen Dialekt bedeutete das Wort damals so viel wie „Gott in mir“ und beschrieb alles Mögliche, von religiöser Verzückung bis zum banalen Vollrausch. Bald jedoch stand der Begriff nur noch für die Sekte, die hinter den Selbstmördern vermutet wurde. Waren es Apokalyptiker, die das Ende der Welt prophezeien oder provozieren wollten? Das Gros der Opfer war jung. Zu jung für den Tod, zu arm und ungebildet für ein Leben jenseits des Äußeren Rings. Eine Tragödie, an der sich nicht wirklich etwas ändern ließ. Und die nach anfänglicher Bestürzung auch schnell wieder zur Randnotiz schrumpfte. Die offene Wunde, die Fiordia gerissen hatte, verkrustete, bevor geklärt werden konnte, was tatsächlich dahinter stand. Warum so viele Menschen sich für den Freitod entschieden, ohne sich zu erklären. Der Tod an sich war die Botschaft, und das machte Fiordia zu einer radikal individualistischen Angelegenheit, zu einer mysteriösen Massenpsychose am Rande der Gesellschaft.

Zehn Jahre später war Fiordia zum Mythos geworden, zu einer historischen Fußnote in einer geteilten Stadt. Ihre Ursprünge und Motive blieben im Dunkeln. Suchten die Mitglieder im Tod eine „Vereinigung mit Gott“, einen ekstatischen Extremzustand, der sie aus ihrem Elend befreite? Auch war unklar, ob sich die gesamte Sekte das Leben genommen hatte oder nur einzelne Mitglieder. Die Gründer blieben gesichtslos, es gab keine Informationen, die darauf schließen ließen, dass die Selbstmorde abgesprochen waren, oder dass die Sekte auf irgendeine Weise weiterlebte. Das Einzige, was als erwiesen galt, waren die knapp achtzig Suizide, die mit Fiordia assoziiert wurden, weil der Name entweder bei den Leichen auftauchte oder weil die Selbstmorde zeitlich und räumlich gesehen ins Raster passten. Davon hatten sich die meisten vergiftet, einige wenige verbrannt, erhängt oder selbst gekreuzigt, andere waren in den Tod gesprungen.

Sophia erinnert sich noch an die Fernsehbilder: Zwei Schatten, die sich händehaltend von einem Hochhaus hinunterstürzten, in eine Menge von Zuschauern, die ihnen sprachlos entgegen sah. Auf dem Dach die dunklen Umrisse der zurückgebliebenen Feuerwehrleute, die sie nicht mehr aufhalten konnten. Damals nahm Sophia die Tat weniger als einen Akt der Verzweiflung oder Verzückung, sondern vielmehr als eine Art Performance wahr. Als die beiden nach ihrem Sprung, ein leichtfüßiger Tanz in Sophias Augen, nicht mehr aufstanden, erwischte der Schock sie eiskalt. Die Realität des Todes riss sie aus ihrer Fantasie mit Bildern, die ihr noch Jahre nachgehen sollten. Zwei Jahre danach begann sie ihre Polizeiausbildung. Und nun, fast acht Jahre später, verfolgt der Todessprung sie erneut.

Sophia und Gray sichteten das gesamte verfügbare Videomaterial über die Selbstmorde: Über 40 Stunden Nachrichtenberichte, Interviews, Amateuraufnahmen. Auch die Hochhausspringer sprangen wieder, in den verwackelten Bildern eines aufgeregten Katastrophentouristen. Und wieder erschien es Sophia, als tanzten die beiden wie Superhelden durch die Luft. Und wieder zuckte sie zusammen, als sie unten liegen blieben, während die Kamera an den Füßen der Umstehenden hängen blieb. Sie sah die Gesichter der Toten nicht, aber sie war sich sicher, dass die beiden lächelten. Und sich noch immer an den Händen hielten.

AM SEE:

Die beiden Männer verließen den Raum nicht. Zimmerservice. Minibar. Do Not Disturb. Es regnete in Strömen. Der See lag mit gekräuselter Oberfläche direkt vor dem Fenster. Sie verschanzten sich gegen die nasse Kälte im Hotelzimmer und ließen die Tage und Nächte vorbeiziehen, abwechselnd grau und schwarz, verwaschen, ohne Konturen. So, als habe sich ein Ball dämmender Watte um sie gelegt, um ihre Sinne und Bewegungen. Die Geräusche verschwanden im Nebel. Die Farben verblichen in der Feuchtigkeit. Alles, was die Männer noch sehen konnten, waren sie selbst. Der eine war bei einem Unfall gestorben. Ein Wiedergänger. Ein Inkubus. Ein bösartiges Geschwür, das sich Stunde um Stunde fester in den anderen verkeilte. Dieser wiederum verkroch sich in seiner Trauer. Er hatte seine Schwester verloren und sich in ihr. Der Wiedergänger hielt die Zeit für ihn an, versteckte sie im Nebel, befreite ihn von sich selbst. Der Trauernde wusste es noch nicht, aber er würde den Nebel mitnehmen.

5: Traumfrei

Als es klingelt, wacht er wieder auf. Die Zigarette glimmt noch. Sekundenschlaf. Gray rappelt sich hoch. Sucht den Aschenbecher. Es klingelt Sturm. Scheiße, wer ist das bloß. Er schaut auf die Uhr. Sie ist weg. Ihm fällt auf, dass er noch den Mantel an hat. Und darunter den Anzug. Er hat Kopfschmerzen, obwohl er betrunken ist. Es klingelt Sturm. Das muss Sophia sein. Wieder ein Mord. Er torkelt zur Tür und öffnet.

Vor ihm steht Cameron. Bevor Gray etwas sagen kann, hat er sich an ihm vorbei in die Wohnung gedrückt.

„Was machst du denn hier?“

„Ich komm dich besuchen.“

„Es ist“, Gray zieht den Ärmel des Mantels hoch und schaut auf die Uhr. Sie ist da, wo sie immer ist. „Halb vier, mitten in der Nacht. Ich hab schon geschlafen. Was ...?“

Cameron lacht. „Rauchst du im Schlaf?“

Gray zuckt die Schultern und lässt die Kippe fallen. „Andere träumen. Ich rauche. Na und?“

„Im Ernst, was machst du gerade?“ Cameron greift nach der Flasche auf dem Tisch und hält sie ins Licht. „Du hast gesoffen? Ha! Ich habe eine bessere Idee: Lass uns rausgehen und ich zeige dir was.“

Gray schüttelt den Kopf. Langsam zieht er den Mantel aus und lässt sich auf die Couch fallen.

„Doch, lass uns das machen. Kannst du mir ein T-Shirt leihen? Ich muss mir was überziehen.“ Cameron öffnet die Lederjacke. Auf seiner Haut frische rote Striemen. Bevor Gray protestieren kann, hat er die Jacke ausgezogen. Grays Augen wandern von den Kratzspuren zu Camerons Arm. Als er die Tätowierung sieht, zuckt er zusammen. Cameron verschränkt die Arme und sieht ihn an, herausfordernd. „Und?“

„Das Auge.“

„Was ist damit?“

„Seit wann hast du es?“

Cameron runzelt die Stirn. „Schon ewig, warum?“

„Damals hattest du es noch nicht. Ich meine, am See.“

„Doch. Hast du wohl vergessen.“

„Nein, das glaube ich nicht.“

Cameron schaut aus dem Fenster und lächelt. „Hey, ich erzähle dir die Geschichte im Taxi. Kann ich mal telefonieren?“

Bevor Gray etwas erwidern kann, hat Cameron sein Telefon gefunden und tippt eine Nummer ein.

„Ich geh nicht mit. Mit dem Taxi kannst du allein fahren.“

Cameron steht auf und zieht Gray nach oben. „Nimm den Mantel mit. Und was ist mit dem Shirt? Egal. Ich nehme das Hemd hier. OK? Lass uns gehen. Das Taxi kommt gleich.“

In der einen Hand seine Jacke, in der anderen Grays Arm öffnet er die Tür und zieht Gray nach draußen.

„Verdammt noch mal. Kannst du mir mal sagen, was das soll? Wohin gehen wir?“

Cameron zieht ihn in den Lift. „Lass dich überraschen.“

Sie setzen sich ins Taxi und Cameron nennt eine Adresse in der Weststadt. Sie fahren los und bald schon kennt Gray die Gegend nicht mehr. Cameron zieht sich das Hemd über und zündet eine Zigarette an. Der Fahrer sagt etwas. Cameron gibt zurück.

Gray versteht den lokalen Dialekt nicht. „Was hat er gesagt?“

„Er hat gesagt, dass du gut aussiehst in dem Mantel.“

„Sehr witzig. Und was hast du gesagt?“

„Dass du besser ohne aussiehst.“

Als sie von der Hauptstraße abbiegen und sich durch ein Wohngebiet schlängeln, werden die Häuser kleiner, die Straßen dunkler, die Grünflächen größer. Gray sieht schweigend aus dem Fenster, bis er es nicht mehr aushält. „Jetzt sag schon, wo’s hingeht.“

„Geheimnis.“

„Und die Geschichte mit dem Auge?“

„Ich hatte einen Filmriss und danach das Auge.“

„Ich glaube dir kein Wort.“

Cameron legt ihm beschwichtigend die Hand auf das Bein. Gray atmet tief ein. Ungewollte Erinnerungen werden wach und er öffnet das Fenster. Es nieselt leicht. Aber es ist nicht kalt. Die Luft riecht frisch. Sein Blick bleibt an einer Reihe geparkter Autos hängen, an Ausfahrten und Straßenschildern. Nichts gibt ihm Aufschluss über Camerons Plan. Er ärgert sich über sich selbst. Cameron wirkt entspannt. Zu entspannt. Er lässt den Kopf nach hinten fallen und schaut an die Decke.

Nach über einer halben Stunde hält Cameron den Wagen an und zahlt. Langsam steigt Gray aus und geht hinter ihm her. Sie überqueren einen Grünstreifen und laufen auf einen kleinen Bahnhof am Waldrand zu. Hier gibt es kaum noch Häuser. Der Wald riecht nach nassem Laub und Erde. Selbst aus der Nähe sieht er undurchdringlich aus. Ein Dutzend Motten fliegt um eine gelb schimmernde Straßenlaterne herum. Das Taxi verschwindet hinter einer Ecke und sie sind allein.

 

Gray rutscht ein paar Mal auf der weichen Erde aus, aber Cameron wird nicht langsamer. Beide schweigen. Gray merkt, wie ihm unwohl wird. Er weiß, dass er Cameron nicht vertrauen sollte. Aber dazu ist es jetzt zu spät. Seine alte Paranoia flackert auf, als sich Cameron umdreht und ihn anlächelt.

„Wir sind gleich da.“

Er zieht ihn auf den Weg, der am Bahnhofshaus vorbei nach oben in den Wald verläuft. Nach ein paar Schritten bleibt Cameron stehen und schaut ihn an. „Spring.“

„Was?“

„Spring aufs Dach. Es ist nicht hoch.“

Cameron zeigt auf das Haus neben dem Weg. Das Dach ist direkt unter ihnen. Ein graues, feucht schimmerndes Rechteck, das sich in einer Felswand verliert.

Gray zieht die Schultern hoch. „Spinnst du? Was soll das?“

„Sag ich dir, wenn du unten bist.“

„Ich denk nicht dran!“

Cameron macht einen Schritt nach vorne und reißt ihn mit. Schwer prallen sie auf dem Dach auf, doch Cameron rollt sich sofort ab und schnellt wieder nach oben.

Gray stöhnt auf, als Cameron ihm hoch hilft. „Du Dreck ...“

Cameron lacht auf und wirft den Kopf zurück. Gray beißt die Zähne zusammen und setzt sich schwerfällig hin. Auf den beiden Bahnsteigen unter ihnen leuchtet ein diffuses gelbes Licht, die Gleise liegen dunkel dazwischen. Rechts von ihnen steht der Wald, links verlieren sich Felder und Wiesen in der Dunkelheit. Er merkt, dass Cameron auf einmal ruhig geworden ist. Es ist ganz still um sie herum. Nicht einmal aus dem Wald dringen Geräusche. Gray folgt Camerons Blick und sieht nach oben.

Ein Sternenmeer breitet sich über ihnen aus. So viele Sterne hat er seit seinem letzten Urlaub nicht mehr gesehen. Er kann sogar die Milchstraße ausmachen. Den Großen oder Kleinen Wagen. Das W der Kassiopeia. Mehr kennt er nicht vom Himmel. Cameron setzt sich neben ihn und drückt ihn sanft aber bestimmt nach unten, bis sie nebeneinander auf dem Flachdach des Bahnhofs liegen. Gray fühlt, wie die Feuchtigkeit in seine Kleider zieht. Aber ihm ist nicht kalt. Er nimmt einen langen Atemzug. Riecht den Wald, riecht Cameron. Er muss husten. Einige Minuten lang liegen sie schweigend nebeneinander. Gray spürt ein Flattern im Magen angesichts der unvorstellbaren Menge an Planeten, Sternen und Galaxien. Die Grenzenlosigkeit des Weltraums macht ihm Angst. Ihm wird schwindelig und er merkt, wie sein Körper an Schwerkraft verliert, langsam nach oben zu schweben scheint. Er bewegt sich immer weiter in die Nacht, weg von dem Dach und Cameron, wie ein mit Helium gefüllter Ballon, der ziellos durch die Lüfte fliegt, bis ihm das Gas entweicht. Auf einmal fühlte er Camerons Hand, die ihn wieder zurückzieht.

„Hey, bleib hier.“

Gray kommt schlagartig zu sich. „Was ist passiert?“

„Nichts. Hörst du es?“

„Was? Was soll ich hören? Ich höre gar nichts. Ich …“

„Jetzt sei doch mal ruhig.“ Cameron zeigt in Richtung Wald und nun kann Gray es auch hören. Ein Zug.

„Trainspotting? Ich verstehe. Hast du was dabei?“

Cameron wirft ihm einen Blick zu. Fast spöttisch. „Gleich. Erst muss der Held eine Reise machen.“

Gray rollt die Augen. Camerons Anspielungen gehen ihm auf die Nerven. Er weiß nicht, was das bedeuten soll, aber er weiß, es wird schlimm. „Welcher Held? Ich hoffe, du erwartest nicht von mir, dass ich auf den Zug springe oder so’n Scheiß. Dazu bin ich echt zu alt.“

Cameron zieht eine Augenbraue hoch. „Zu alt oder zu langweilig? Ha! Ich dachte, wir machen jetzt mal einen drauf.“

„Was, hier?“

„Warum nicht? Du bist ein ganz schöner Lahmarsch geworden, Jack. Aber wart’s ab: Gleich wirst du dich selber überraschen.“

„Ach ja? Darauf kann ich verzichten. Am liebsten …“

Cameron legt den Finger an die Lippen und Gray verstummt. Warum, weiß er nicht. In der Stille hört er, wie der Zug näher kommt. Er kann schon die Scheinwerfer sehen. Gleich wird er einfahren. Ob hier um diese Zeit noch Leute ein- oder aussteigen? Bevor er den Gedanken zu Ende denken kann, steht Cameron auf, rennt nach vorne und springt hinunter. Vor den Zug.

Die Bremsen sind so laut, dass ihm fast die Ohren explodieren. Cameron ist vor den Zug gesprungen. Er hat ihn den ganzen Weg vor die Stadt gezerrt, um sich vor seinen Augen umzubringen. Gray spürt, wie ihm schlecht wird. Säure schwappt in immer größeren Wogen durch seinen Magen. Seine Augen brennen. Sein Atem wird schneller. Cameron ist tot. Sie werden ihn hier oben finden und annehmen, dass er ihn hinunter gestoßen hat. Er muss sofort weg von hier. Sein Mund wird heiß, dann sauer. Er schüttelt sich widerwillig. Die erste Welle kommt über ihn. Er kotzt in Schüben, erst überrascht, dann voller Wut. Das kann nicht wahr sein. Cameron ist tot. Während er einen Weg nach unten sucht, kreist ihm dieser Satz durch den Kopf, schmeißt sich von Schädelwand zu Schädelwand, bleibt hängen wie eine verschmutzte CD. Der Fußweg ist zwei Meter über ihm und es gibt keine Möglichkeit, die Felswand hoch zu klettern. Jedenfalls nicht für ihn. Er kriecht zum Rand des Daches und sieht hinunter. Zu hoch, um zu springen, er muss irgendwo hinunterklettern. Vor seinen Augen tanzen weiße Flecken.

Cameron ist vor den Zug gesprungen. Grays Augen tränen. Er kann es nicht fassen. Er kann es einfach nicht fassen. Leise flucht er vor sich hin, während sein Körper noch immer vor Übelkeit zuckt. Auf einmal fällt ihm auf, dass der Zug wieder anfährt. Er hört keine lauten Stimmen, die nach Hilfe schreien. Niemand ruft nach dem Krankenwagen oder der Polizei. Niemand sucht das Dach mit Scheinwerfern ab. Der Zug fährt einfach weiter als sei nichts passiert. Gray bleibt sitzen, verwirrt. Muss er jetzt nach Camerons Leiche suchen? Was davon übrig ist und zwischen den Gleisen klebt? Er zittert wieder und wünscht sich, der Zug würde nie aufhören. Abteil um Abteil fährt an ihm vorbei, es ist ein alter Zug, dunkelrot im trüben Bahnhofslicht, grau, da, wo er den Bahnhof verlassen hat. Abteil nach Abteil nach Abteil. Und dann nichts.

„Hey!“

Gray reibt sich die Tränen aus den Augen. Hinter den Gleisen steht Cameron und grinst ihn an. Spöttisch. Definitiv spöttisch. „Na, spürst du es schon?“

Er spürt es. Brennende Adrenalinstöße, die sein Blut beschleunigen. Wieder schießen ihm Tränen in die Augen. Er rappelt sich auf. Sein Körper zuckt vor Wut. Er kann kaum noch atmen. „Du …du … dreckiger …“

Cameron kommt auf ihn zu und verschwindet unter dem Dach. Einige Sekunden später steht er neben ihm. Gray merkt, wie er vor Wut fast blind wird. Sein Herz rast, der Knoten in seiner Brust wird enger. Mit einem Schrei wirft er sich auf Cameron und reißt ihn nach unten. Ohrfeigt ihn, schüttelt ihn, drückt ihn mit seinem ganzen Gewicht auf das Blech des Dachs.

„Du beschissenes ... Hast du eine Ahnung, was für eine Angst du mir eingejagt hast? Scheiße, ich dachte, das war’s. Ich dachte wirklich … Das kannst du nicht mit mir machen! Scheiße. Ich bin total fertig. Ich habe wirklich gedacht, du hast dich vor den Zug ... Ich habe gedacht …“ Er bricht zusammen und lässt sich neben Cameron fallen. Cameron setzt sich auf und beugt sich über ihn, streichelt ihm über den Kopf, das Gesicht.

„Lass mich in Ruhe! Ich habe die Schnauze voll von deinen beschissenen Spielchen. Ich kann nicht mehr. Ich ... Oh, Mann.“ Er zieht sich zusammen und dreht sich auf die andere Seite. Er kann nicht aufstehen. Ihm ist hundeelend. Er fühlt sich nicht nur von Cameron verarscht, er merkt auch, dass er sich selbst nicht mehr trauen kann. Seine Nerven liegen blank. Das feuchte Dach scheint ihn in sich hineinzuziehen, in den diffusen Zustand, vor dem er schon den ganzen Abend weggelaufen ist. Die letzten Monate. Quasi sein ganzes Leben. Er beginnt zu zittern. Es gibt keinen Ausweg. Nichts macht Sinn. Nichts in seinem Leben macht Sinn.

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