Zellgeflüster

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Zellgeflüster
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Tons May

Zellgeflüster

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Impressum neobooks

Kapitel 1

Ethos anthropoi daimon.

A man’s character is his daimon.“

Heraclitus


„Wach auf!“

Ihre Stimme überrascht mich. Sie ist tiefer, als ich erwartet hätte. Dunkel und heiser. Ihre Augen halbgeschlossen. Ihr Gesicht glänzt im flackernden Licht. Sie sieht aus, als würde sie ohnmächtig werden. Ich halte sie an den Armen fest, schüttle sie.

„Ich bin wach.“ Auch meine Stimme überrascht mich.

Ich muss husten. Sie schüttelt den Kopf. Lächelt. Das Haar fällt ihr strähnig ins Gesicht, sie kippt zur Seite. Ich fange sie auf. Sie riecht nach einem Parfüm, das ich kenne.

„Du musst sie loslassen.“

Sie lässt ihren Kopf nach hinten fallen und starrt mich einen Moment lang an. Dann taumelt sie wieder zur Seite. Ich stolpere hinterher.

„Was ist das für ein Parfüm?“

„Erst finden. Dann loslassen.“

Sie lacht schrill auf. Ein unangenehmes Lachen. Aber ihre Stimme ist sexy.

Meine kann nur noch flüstern. „Was meinst du damit?“

Sie reißt einen Arm los und lässt ihre Finger in der Luft tanzen. Sticht mir mit dem Zeigefinger in die Brust. Fährt mit der Hand nach unten, bis zum Bauchnabel.

„Deine Geister. Du musst sie finden und loslassen. Sonst.“

„Was sonst?“

Ich hoffe, ihre Hand bewegt sich weiter hinunter, macht mir ein Angebot.

„Sonst wirst du krank. Richtig krank. Nicht so wie jetzt.“ Sie lacht wieder, nicht mehr so schrill. Dann lässt sie den Arm fallen. Ihre Lider zittern schwer. Ihre Lippen bewegen sich lautlos. Ich ziehe sie nach draußen, in den Innenhof, und setze sie auf eine Bank. Ihr Kopf sinkt nach hinten. Ich kann das Weiße in ihren Augen sehen. Zwei leuchtende Halbmonde unter dunkel verklumpten Wimpern. Einen Augenblick lang denke ich, sie hat einen epileptischen Anfall. Doch dann zieht sie den Mund in ein Lächeln und küsst mich. Opium. Ihr Hals riecht nach Opium.

Später sitzen wir auf dem Dach. Sie lässt eine Zigarette zwischen den Fingern verglimmen und starrt vor sich hin. Die Sonne geht auf und schlechte Laune zieht wie Nieselregen durch die Luft. Sie kratzt sich am Ellbogen. Ich sehe die dunklen Flecken auf ihrem Unterarm, mein Versuch, mich in ihre weiße Haut zu brennen. Die Nacht unvergesslich zu machen. Als ich sie nach ihrem Namen fragen will, fällt ein Schatten auf ihr Gesicht. Ich schaue hoch. Jean steht vor uns. Er nickt uns zu, lächelt. Sie steht auf in einer flüssigen Bewegung, die ich ihr nicht zugetraut hätte. Zum Abschied wirft sie mir einen Kuss zu. Er lächelt noch immer, sie drehen sie um und gehen. Er hat den Arm um sie gelegt und sie geht auf einmal ganz aufrecht. Nicht mehr betrunken, nicht mehr müde.

Auch ich bin nicht mehr müde. Der Sänger hat mir die Frau weggenommen. Ich weiß, wie sie schmeckt, aber ihren Namen weiß ich nicht. Und ich weiß noch immer nicht, was sie mir sagen wollte. Der Sänger hat das Geheimnis mitgenommen. Ich suche mein Fahrrad, finde es hinter einem Baum und fahre los. Ihr Geruch hängt wie ein Schleier an mir. Ich trete schneller, um ihn abzuhängen.

Obwohl es noch früh ist, vielleicht sieben oder acht, ist die Luft schon warm und schwer, so, als könne man sie anfassen, von der Haut kratzen. Ich fahre am Kanal entlang, bis die Industrieanlagen anfangen, und setze mich ins hohe, gelbe Gras am Ufer gegenüber. Mein Mund schmeckt nach der Nacht, bitter und unfertig. Der Hals brennt. Ich muss husten. Die Sonne ist viel zu hell und ich suche nach der Sonnenbrille. Ich finde sie und es ist nicht meine. Ich weiß nicht, wer sie ist, wie sie heißt, ob ich sie wiedererkennen würde. Um mich zu erinnern, berühre ich die Stelle am Hals, wo sie sich festgesaugt hat. Ein Anker in einen Moment vor ein paar Stunden, an dessen Details ich mich kaum noch erinnern kann. Irgendetwas hat sich kurz entfaltet und ist wieder zusammengefallen.

Geister? Die Frauen, die ich treffe, werden immer merkwürdiger.

Meine Hände riechen nicht mehr nach ihr, nach ihrem Duft, sondern nur noch nach Zigaretten. Ich hätte sie nach dem Namen fragen sollen. Wären wir nüchterner gewesen, wären wir uns woanders begegnet – sie hätte nicht von Geistern gesprochen und ich würde jetzt nicht hier sitzen, sondern irgendwo schlafen. Irgendwo, wo es dunkel und weich ist. Wo es nach Opium riecht und meine Sonnenbrille noch mir gehört. Ich lege mich auf die Seite und atme in die vertrocknete Wiese.

Als ich aufwache, ist es nachmittags. Mein Hemd ist nass, Gras und Erde kleben am Ellbogen, im Gesicht. Ich lege mich auf den Rücken, blinzle in den Himmel. Die Sonnenbrille hat einen Sprung und ich sehe den Riss im Universum. Den Riss, nach dem ich immer suche. Den Riss, den ich nicht finden will. Er zieht sich direkt vor mir nach oben, zum Anfassen nahe. Ich muss husten. Mein Mund ist voller Käfer. Ich stehe auf und kippe um. Ich komme wieder auf die Knie, langsam und zittrig, als ich ihn links neben mir sehe. Er sitzt auf einer Mauer und schaut aufs Wasser. Er trägt eine Sonnenbrille, die so aussieht wie meine, Jeans, Turnschuhe und eine Kapuzenjacke, die ihm tief ins Gesicht hängt. Er tut so, als würde er die Enten beobachten, die in Formation ans andere Ufer schwimmen. Sobald ich den Enten nachschaue, merke ich, dass er mich anstarrt. Ich drehe den Kopf blitzschnell zurück, aber er ist schneller. Hinter seiner Sonnenbrille und Kapuze verschanzt, spielt er ein Spiel mit mir. Vielleicht hätte ich vor ein paar Stunden noch mitgespielt. Jetzt stehe ich auf, reiße mein Fahrrad hoch und fahre los.

Nach einigen Metern drehe ich mich um. Er fährt hinter mir, langsam, gebeugt über sein Fahrrad wie eine Schildkröte. Ich fahre schneller, sehe mich nicht mehr um, bis ich zur nächsten großen Querstraße komme. Hier warte ich, bis die Ampel auf grün springt. Ich kann ihn hinter mir spüren. So, als klebte er an meinem verschwitzen Rücken. Wieder ein Schleier, den ich nicht abschütteln kann. Schließlich wechsle ich auf große Straßen und fahre zügig. Als ich an einem Bäcker vorbeikomme, halte ich an. Der Verkehr ist dichter geworden. Menschen überqueren die Straße. Hier bin ich sicher. Ich lehne das Fahrrad an die Wand und gehe hinein. Als ich wieder herauskomme, sehe ich ihn auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er schaut mich unverhohlen an. Seine Kapuzenjacke ist offen, sein dünner Oberkörper nackt. Unfassbar. Ich hänge die Brötchen an den Lenker, steige aufs Fahrrad und schlängele mich durch die Autos auf die andere Straßenseite. Er steigt auf sein Fahrrad und fährt los. Ich ihm hinterher. Am Ufer biegt er ab und poltert auf Pflastersteinen eine schmale, schattige Straße hinunter. Ich hinterher. Dann bleibt er plötzlich stehen, schmeißt das Fahrrad vor ein Haus und rennt durch die offene Haustür. Ich hinterher.

 

Im Hinterhof erwische ich ihn. Ich greife nach seiner Jacke. Will ihm die Brille herunterreißen, will ihm eine reinschlagen. Ein heißer Schauer überläuft mich, Wut, Geilheit, Frust, die Energie der letzten Nacht will sich entladen. Er entgleitet mir, rappelt sich hoch, zieht mich mit sich, durch eine Tür, noch eine Tür. Er schlägt mir in den Magen. Ich stürze und reiße ihn mit. Wir fallen irgendwohin, wo es weich ist. Er würgt mich. Ich schlage ihm die Brille herunter. Er würgt mich weiter. Ich versuche mich herauszuwinden, reiße ihn an den Haaren, kicke mit den Beinen. Er lässt meinen Hals los und drückt meine Hände in die Matratze, auf die wir gefallen sind.

Sein Blick verändert sich. Er öffnet den Mund, als wolle er sprechen. Ich lasse seine Haare los. Er bewegt sich langsamer. Ich starre in sein Gesicht, in seine dunklen Augen, sehe die kreisförmigen Narben auf seiner Brust, die mich an etwas erinnern. Er lässt mich los, schiebt die Hand unter meinen Kopf, berührt meinen Nacken. Ich hebe die Beine, merke, was er tut, starre ihn an, versuche sein Gesicht einzuordnen, ich kenne ihn von irgendwoher, aber woher fällt mir nicht ein. Wie von weitem höre ich seinen schnellen Atem. Dann spüre ich den Schmerz, gebe nach, lasse los, schließe die Augen. Die Geisterfrau lacht mich an, ihr Gesicht schweißüberströmt, ihre Fingernägel in meinem Rücken.

Als er kommt, murmelt er etwas, aber ich weigere mich, die Augen zu öffnen, aufzuwachen, da zu sein. Ich bin da, wo ich sein will. Das Blut rauscht mir in den Ohren. Für einen Augenblick denke ich, es raunt mir etwas zu und ich schreie, um es nicht mehr zu hören, um ihn nicht mehr zu hören. Ich schreie, weil ich in dem Moment immer schreie und weil es mir egal ist. Ich muss lauter sein als mein Kopf.

Als ich wieder zu mir komme, ist er weg. Meine neue Sonnenbrille auch. Ich ziehe mich an und stolpere aus der Wohnung, ohne mich umzudrehen. Ein unsanierter Weddinger Altbau. Müll im Treppenhaus, mehr Müll im Hinterhof, alte Sofas, leere Flaschen, zerrissene Tüten. Ich bahne mir einen Weg durch die überall herumstehenden Fahrräder ins Vorderhaus und atme erst wieder im kühlen Treppenhaus durch. Draußen steht die heiße Luft und immer noch: mein Fahrrad. Es lehnt an einem Baum auf der Straße. Am Lenker hängt eine Tüte. Ich habe auf einmal Angst, dass ich in eine Falle geraten bin. Dass mich in der Tüte etwas Fürchterliches erwartet. Sprengstoff. Eine abgetrennte Hand. Doch die Neugier siegt und ich ziehe die Henkel mit den Zeigefingern auseinander. Meine Brötchen. Ein kleine Flasche Wasser. Und ein Überraschungsei, das ich ganz sicher nicht gekauft habe. Ich öffne es, werfe die weiche Schokolade weg und finde ein grünlich leuchtendes Gespenst in dem gelben Plastikei. Sehr witzig.

*****

Ich liege in einem kleinen Ruderboot, das hin und her schwankt. Über mir der Himmel, Sterne zwischen Wolkenfetzen. Ich kann mich nicht aufsetzen, kann mich nicht bewegen, bin an den Boden dieses Bootes gebunden. Die Schwankungen machen mich müde, aber etwas hält mich wach. Eine Stimme, die nicht nach mir klingt oder vielleicht so sehr nach mir, dass ich sie nicht erkenne, flüstert unentwegt. Ich strenge mich an, um zu verstehen, was sie sagt. Ich strenge mich so an, dass ich Kopfschmerzen bekomme. Ich verstehe: Noch immer hier. Noch immer hier. Ich höre: Nicht angekommen. Nicht angenommen.

Als der Regenbruch anfängt, fange ich an, mich langsam aufzulösen. Ich löse mich auf in viele Teile, die jeder für sich weitertreiben. Ich möchte nicht loslassen, will mich nicht dem Gewitter überlassen, aber ich kann nicht mehr. Ich höre die Stimme: Nichts ist so, wie es sein soll. Kein Mutterschoß. Kein Angekommen, kein Angenommen.

Die Stimme spricht weiter, die Wellen werden höher, bis ich aus dem Boot geworfen werde. Ich schieße ins Wasser, schnell, hart, das Boot über mir ein dunkler kleiner Keil, der in der Gischt verschwindet. Cenobio, lass los. Ich weiß nicht, wer oder was Cenobio ist, aber ich gehorche. Ich höre den Schrei und wache auf.

Ich habe keine Ahnung, was Cenobio bedeutet. Aber ich habe das Gefühl, ich müsste es wissen.

*****

Fiat kommt mittags vorbei und fragt mich, ob ich eine Auftragsarbeit für einen Freund von ihm annehmen würde. Er gibt mir eine Kopie eines Fotos: ein einfaches Holzhaus mit zwei Fenstern. In einem der Fenster ist eine helle Silhouette zu erkennen. Der Geist ist so schlecht hinein retuschiert, dass es das Foto nie in ernsthafte Archive geschafft hat.

„Hydesville. Die Hütte, in der die Fox-Schwestern die ersten Geistersignale empfangen haben.“

„Du bist gut, Beat!“ Fiat klatscht in die Hände.

„Der Fake ist albern. Jeder weiß, dass die Hydesville Geister klopften und nicht an den Fenstern herumstanden.“

„Jeder weiß, dass das Ganze inszeniert war, aber darum geht’s doch nicht, oder?“ Fiat rührt mit den Fingern in der Luft.

„Um was geht’s dann?“

Seine Stimme wird laut. „Um den Anfang der spiritistischen Bewegung!“

„Subtil ist das nicht.“ Ich habe wenig Lust, eine Holzhütte zu malen. „Für wen soll es sein?“

„Für eine Familie. Die Auftraggeber möchten gerne anonym bleiben.“ Er legt die Hände vor dem Bauch zusammen.

„Eine Familie?“

Ich schiebe das Foto vor mir hin und her. „Kommt das Bild ins Kinderzimmer? Soll ich noch ein Tier dazu malen? Wie wäre es mit einem toten Bambi hier?“

Fiat reißt mir die Kopie aus der Hand. „Sie zahlen 800“, ruft er.

„OK.“ Ich zucke mit den Schultern.

Er lächelt mich an.

Ich hefte das Haus der Fox-Schwestern, der „Mütter des Spiritismus“ in Fiats Worten, an die Wand neben der Leinwand, an der ich gerade arbeite. Das lieblos gefälschte Fenstergespenst sieht lächerlich aus. Ich muss mir überlegen, wie ich das Bild interessanter machen kann. Vielleicht deute ich tatsächlich noch irgendwo ein Tier an. Irgendetwas Lebendiges, um einen Kontrast zu bekommen. Wenn alles tot ist, kommt keine Stimmung auf.

Nachdem wir den Abgabetermin besprochen haben, erzähle ich Fiat von meiner letzten Traumserie. Er findet das alles sehr spannend. Ich weniger.

„Es ist vor allem anstrengend. Wenn ich aufwache, bin ich total gerädert.“

„Schlafmittel sind keine Lösung?“

„Ich habe die Träume sogar, wenn ich betrunken ins Bett gehe.“

„Dann versuche es doch mal mit Klarträumen. Du weißt, was das ist, nehme ich an?“

Fiat, der Mann für pragmatische esoterische Lösungen.

Ich nicke. „Ich konditioniere mich vor dem Einschlafen mit entsprechenden Suggestionen, damit mir im Traum bewusst wird, dass ich träume. Dann suche ich meine Hände. Dann beeinflusse ich die Handlung. Korrekt?“

„Ich habe ein gutes Buch dazu, das bringe ich dir mit“, erwidert er und drückt mir einen Zeigefinger in die Brust.

Fiat hat für jedes Problem ein gutes Buch. Ich zeige zum Regal gegenüber. „Du hast mir schon mal eins zum Thema geschenkt, erinnerst du dich? Danke für den Tipp.“

Beim Rausgehen klopft er mir auf die Schulter. „Wie wäre es mit einem Dreamcatcher, Beat?“

In der Nacht darauf träume ich, dass ich ohne Boot im Meer treibe. Ich werde in einen Sturm gezogen, direkt hinein in die Wellen, in die Gischt, in die Schatten großer Fische oder versunkener Schiffe und die Stimme singt leise und monoton: Noch immer hier. Noch immer hier. Nicht angekommen. Nicht angenommen. Der Schoß verschlossen.

Ich schieße durch immer stürmischere Gewässer. Nicht angenommen, nicht angekommen. Nicht untergegangen, nicht verschluckt, nicht im Blitz verbrannt, nicht an den Felsen zerschellt.

Ich weiß, ich habe festgehalten. Woran? Ich habe keine Ahnung. Womit? Mit meinen Händen. Bevor ich nach den Händen suchen kann, höre ich den Schrei.

Im ersten Moment denke ich, dass ich schon wach bin, dass ich die ganze Zeit wach war, aber ich erwache wahrscheinlich erst von dem Schrei. Sofort fange ich an zu zittern. Der Schrei ist vorbei, doch sein Nachklang hat sich in die Luft gestochen, in meinen schnellen Atem hinein. Ich fahre hoch, setze mich auf die Bettkante. Warte, bis sich die Augen öffnen. Als der Schwindel nachlässt, stehe ich auf und gehe ins Bad. Ich mache das Licht an, drehe den Wasserhahn auf, meine Hände grau in dem hellen Licht. Müde lasse ich meinen Kopf hängen, ins kalte Wasser, in den Kalkgeschmack. Ich muss aufwachen, mich beruhigen, den Schrei vergessen. Ich spritze mir mit den Händen Wasser in die Augen, wasche den Traum weg, greife nach dem Handtuch. Mein Blick fällt in den Spiegel.

Wasser läuft langsam mein Gesicht hinunter, zieht glänzende Bahnen auf der blassen Haut. Ich sehe die Oberfläche der Wassertropfen im Licht zittern, die Wangen hinunter perlen, wie unter einem Mikroskop. Sehe, wie der Bart feuchter und dunkler wird, wie sich das Wasser sammelt, bevor es den Hals hinunterfließt. Gleichzeitig leuchten die Wandkacheln hinter mir auf, anders als sonst, greller. Ich könnte mich umdrehen und sie berühren, wenn ich wollte. Aber ich kann nicht. Selbst wenn ich wollte.

Ich bin nicht mehr vor dem Spiegel. Ich bin dahinter.

Vor dem Spiegel stehe ich noch immer im Bad, im nächsten Traum gefangen. Ein Teil von mir ist weg, durch den Spiegel geschlüpft. Ich schaue hinaus, an meinem Körper vorbei ins Bad, hinter mir gellt der Schrei. Ein Schauer fährt mir über den Rücken, ein kalter Luftzug.

Ich drehe mich um.

Ich bin in einer Wohnung, die ich von früher kenne. Als Kind habe ich hier ein paar Jahre gewohnt. Ich weiß nicht mehr viel von der Zeit, außer dass wir damals noch eine richtige Familie waren oder so taten und dass ich hier mal zu Hause war. Ich stehe in der Küche. Das Licht fällt dämmrig blau durch das Fenster rechts von mir, sammelt sich fleckig auf den Küchenschränken, die sich an den Wänden aufreihen. Ich drehe mich um und sehe vor mir eine Frau und einen Mann stehen. Sie umarmen sich. Dann geht der Mann ein paar Schritte zurück, während die Frau zusammenbricht und auf dem Boden liegen bleibt. Der Mann hebt den Kopf. Er hat kein Gesicht.

Ich drehe mich um und renne los. Die Wohnung ist groß, viel größer, als ich sie in Erinnerung habe. Ein Raum führt in den nächsten, ohne dass ich den Ausgang erreiche. Mattes Licht fällt durch die Fenster, an denen ich vorbeilaufe, leuchtet in kleinen Teichen auf dem Boden. Ich trete gegen dunkle Möbel, stolpere über Schatten, durchquere Tür um Tür, ohne mich umzudrehen. Ich bin nicht schnell genug, die Zeit wird knapp, ich muss meine Papiere finden, meine Tasche packen, zum Flughafen fahren. Aber ich weiß nicht mehr, wo ich meine Sachen gelassen habe. Und die Wohnung wird immer größer.

Schließlich nehme ich einen Satz über die nächste Türschwelle, stolpere, falle hin, stehe wieder auf. Ich bin allein. Vor mir bewegt sich etwas. Ich schaue genauer hin. Eine Masse von glänzenden, ineinander verwobenen Kabeln liegt zwischen mir und der Tür. Ich höre das Schaben auf dem Holzboden. Die Kabel bewegen sich. Mein Blick geht zur Tür. Der Mann steht an der Schwelle. Jetzt sehe ich sein Gesicht. Ein Auge lässt er über die Kabel gleiten, mit dem anderen schaut er mich an. Plötzlich stößt er den Schrei aus, von dem ich aufgewacht bin.

Ich drehe mich um. Renne los. Sehe den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand.

Die Kacheln sind kalt unter den Füßen, Flüssigkeit tropft mir den Hals und die Brust hinunter. Ich stehe vor dem Badezimmerspiegel. Aus meiner Nase läuft Blut. Mein Mund ist offen. Ich wische mich mit dem Handtuch ab und gehe ins Bett.

Der nächste Morgen ist feucht und kühler als die Tage davor. Die Luft riecht frisch wie nach einem Gewitter. Um das Bett herum liegen blutige Taschentücher. Ich sammle sie ein, werfe sie in den Abfall, trage die volle Tüte zum Müll in den Hof. Als ich zurückkomme, überfällt mich das seltene Verlangen, die Wohnung zu putzen. Ich fange im Bad an, entferne braune Flecken aus dem Waschbecken, von den Kacheln. Jedes Mal, wenn mein Blick auf den Spiegel fällt, wird mir flau. Das Gefühl des Traums kommt zurück, klebt an mir wie die Feuchtigkeit in der Luft. Ich poliere den Spiegel mit halbgeschlossenen Augen.

Danach rauche ich in der Küche einen Joint und mache weiter mit dem Rest der Wohnung. Ich räume die Farben und leeren Flaschen zusammen, fege und wische den Boden, rauche noch einen und hänge die Wäsche auf. Als ich unter der Dusche stehe, stelle ich mir vor, wie ich mit dem Schweiß alle Erinnerungen an letzte Nacht abwasche. Heute Nachmittag habe ich einen Termin mit Moira. Es geht mir fast gut.

 

Meine Galeristin und ich treffen uns einmal im Monat. Bei diesen Treffen sagt sie mir, wie viele Leute sich beinahe etwas von mir gekauft und wie viele Leute Interesse bekundet hätten. Ich sage ihr, woran ich arbeite, rattere eine Reihe von erfundenen Arbeitstiteln herunter, bis sie lächelt und mich auf einen Kaffee einlädt. Wir gehen immer in dasselbe Café bei ihr um die Ecke, in ein sauberes Deli im sauber sanierten Gallery District und sie begrüßt den Studenten hinter dem Tresen überschwänglich. Sobald wir sitzen, legt sie mir die Hand auf den Schenkel, schaut mir tief in die Augen und fragt, wie es mit der Liebe läuft. Ich antworte irgendetwas Verwirrtes, sie lacht und bestellt Schnaps. Kurz darauf sind wir betrunken. Das ist das Ritual unserer monatlichen Treffen.

Früher, als sie noch mit meinem besten Freund schlief, waren wir nicht so entspannt miteinander. Inzwischen bin ich für sie mehr ein Hobby als ein Projekt. Heute hat sie eine gute Nachricht für mich. Sie hat Die Mutter verkauft. Das Bild war lange Zeit ihre Lieblingsarbeit von mir und ich dachte, sie würde es für sich behalten. Nun ist es verkauft. Es ging an einen Käufer, den keiner von uns kennt. Mir ist es egal, wo Die Mutter künftig hängen oder stehen wird. Ich bin dankbar für das Geld.

Als ich nach Hause komme, ist die Alkoholeuphorie einer Mattheit gewichen. Ich mache mir einen Kaffee, rolle einen Joint, setze mich in den Sessel und schaue mir die letzten Bilder an. Etwas in mir sträubt sich, ich kann nicht arbeiten. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie die Zeit über mich schwappt, wie sie mich abschmirgelt, wie ich kleiner und glatter werde, während die Sekunden und Minuten an mir abperlen, in irgendeiner anderen Welt zu Stunden gerinnen, zu Zeiteinheiten, die nicht mir gehören. Stunden, die nur in der Uhr stattfinden, im Wechsel von Licht und Dunkelheit, Lärm und Stille. Verlorene Stunden.

Manchmal zerfallen ganze Tage auf diese Weise, während ich auf dem Bett liege oder im Sessel und nicht male, nicht lese, nicht im Netz bin, nicht saufe, nicht wichse, keine Musik höre, nicht schlafe. Tage, in denen ich nichts mit mir anzufangen weiß. Tage, in denen mir Dinge passieren, ohne dass ich dabei bin.

An diesen Tagen habe ich zu viel Zeit. Zu viel Zeit, um an einem Bild zu arbeiten oder ein Buch anzufangen. Zeit, die sich anhäuft, Stunde um Stunde, erwartungsvoll, voller Möglichkeiten. Zu viele Möglichkeiten. Sie wachsen in einen Berg, der sich dunkel vor mir aufwirft. Zu hoch, um bestiegen zu werden. Manchmal möchte ich nur in der Zeit schwimmen, mich treiben lassen, bis die Zeit wieder knapp wird, bis Struktur in die Stunden gespült wird. Bis ich aufstehe aus dem warmen Zeitbad und unter die kalte Dusche von Terminen, Alltagsritualen und Routine steigen muss.

Heute ist keiner dieser Tage. Heute habe ich meine Termine, Alltagsrituale und Routinen wie ein verantwortungsbewusster Bürger wahrgenommen. Jetzt liegt die Blockade woanders. Ich merke es am metallischen Geschmack im Mund. Am Gefühl, dass etwas in der Luft hängt. Etwas, das raus will. Etwas, das raus muss. Als das Pochen in den Schläfen anfängt, nehme ich eine Schmerztablette, setze mich an den Küchentisch und klappe den Skizzenblock auf. Das Spiel beginnt.

Während ich den Bleistift über das Papier führe, ist mir kein konkreter Gedanke bewusst. Ich versinke immer tiefer in Trance. Scheinbar ziellos verknüpft sich Kringel mit Kringel. Linien ziehen sich über die Fläche und zerschneiden das Blatt, bis es voll gekritzelt ist und ich es automatisch abreiße und auf dem nächsten weiterkritzle. Formen entstehen, eine Gestalt wächst aus der nächsten und eröffnet eine Welt an Möglichkeiten für neue Figuren, die sich sofort wieder zerlegen, Paralleluniversen zeigen sich, verschwinden mit dem nächsten Strich. Ich interpretiere nicht, ich werte nicht. Noch nicht. Ich lasse nur einfach die Gestalten auftauchen, die auftauchen wollen und zerstöre sie sofort wieder mit meiner Hand.

Automatisches Zeichnen reinigt die Fantasie. Wenn ich sie nicht regelmäßig säubere, bekomme ich unerwünschten Besuch. Er kommt zu unpassenden Zeiten. Klopft leise an, als würde er um Einlass bitten. Dann bohrt er sich laut in den Hinterkopf, die Hände voller Geschenke. Ein Blumenstrauß mit Aura, Visionen zwischen den Schmerzspitzen.

Heute lasse ich los, bevor mich die Migräne erwischt. Je tiefer ich sinke, desto leichter kann etwas anderes in mir auftauchen. Ein Kribbeln im Unterleib, ein Druck im Magen, ein Ziehen in der Brust, bis es sich voll entfaltet, wie eine Blume aus Blut in mein Gehirn schießt. Es fängt an. Ein Gefühl der Entfremdung, erst unangenehm phantomartig, dann verliere ich den Kontakt zum Papier. Es bekritzelt sich selbst, während etwas anderes mich bekritzelt, in mir kitzelt. Ich bin auf einmal bevölkert. Ich gebe auf.

Am liebsten zeichne ich, wenn ich allein bin. Ich kann es nur schwer ertragen, wenn mir jemand dabei zusieht. Wenn jemand da draußen ist, während etwas anderes in mir drin ist. Wenn man sieht, wie ich wegtrete. Wie ich mich bevölkern lasse. Ein Zucken im Lid, ein Zittern in der Lippe, in der Schläfe. Mein Blick. Irgendetwas würde mich verraten.

Einmal griff ich zum Skizzenblock, als ich nicht allein war. Maya lag neben mir, eingerollt. Ihr braunes Haar zeigte in alle Richtungen, eine Hand hatte sie ins Kopfkissen verkrallt. Ich konnte nicht einschlafen und betrachtete ihren Oberkörper, die Verdrehung in die Matratze, womöglich in einen Traum hinein. Sie atmete gleichmäßig. Ich nahm an, sie würde nicht so schnell aufwachen, ging zum Tisch und begann zu zeichnen. Etwas wollte raus. Ich kritzelte mich in wenigen Sekunden in eine Trance hinein. Ich fühlte das Frösteln, dann den Druck. Es war da. Ich war drin.

Ich weiß nicht mehr, was danach kam, aber dann kam Maya. Auf einmal stand sie hinter mir, beugte sich über mich, drückte ihren Kopf an meinen. Es katapultierte mich heraus. Ich kippte mit dem Stuhl nach hinten, schrie wahrscheinlich. Ich erinnere mich, wie sie mich anstarrte. Wie sie auf den Block starrte. Wie sie den Kopf schüttelte. Ich weiß nicht, ob sie Jesse davon erzählte. Er erwähnte es nie. Aber vielleicht hatte er es auch gleich wieder vergessen.

Es dämmert, als ich den Bleistift weglege. Ich blättere durch die Seiten und sehe überall Kringel, Kreise und Spiralen. Und etwas, das so aussieht, wie ein schlangenförmiger Drachen. Er windet sich aus einer unruhigen Fläche heraus und scheint Feuer zu speien. Die Interpretation des Gekritzels ist nicht wichtig. Was wichtiger ist: Es ist draußen, es ist frei. Jetzt kann ich weitermalen.

Ich arbeite an Fiats Auftrag bis nachmittags, bis die Augen tränen und der Krampf in der linken Schulter unerträglich wird. Dann lege ich mich für ein paar Stunden hin. Jesse spielt mit seiner Band und mir fällt keine Ausrede ein, nicht vorbeizugehen. Ich denke an die vielen jungen Frauen und alten Freunde, die da sein werden und schlurfe ins Badezimmer. Wenn ich es mir lange genug schönrede, kann ich mich fast darauf freuen.

Als ich unter der Dusche stehe, ruft Fiat an. Ich schicke ihm eine Nachricht, dass alles in Ordnung ist, dass ich mich am nächsten Tag melde.

„Nicht mehr im Meer getrieben?“, textet er zurück.

„Nur mein Astralleib“, antworte ich.

„Und das Haus?“

„Ist in Arbeit.“

Das scheint ihn zu beruhigen. Er meldet sich nicht mehr.

Bevor ich gehe, werfe ich einen Blick auf die Holzhütte. Den Geist hinter dem Fenster werde ich weglassen. Die Besucher sitzen woanders.