Die ersten 100 Jahre des Christentums 30-130 n. Chr.

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Als historisches Faktum kann der lukanischen Darstellung zunächst entnommen werden, dass es in der Jerusalemer Gemeinde schon sehr früh zwei Gruppen gab: Die ‚Hellenisten‘ und die ‚Hebräer‘. Die Begriffe und weisen darauf hin, dass der Konflikt zu einem erheblichen Teil sprachliche Ursachen hatte. Die sind aramäisch sprechende jüdische Jesusanhänger, die hingegen aus der Diaspora stammende und nach Jerusalem zurückgekehrte griechisch sprechende Juden, die zu Jesusanhängern wurden (vgl. Apg 2,5)131. Deshalb beherrschten sie das Aramäische nicht oder nur eingeschränkt; umgekehrt gab es bei den ‚Hebräern‘ sicherlich einige, die Griechisch als Fremdsprache beherrschten, zugleich sprach aber die Mehrzahl ausschließlich aramäisch. Weil Sprache ein herausragendes Merkmal von Identität ist, verwundert es nicht, dass es hier zu Konflikten kam. Auch soziale Unterschiede dürften bestanden haben, denn die hellenistischen Juden aus der Diaspora waren in ihrer Mehrheit sicherlich begütert132, während zumindest die galiläischen Jesusanhänger in Jerusalem auf Unterstützung angewiesen waren. Hinzu kommt, dass die aus der Diaspora zurückgekehrten Juden eine gewisse sprachlich-kulturelle Identität durch landsmannschaftliche Synagogen in Jerusalem beibehielten, worauf neben Apg 6,9 („Synagoge der Libertiner und der Kyrenäer und der Alexandriner“) vor allem die sogenannte Theodotus-Inschrift hinweist133.

Sprache und Identität

Die Sprachunterschiede, die verschiedenen Herkunftsgebiete, die sozialen Unterschiede und eine gewisse jeweilige Eigenständigkeit innerhalb des Jerusalemer Judentums bereits vor dem Eintritt in die neue Bewegung der Christusgläubigen führten dazu, das sich schon relativ früh nach und nach zwei selbständige Gruppierungen entwickelten134. Wahrscheinlich war eine Konsequenz der sprachlichen Unterschiede die Ausbildung jeweils eigenständiger Gottesdienste. Nach Apg 2,46 versammelten sich die Gläubigen zu täglichen Gottesdiensten ‚in den Häusern‘; ein Hinweis darauf, dass sich die Jerusalemer Gemeinde aus praktischen Gründen in Hausgemeinden gliederte. Wahrscheinlich haben auch die ‚Hellenisten‘ von Anfang an eigene Hausversammlungen organisiert, in denen Gottesdienste in griechischer Sprache abgehalten wurden. Die liturgisch-kultische Trennung zog dann auch eine Trennung in der Diakonie nach sich, wie sie in Apg 6,1–7 geschildert wird. Von hieraus lassen sich auch die Schwierigkeiten bei der Armenversorgung erklären. Vermutlich wurde die Armenfürsorge ursprünglich durch die Hebräer organisiert, die dann von einem bestimmten Zeitpunkt an die hellenistischen Witwen nicht mehr mitversorgten, weil jene nicht mehr als Bestandteil der eigenen Gemeinde angesehen wurden135.

Mit dem ‚Übersehen‘ der Witwen der Hellenisten waren offenbar auch theologische Differenzen zwischen beiden Gruppen verbunden. Der Siebenerkreis übte die ihm zugedachten sozialen Aufgaben überhaupt nicht aus und Stephanus als herausragende Gestalt dieser Gruppe war alles andere als ein Versorgungsorganisator.

Stephanus und die Folgen

HEINZ-WERNER NEUENDORFER, Der Stephanuskreis in der Forschungsgeschichte seit F. Chr. Baur, Gießen/Basel 1983. – ALFONS WEISER, Zur Gesetzes- und Tempelkritik der ‚Hellenisten‘, in: Karl Kertelge (Hg.), Das Gesetz im Neuen Testament, QD 108, Freiburg 1986, 146–168. – KARL LÖNING, Der Stephanuskreis und seine Mission, in: Jürgen Becker (Hg.), Die Anfänge des Christentums, 80-101. – EDVIN LARSSON, Die Hellenisten und die Urgemeinde, NTS 33 (1987), 205–225. – ECKHARD RAU, Von Jesus zu Paulus, 15–35. – KLAUS HAACKER, Die Stellung des Stephanus in der Geschichte des Urchristentums, ANRW 26.2, Berlin 1995, 1515–1553. – HEIKKI RÄISÄNEN, Die ‚Hellenisten‘ der Urgemeinde, ANRW 26.2, Berlin/New York 1995, 1468–1514. – WOLFGANG KRAUS, Zwischen Jerusalem und Antiochia, 26–81. – MICHAEL ZUGMANN, „Hellenisten“, 312–357. – HEIKE BRAUN, Geschichte des Gottesvolkes und christliche Identität, WUNT 2.279, Tübingen 2010. − KLAUS HAACKER, Stephanus, BG 28, Leipzig 2014.

Stephanus tritt in Apg 6,8–15 relativ unvermittelt auf und ist offenbar so etwas wie der theologische Wortführer innerhalb der hellenistischen Richtung in der Jerusalemer Gemeinde. Sein theologisches Profil lässt sich in Umrissen so bestimmen: Er ist Charismatiker, vollbringt Wunder und agiert als Weisheitslehrer und als Pneumatiker (V. 8: „voll Gnade und Kraft, er tat Zeichen und große Wunder unter dem Volk“; V. 10: „sie vermochten nicht zu widerstehen der Weisheit und dem Geist, in dem er redete“). Gegen Stephanus treten daraufhin hellenistische Juden auf, die ihm jedoch nicht zu widerstehen vermögen (V. 9f). Hinzu kommen eine vor-gerichtliche Polemik (V. 11: „Wir haben ihn Lästerworte reden gehört gegen Mose und Gott“) und als formelle Anklage eine kritische Einstellung zum Tempel und zum Gesetz; ein Vorwurf, der allerdings von falschen Zeugen vorgebracht wird (V. 13: „Dieser Mensch hört nicht auf, gegen diesen heiligen Ort und das Gesetz zu reden“). Inwieweit diese theologischen Positionen für den historischen Stephanus (und alle Hellenisten) in Anspruch genommen werden können, lässt sich nur schwer sagen, weil Apg 6,8–15 sehr stark von lukanischer Redaktion durchzogen ist.

Relativierung des Tempels

Zunächst legt es die von Lukas intendierte Parallelität von Stephanus und Paulus nahe (vgl. Apg 6,13 mit 21,28)136, das Motiv der Gesetzeskritik als einen lukanischen Eintrag anzusehen, der das Wissen um die beschneidungsfreie Mission des Paulus voraussetzt137. In der Anfangszeit der Jerusalemer Gemeinde dürfte sich kaum eine torakritische Haltung herausgebildet haben, die das im Judentum um die Zeitenwende Mögliche erheblich überschritten und eine Verfolgung gerechtfertigt hätte138. Anzunehmen ist vielmehr, dass die erfolgreiche Verkündigung des gekreuzigten Jesus von Nazareth als Messias Israels in Verbindung mit einer tempelkritischen Haltung139 und der sich entwickelnden organisatorischen Selbständigkeit und Missionspraxis zu der Verfolgung führten. Dafür lassen sich zwei Argumente nennen: 1) Stephanus und die anderen judenchristlichen Hellenisten sahen mit Kreuz und Auferstehung Jesu Christi das universale endzeitliche Heilshandeln Gottes angebrochen, wodurch der Tempel als Ort des Sühnehandelns Gottes relativiert wurde (vgl. Röm 3,25)140. Gerade die tempelliebenden hellenistischen Juden dürften dies als Provokation empfunden haben, die den Blasphemievorwurf hellenistischer Juden (Apg 6,11)141 und die folgende Lynchjustiz (Todesstrafe durch Steinigung nach Lev 24,10–16; Num 15,30f) rechtfertigten. Hinzu kommt, dass damit den Jesusanhängern tendenziell derselbe Vorwurf gemacht wurde, der schon bei Jesus selbst eine wichtige Rolle spielte, was sich in der ansatzweisen Übertragung des Tempellogions (vgl. Mk 14,58b.c) auf Stephanus in Apg 6,14b zeigt („Dieser Jesus von Nazareth wird diese Stätte zerstören“). Möglicherweise klassifizierten die Hellenisten den bestehenden Tempel als ‚mit Händen gemacht‘ und damit als vorläufig, um ihm den ‚nicht mit Händen gemachten‘ Jesus Christus als bleibende Stätte der Gegenwart Gottes gegenüberzustellen (vgl. Apg 7,48–50)142. 2) Die Tempelkritik der Hellenisten könnte (vielleicht) die merkwürdige Notiz Apg 8,1 erklären, wonach bei der im Anschluss an die Steinigung des Stephanus einsetzenden Verfolgung nur die hellenistischen jüdischen Jesusanhänger, nicht aber die Apostel verfolgt wurden. Während die aramäisch sprechenden Mitglieder der Jerusalemer Gemeinde in Apg 1–5 als besonders tempelverbunden dargestellt wird, vertraten Stephanus und seine Gruppe offenbar eine kritischere Haltung, so dass nur sie, nicht aber die übrigen Christusgläubigen vertrieben wurden. Damit wäre eine gegenüber Apg 1–5 veränderte Situation anzunehmen143: Schauplatz des Konfliktes sind nun die Synagogen der hellenistischen Juden, d.h. neue Personen treten an neuen Orten auf. Während sich die vorwiegend aus Galiläa stammenden Christusgläubigen vor allem im Umfeld des Tempels aufhielten, agierten Stephanus und seine Mitstreiter mit intellektueller Brillanz in den hellenistischen Synagogen. Die Stephanus-Gruppe konnte offenbar mehr als andere Christusgläubige wahrgenommen werden; sie warb offensiv und erfolgreich für den Messias Jesus Christus unter den hellenistischen Juden in Jerusalem und war somit auch identifizierbar. Das Auftreten der Hellenisten führte wahrscheinlich auch dazu, dass die Pharisäer ihre bisher zurückhaltende Position aufgaben (vgl. Apg 5,34– 39) und ebenso wie bereits die Sadduzäer zu Gegnern der neuen Bewegung wurden (vor allem in der Person des Paulus).

Die erfolgreiche Missionstätigkeit der Stephanus-Gruppe innerhalb der hellenistischen Synagogen Jerusalems, ihre Verkündigung eines Gekreuzigten als Messias Israels und vor allem ihre Relativierung des Tempelkultes durch die Behauptung, Jesus Christus sei der endzeitliche Sühneort Gottes, wurden als Provokation empfunden, die in einem Akt der Lynchjustiz mit der Steinigung des Stephanus endete (vgl. Apg 7,54–60). Die genauere zeitliche Einordnung dieses Geschehens ist schwierig, infrage kommen das Jahr 33 oder 36 n.Chr. Für 36 kann angeführt werden, dass nach der Ablösung des Pilatus und der Einsetzung des Marcellus durch den syrischen Legaten Vitellius144 ein Machtvakuum entstanden sein könnte, welches der neue Hohepriester Jonathan ausnutzte, um mit gewaltsamen Mitteln gegen die judenchristlichen Hellenisten vorzugehen145. Dagegen spricht allerdings, dass die in Apg 7,60c; 8,3 hergestellte Verbindung zwischen dem Stephanusmartyrium und Paulus einen früheren zeitlichen Ansatz fordert, denn Paulus wurde spätestens 33 n.Chr. zum Völkerapostel berufen146. Deshalb sind das Wirken der Hellenisten und der Tod des Stephanus in die Jahre 32/33 n.Chr. zu datieren.

 

Die Hellenisten als Bindeglied zwischen Jerusalem und der weiteren Entwicklung

Die Bedeutung der Hellenisten für die weitere Entwicklung des frühen Christentums kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Bereits die Rückkehr aus der Diaspora nach Jerusalem zeigt, dass die Hellenisten sehr religiöse Menschen waren, die sich nun dem Christusglauben anschlossen und ihn dann wieder über Jerusalem hinaus (in die Diaspora) trugen. Obwohl auch die Hellenisten nicht einfach als eine geschlossene Gruppe anzusehen sind147, entwickelten sie bereits in Jerusalem und dann später in Damaskus (vgl. Apg 9,2) und in Antiochia (vgl. Apg 11,19) eigene theologische und christologische Ansätze und Vorstellungen mit einer universalen Tendenz, die dann die Bewegung der Christusgläubigen für eine Mission über die Grenzen Palästinas hinweg öffneten (s.u. 6.2). Sie waren wahrscheinlich die Ersten, die spontane Gaben des Heiligen Geistes auch an Nichtjuden (vgl. Apg 2,9–11; 8,17.39) theologisch bedachten. Das gesamte paulinische Missionswerk ist ohne das Wirken dieser Gruppe nicht denkbar. Die Hellenisten waren es vermutlich auch, die schon früh die Jesusüberlieferung ins Griechische übertrugen und damit die Jesusbotschaft für die griechische Welt öffneten.

5.6 Texte: Die Passionsgeschichte

MEINRAD LIMBECK (Hg.), Redaktion und Theologie des Passionsberichtes nach den Synoptikern, WdF 481, Darmstadt 1981. – KARL KERTELGE (Hg.), Der Prozeß gegen Jesus. Historische Rückfrage und theologische Deutung, QD 112, Freiburg 1988. – WILLIBALD BÖSEN, Der letzte Tag des Jesus von Nazaret. Was wirklich geschah, Freiburg 1994. – CHRISTOPH NIEMAND, Jesus und sein Weg zum Kreuz. Ein historisch-rekonstruktives und theologisches Modellbild, Stuttgart 2007. – MARLIS GIELEN, Die Passionserzählung in den vier Evangelien. Literarische Gestaltung – theologische Schwerpunkte, Stuttgart 2008.

Die erfolgreiche Verkündigung der Jerusalemer Gemeinde ist nur denkbar, wenn überzeugende Verkündigungsinhalte existierten. Hier ist zuallererst an die mündliche Predigt zu denken, die in besonderer Weise Jesu Geschick im Lichte der alttestamentlichen Verheißungen zum Inhalt gehabt haben dürfte. Eine ausschließlich mündlich vor- und weitergetragene Überlieferung ist für eine kurze Zeit nach Jesu Tod denkbar, aber schon ein oder zwei Jahre später erforderten die Gottesdienste in den Hausgemeinden sowie die Tauf- und Herrenmahlsfeiern eine gewisse Fixierung der Überlieferung und d.h. ihre sukzessive Verschriftlichung. Für die Jerusalemer Gemeinde dürfte dabei das im Vordergrund gestanden haben, was sich auch in Jerusalem ereignete: die Passion.

Die Passion als Grunderzählung

Zu den Grunderzählungen der neuen Bewegung der Christusgläubigen in Jerusalem gehörte deshalb sicherlich von Anfang an ein Passionsbericht. Paulus bestätigt dies indirekt, wenn er seine Herrenmahlsüberlieferung mit der Bemerkung einleitet: „Ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch weitergegeben habe: Der Herr Jesus, in der Nacht, als er verraten wurde …“ (1Kor 11,23). Der von Markus überlieferte Bericht stellt nicht nur literarisch, sondern wahrscheinlich auch traditionsgeschichtlich die älteste Version dar. Sie existierte bereits lange vor dem Markusevangelium, worauf vor allem die unterschiedliche Chronologie zwischen dem vormk. Bericht (Jesus stirbt am Rüsttag zum Passa) und dem vorliegenden Evangelium (Jesus stirbt am Passa) hinweist148.

Alle vier Evangelien stimmen darin überein, dass Jesus an einem Freitag gekreuzigt wurde (Mk 15,42; Mt 27,62; Lk 23,54; Joh 19,14.31.42). Nach den Synoptikern ist dieser Freitag der erste Tag des Passafestes, der 15. Nisan (vgl. Mk 14,12par). Bei Johannes stirbt Jesus am Rüsttag des Passa, dem 14. Nisan am Nachmittag (vgl. Joh 18,28; 19,14.31)149, genau zu dem Zeitpunkt, als die Passalämmer auf dem Tempelplatz geschlachtet wurden150. Auch die mk. Tradition stützt die joh. Überlieferung, denn nach Mk 14,1f sollte Jesus vor dem Fest (V. 2: „nicht am Fest“) inhaftiert und getötet werden und Judas sollte Jesus „rechtzeitig“ () übergeben, d.h. die Gefangennahme Jesu erfolgte in der Nacht vom 13. zum 14. Nisan151. Alle Textsignale, die die Schnelligkeit des Geschehens betonen (Mk 14,30: „heute, in dieser Nacht“; 15,1: „und sofort, in der Frühe“; 15,34: für einen Gekreuzigten stirbt Jesus sehr schnell, bereits in der „neunten Stunde“, d.h. nach 6 Stunden; 15,44: Pilatus ist erstaunt, dass Jesus schon gestorben ist), verweisen ebenfalls auf den Rüsttag. Für diese Datierung spricht ferner die Notiz in Mk 15,20f, Simon von Kyrene sei vom Acker gekommen und habe das Kreuz Jesu tragen müssen. Am Passa ruhte alle Arbeit, so dass auch hier an den Rüsttag zum Passa zu denken ist, was bei Streichung des Zusatzes („der ist vor dem Sabbat“) auch in Mk 15,42 vorausgesetzt wird. Die Gerichtsverhandlungen vor dem Synedrium und Pilatus sind ebenfalls nicht an einem Sabbat denkbar.

Die Passionsgeschichte als Jerusalemer Kultätiologie

Zur ältesten Passionsüberlieferung dürften folgende Texteinheiten gehört haben: Mk 14,1– 2 (Todesbeschluss); 14,10–11 (Judas); 14,22–25 (letztes Mahl); 14,43–46 (Festnahme); 14,53–65 (Verhör vor dem Hohen Rat); 14,66–72 (Verleugnung des Petrus); 15,1– 5 (Jesus vor Pilatus); 15,16–20a (Verspottung); 15,20b–27 (Kreuzigung); 15,42– 47 (Grablegung). Als spätere Ergänzungen können angesehen werden: Mk 14,3–9 (Salbung in Betanien); 14,12–17 (Vorbereitung zum Mahl); 14,18–21 (der Verräter); 14,26–31 (Ankündigung der Verleugnung des Petrus);14,32–42 (Gethsemane); 14,47– 52 (Ereignisse bei der Festnahme); 15,6–15 (Jesus vor Pilatus II); 15,29–41 (Geschehnisse um die Kreuzigung). Vermutlich wurden die ältesten Einzeltraditionen schon relativ früh mit den etwas späteren Überlieferungen zu einem vormk. Passionsbericht zusammengeführt und dann noch einmal von Markus überarbeitet und in sein Evangelium integriert. Der älteste Grundbestand des Passionsberichtes wird am Ort seines Geschehens, in Jerusalem, entstanden und zwischen 35 und 40 n.Chr. verschriftlicht und auch ins Griechische übersetzt worden sein152. Dies ergibt sich einmal aus den Erfordernissen in der Jerusalemer Gemeinde, denn mit fortschreitender Zeit mussten die Überlieferungen gesichert und fixiert werden sowie in den beiden Hauptsprachen Aramäisch und Griechisch zugänglich sein. Ferner existierten um 40 n.Chr. andere große Gemeinden (Damaskus, Antiochia) bzw. bildeten sich neue (Rom), in denen mit Sicherheit auch von Jesu Geschick in Jerusalem erzählt wurde, d.h. sie waren auf eine verschriftete (griechische) Form des Passionsberichtes angewiesen. Es ist anzunehmen, dass im Gottesdienst und speziell bei Herrenmahlsfeiern üblicherweise die Passionsgeschichte oder Teile aus ihr verlesen wurden. Mit der Passiongeschichte gab sich die Jerusalemer Gemeinde eine Kultätiologie, d.h. eine erzählende Begründung für ihre Existenz und ihre kultische Praxis.

5.7 Die theologische Entwicklung der frühen Jerusalemer Gemeinde

In der Jerusalemer Gemeinde wurden sicherlich über die Passionsgeschichte hinaus weitere Texte der Jesusüberlieferung mündlich oder schriftlich fixiert, ohne dass dieser Prozess im Einzelnen nachzuzeichnen wäre. Wohl aber lässt sich zeigen, welche theologischen Grundanschauungen in der Jerusalemer Gemeinde entstanden, die dann für die spätere Entwicklung von großer Bedeutung waren.

Christologische Hoheitstitel

Die Verehrung Jesu neben Gott bildete sich aus den überwältigenden religiösen Erfahrungen der Christengläubigen in Jerusalem, wobei insbesondere die Erscheinungen des Auferstandenen, das gegenwärtige Wirken des Geistes und intensive Gottesdiensterfahrungen zu nennen sind (s.o. 4.1/4.2). Neben die gottesdienstliche Anrufung und rituelle Verehrung Jesu traten die christologischen Hoheitstitel, die zu den frühesten Elementen der theologischen Reflexion zählten. Sie sind Abbreviaturen des gesamten Heilsgeschehens; sie sagen aus, wer und was Jesus von Nazareth für die glaubende Gemeinde ist153.

Jesus Christus

Die zentrale Hoheitsbezeichnung bzw. haftet bereits an den ältesten vorpaulinischen Bekenntnistraditionen (vgl. 1Kor 15,3b–5; 2Kor 5,14f) und thematisiert das gesamte Heilsgeschehen154. Bei Paulus (und wahrscheinlich schon vor ihm) verbinden sich Aussagen über die Kreuzigung (1Kor 1,23; 2,2; Gal 3,1.13), den Tod (Röm 5,6.8; 14,15; 15,3; 1Kor 8,11; Gal 2,19.21), die Auferweckung (Röm 6,9; 8,11; 10,7; 1Kor 15,12–17.20.23), die Präexistenz (1Kor 10,4; 11,3a.b) und die irdische Existenz Jesu (Röm 9,5; 2Kor 5,16) mit . Von der auf das gesamte Heilsgeschehen bezogenen Grundaussage verzweigen sich die -Aussagen dann in vielfältige Bereiche. Auch in den Evangelien nimmt der Titelname eine zentrale Stellung ein, wie z.B. Mk 1,1; 8,29; 14,61; Mt 16,16 deutlich zeigen. Der selbstverständliche Gebrauch von auch bei griechisch-römisch geprägten Gemeinden ist kein Zufall, denn die Adressaten konnten vor ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund im Kontext antiker Salbungsriten rezipieren. Die im gesamten Mittelmeerraum verbreiteten Salbungsriten zeugen von einem gemeinantiken Sprachgebrauch, wonach gilt: „wer/was gesalbt ist, ist heilig, Gott nah, Gott übergeben“155. Sowohl Judenchristen als auch Christen aus griechischrömischer Tradition konnten als Prädikat für die einzigartige Gottnähe und Heiligkeit Jesu verstehen, so dass (bzw. ) als Titelname zum idealen Missionsbegriff wurde.

Kyrios/Herr

Eine veränderte Perspektive verbindet sich mit dem -Titel156 (vgl. Ps 110,1LXX), der bereits in der Jerusalemer Gemeinde eine zentrale Bedeutung hatte, wie 1Kor 16,22 zeigt (Maranatha/ = „unser Herr, komm!“). Indem die Glaubenden Jesus als ‚Herrn‘ bezeichnen, unterstellen sie sich der Autorität des in der Gemeinde gegenwärtig Erhöhten. bringt Jesu einzigartige Würde und Funktion zum Ausdruck: Er wurde zur Rechten Gottes erhöht, hat Anteil an der Macht und Herrlichkeit Gottes und übt von dort seine Herrschaft aus. Der mit dem Kyrios-Titel verbundene Aspekt der Gegenwart des Erhöhten in der Gemeinde zeigt sich deutlich in der Akklamation und in der Abendmahlstradition als Haftpunkten der Überlieferung. Indem die Gemeinde akklamiert, erkennt sie Jesus als Kyrios an und bekennt sich zu ihm (vgl. 1Kor 12,3; Phil 2,6–11). Der Gott der Christen wirkt durch seinen Geist, so dass sie laut im Gottesdienst rufen (1Kor 12,3): („Herr ist Jesus“), und nicht: („Verflucht sei Jesus“). Gehäuft erscheint in der Abendmahlsüberlieferung (vgl. 1Kor 11,20–23.26ff.32; 16,22). Die Gemeinde versammelt sich in der machtvollen Gegenwart des Erhöhten, dessen heilvolle, aber auch strafende Kräfte (vgl. 1Kor 11,30) in der Abendmahlsfeier wirken. Neben die liturgische Dimension des Kyrios-Titels tritt besonders bei Paulus eine ethische Komponente. Der Kyrios ist die entscheidende Instanz, von der aus alle Bereiche des täglichen Lebens bedacht werden (Röm 14,8: „Wenn wir leben, so leben wir dem Herrn, wenn wir sterben, so sterben wir dem Herrn. Wenn wir nun leben oder sterben, so sind wir des Herrn“).

 

Sohn Gottes

Der Titel steht vor allem in traditionsgeschichtlicher Kontinuität zu Ps 2,7 (vgl. ferner 2Sam 7,11f.14) und verbindet sich mit verschiedenen christologischen Konzeptionen157. Paulus übernahm ihn bereits aus der Tradition (vgl. 1Thess 1,9f; Röm 1,3b–4a), wobei die besondere Platzierung von erkennen lässt, dass er diesem Titel eine hohe theologische Bedeutung zumaß. Der Sohnes-Titel bringt sowohl die enge Verbindung Jesu Christi mit dem Vater als auch seine Funktion als Heilsmittler zwischen Gott und den Menschen zum Ausdruck (vgl. 2Kor 1,19; Gal 1,16; 4,4.6; Röm 8,3). Bei Markus wird zum zentralen christologischen Titel, der gleichermaßen Jesu himmlische und irdische Würde umfasst (vgl. Mk 1,1.9–11; 9,2–8; 12,6; 14,61; 15,39). Auch Matthäus entfaltet eine ausgeprägte Sohn-Gottes-Christologie (vgl. Mt 1,22f.25; 3,17; 4,8–10), während bei Lukas der Titel keine zentrale Stellung einnimmt.

Sohn Davids

In der Jerusalemer Gemeinde spielte wahrscheinlich der Titel ‚Sohn Davids‘ () eine besondere Rolle, denn der Messias galt als Nachkomme Davids (vgl. PsSal 17,21). Zentraler Text ist die alte Tradition Röm 1,3b–4a, wonach der irdische Jesus Sohn Davids war; Gott setzte ihn durch seinen schöpferischen Geist kraft der Auferstehung als Gottessohn ein und machte ihn so zur maßgeblichen Gestalt der Endzeit (vgl. 2Tim 2,8). In der Evangelienüberlieferung dominiert der Titel speziell bei Blindenheilungen (vgl. Mk 10,46–52; Mt 9,27; 12,23). Matthäus verleiht diesem Titel ein besonderes Gepräge. Zunächst wird Jesus als durch einen göttlichen Eingriff legitimierter Abkömmling der David-Dynastie und damit als Messias entsprechend den jüdischen Traditionen vorgestellt (Mt 1,1–17). Dann wirkt er als heilender Davidssohn in Israel, wird aber dennoch von den blinden Führern Israels nicht erkannt (vgl. Mt 9,27; 12,23; 21,14–16).

Menschensohn

Eine zentrale Rolle in der Christologie der Jerusalemer Gemeinde spielte die Menschensohnvorstellung158. Jüdische Grundtexte für die Menschensohnvorstellung sind Dan 7,9–14 und äthHen 46,1–48,7. Nach dieser Überlieferung wird der Menschensohn als ein präexistentes (äthHen 48,6), himmlisches Wesen beschrieben, „dessen Gestalt wie das Aussehen eines Menschen“ ist (äthHen 46,1). Er ist der Träger der Gerechtigkeit und der Erwählte Gottes (äthHen 46,3), auf ihm ruht die Weisheit Gottes und er erscheint als der endzeitliche Richter (äthHen 48,7; vgl. 47,1–3). Der Menschensohn ist nach äthHen 48,4f „eine Stütze und ein Stab für die Gerechten, ein Licht der Völker und die Hoffnung der Betrübten“. Seine himmlische Hoheit zeigt sich darin, dass alle Menschen, die das Festland bewohnen, „vor ihm niederfallen und ihn anbeten werden“ (äthHen 48,5). Wahrscheinlich bezog schon Jesus den Menschensohntitel auf sich159, so dass es nicht verwundert, wenn die Jerusalemer Gemeinde diesen Titel aufnahm, um die besondere Bedeutung Jesu zu kennzeichnen. Sie dürfte Menschensohnlogien tradiert haben (vgl. Lk 7,31–34; 9,58; 12,8f.40; 17,24.26.30; Mk 2,10.28) und darüber hinaus die hinter Mk 8,31 stehende Urform des Logions vom leidenden Menschensohn entwickelt haben160.

Weisheit und Präexistenz

Auch Weisheits- und Präexistenzspekulationen werden in der Jerusalemer Gemeinde bedeutsam gewesen sein. Mit der Menschensohnvorstellung waren sowohl der Präexistenzgedanke als auch die Weisheit verbunden und speziell Stephanus und die Hellenisten prägte offenbar weisheitliches Denken (vgl. Apg 6, 3.10). Neben dem Logos gehört die Weisheit zu den himmlischen Mittlergestalten (vgl. Prov 2,1–6; 8,22–31; Sap 6,12–11,1), die ihre Heimat in unmittelbarer Nähe zu Gott haben161. Die Weisheit ist präexistent, Schöpfungsmittlerin und Gesandte Gottes; die Frommen bitten darum, dass Gott sie ihnen sende (vgl. Sap 9,9–11). In äthHen 42,1–2 findet sich die alte Anschauung, wonach die Weisheit auf Erden keinen Platz fand, wo sie wohnen konnte, und darum in den Himmel zurückkehrte. Dieses Motiv der abgelehnten Weisheit wurde schon sehr früh auf Jesus übertragen. Die Weisheit bezeugt, dass der Menschensohn kam und keine Heimat bei den Menschen fand (vgl. Lk 7,34f). Diesem Geschlecht bleibt nur das Gericht. Die Kinder der Weisheit hingegen, die dem Ruf des Täufers und des Menschensohnes gefolgt sind, bleiben vom Gericht verschont.

Nimmt man die ersten Jahre der Jerusalemer Gemeinde insgesamt in den Blick, zeigt sich eine überraschende Vielfalt und Kreativität. So ist die Zusammensetzung der Gemeinde sehr heterogen; neben die unmittelbaren Jünger Jesu und den weiteren Nachfolgekreis (mit vielen Frauen) aus Galiläa tritt die Familie Jesu, insbesondere seine Mutter Maria und sein Bruder Jakobus. Hinzu kommen die Jerusalemer Sympathisanten, die im Umfeld von Kreuzigung und Begräbnis für Jesus eintraten. Schließlich schlossen sich Juden aus Jerusalem und ganz Palästina, aber auch aus der hellenistischen Diaspora in einem erheblichen Maße der Gemeinde an. Es gab erste Ansätze zu einer neuen Kultur des Teilens und eine rasante theologische Entwicklung: Mit geistgewirkten Gottesdiensten, in denen Gebet und Akklamation im Mittelpunkt standen; mit der Ausprägung von Taufe und Herrenmahl als neuen Identitätsritualen; mit der Schaffung erster Texteinheiten; mit der Übertragung von zahlreichen Hoheitstiteln auf Jesus, der von Gott nicht verworfen, sondern erhöht wurde und nun sein endzeitliches Amt als Gesalbter, Herr, Sohn Gottes und Menschensohn wahrnimmt und bei der Parusie in Erscheinung treten wird.

42Dieser Befund spricht gegen die Behauptung von DENNIS E. SMITH, What do we really know about the Jerusalem Church?, in: Ron Cameron/Merrill P. Miller (Hg.), Redescribing Christian origins, (237–252) 243, „that the Jerusalem ‚church‘ as a power broker in Christian origins was a mythological construct from the outset … The actual ekklesia in Jerusalem, such as it was, most likely played a minor role in Christian origins.“

43Anders JAMES D. G. DUNN, Beginning from Jerusalem, 133–137; DIETRICH-ALEX KOCH, Geschichte des Urchristentums, 164–168, die sich ausschließlich auf Jerusalem konzentrieren und Galiläa außer acht lassen.

44Vgl. CARSTEN COLPE, Die erste urchristliche Generation, 62; anders GERD LÜDEMANN, Die ersten drei Jahre Christentum, 11, wonach „die Geschichte der Urgemeinde fast unbekannt bleibt“.

45Die Bemerkung in Apg 1,23 („und sie stellten zwei auf: Josef, genannt Barsabbas mit dem Beinamen Justus, und Matthias“) dürfte sich historisch auf zwei tatsächliche Mitglieder der Jerusalemer Gemeinde beziehen (zu beachten ist besonders der erste, dreigliedrige Name!), auch wenn sich die notwendige Nachwahl lukanischer Ekklesiologie verdankt; vgl. dazu JÜRGEN ROLOFF, Apostelgeschichte, 34–36.

46Vgl. LUDGER SCHENKE, Die Urgemeinde, 22.

47Vgl. ROBERT JEWETT, Romans, 964. Auflistungen mit möglichen Mitgliedern der Jerusalemer Gemeinde finden sich bei RICHARD BAUCKHAM, Jesus and the Jerusalem Community, in: Oskar Skarsaune/Reidar Hvalvik (Hg.), Jewish Believers in Jesus: The Early Centuries (s.u. 10.5), 55–95; JAMES D. G. DUNN, Beginning from Jerusalem, 178–180.

48RAINER RIESNER, Zwischen Tempel und Obergemach (s.o. 5), 78f, zählt zu den ‚Hinzugefügten‘ (vgl. Apg 2,41.47) auch Essener, die sich aus dem nahen Essener-Viertel der Gemeinde anschlossen.

49Vgl. JACOB KREMER, Weltweites Zeugnis für Christus in der Kraft des Geistes, in: Mission im Neuen Testament, hg. v. Karl Kertelge, QD 93, Freiburg 1982, 145–163.

50Vgl. JÜRGEN ROLOFF, Apostelgeschichte, 38.

51Vgl. CARSTEN COLPE, Die erste urchristliche Generation, 59: „Das ‚Judenchristentum‘ beginnt historisch zweifelsfrei mit den pneumatischen Erfahrungen nach Jesu Tod.“

52Vgl. dazu HEINZ-WOLFGANG KUHN, Enderwartung und gegenwärtiges Heil, SUNT 4, Göttingen 1966, 117–120; FRIEDRICH WILHELM HORN, Das Angeld des Geistes, 26–60.

53Vgl. JAMES D. G. DUNN, Beginning from Jerusalem, 206–212.

54Zum Zwölferkreis gehören die Brüderpaare Petrus (Mk 1,16; 3,16; Apg 1,13) und Andreas (Mk 1,16; 3,18; Apg 1,13); Jakobus (Mk 1,19; 3,17; Apg 1,13) und Johannes (Mk 1,19; 3,17; Apg 1,13), die Söhne des Zebedäus; ferner Philippus, Bartholomäus, Matthäus, Thomas (Zwilling), Jakobus, der Sohn des Alphäus, Simon, der Kananäer/Zelot; Judas Iskariot (Mk 3,18; Apg 1,13.16). Einzelgestalten sind: Thaddäus (Mk 3,18); Judas, der Sohn des Jakobus (Apg 1,13)/Bruder des Jakobus (Lk 6,16).

55Vgl. zur Begründung auch DIETRICH-ALEX KOCH, Geschichte des Urchristentums, 149–151.

56Vgl. dazu BÉDA RIGAUX, Die „Zwölf“ in Geschichte und Kerygma, in: Helmut Ristow/Karl Matthiae (Hg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin 1960, 468–486.

57Vgl. GERD LÜDEMANN, Die ersten drei Jahre Christentum, 112.

58Vgl. MONIKA LOHMEYER, Der Apostelbegriff, 133–141; zur Forschungsgeschichte vgl. a.a.O., 18–122 (dort auch Kritik an einer Ableitung aus dem ‚jüdischen Botenrecht‘).

59Vgl. zur Analyse der Verben MONIKA LOHMEYER, Der Apostelbegriff, 141–154.

60Vgl. Epiktet, Dissertationes I 24,6: Diogenes wurde als Kundschafter ausgesandt (); III 22,46: Epiktet antwortet auf die Frage, wie jemand ohne Haus, Heimat oder Sklaven ein glückliches Leben führen könne: „Siehe, Gott hat euch einen Mann gesandt, der euch in der Tat zeigen soll, dass es möglich ist“ (); IV 8,31: „ich bin euch von Gott als Vorbild gesandt worden“ (); vgl. ferner: 22,23.56.69.