Die ersten 100 Jahre des Christentums 30-130 n. Chr.

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Das römische Reich in ntl. Zeit

Tiberius

Caligula

Als Augustus 14 n.Chr. im Alter von 76 Jahren starb, übernahm sein Adoptivsohn Tiberius (14–37 n.Chr.) die Regierung, ein erfahrener Feldherr und besonnener Politiker, der schon im Alter von 55 Jahren stand195. Die Einrichtung des Prinzipats hatte sich so bewährt, dass Tiberius die Nachfolge ohne Widerspruch des Senats antreten konnte. Zwar ersah ihn Augustus eigentlich nicht als seinen Nachfolger aus, nachdem sich aber andere Möglichkeiten zerschlugen, bestimmte er ihn schließlich doch dazu. Seine Pflichten nahm Tiberius streng und gewissenhaft wahr, indem er als kluger Verwalter des ihm zugefallenen Erbes planmäßig und zielstrebig die Politik seines Vorgängers fortsetzte. Auf Tiberius folgte Gaius Caligula, der bei Übernahme der Regierung (37–41 n.Chr.) erst 24 Jahre alt war. Im Unterschied zu seinem Vorgänger gebärdete er sich wie ein hellenistischer Herrscher und umgab sich mit einem Kreis junger hellenistischer Fürsten, unter denen sich auch Herodes Agrippa befand, der durch die Gunst des Caligula zu Einfluss und Herrschaft in Palästina gelangte. Als erster Kaiser ließ sich Caligula von der römischen Aristokratie als Gott verehren (Sueton, Cal 22,3)196. Ihm kam es offenbar darauf an, die senatorische Führungsschicht Roms zu erniedrigen und seine absolutistischen Tendenzen durchzusetzen. Sein ausschweifendes Leben und sein übersteigertes Streben nach göttergleicher Überhöhung der herrscherlichen Stellung hinderten Caligula an der Erfüllung der Aufgaben seines Amtes. Er schreckte auch nicht davor zurück, von den Juden zu fordern, sein Standbild im Tempel von Jerusalem aufzustellen (s. o. 3.3). In den wenigen Jahren seiner Herrschaft hatte er sich so viele Feinde gemacht, dass eine Palastrevolution sein Regiment beseitigte (41 n.Chr.).

Claudius

Nero

Die Prätorianergarde rief Claudius zum neuen Caesar aus (41–54 n.Chr.). Im Gegensatz zu Caligula war er zurückhaltend gegenüber der göttlichen Verehrung seiner Person (vgl. Suet, Claud 12). Er wollte die römische Religion neu beleben und war ein Verehrer des Griechentums197. Seine Stellung gegenüber dem Judentum scheint schwankend gewesen zu sein; einerseits sicherte er zu Beginn seiner Herrschaft die Rechte der Juden in Alexandria198, andererseits vertrieb er 49 n.Chr. die Juden aus Rom (vgl. Apg 18,2). Das Claudius-Edikt (s.u. 6.5) war für das frühe Christentum von großer Bedeutung, denn die damit verbundene Vertreibung von Judenchristen aus Rom (vor allem nach Kleinasien) veränderte die Zusammensetzung der römischen Gemeinde und hatte Einfluss auf die paulinische Mission. Claudius wurde 54 n.Chr. durch seine Gemahlin Agrippina vergiftet, die so Nero (54–68 n.Chr.) den Weg auf den Thron bahnte199, ihrem Sohn aus erster Ehe. Der neue Herrscher war erst 17 Jahre alt, so dass die Amtsgeschäfte zunächst vom Prätorianerpräfekten und dem Philosophen Seneca geführt wurden, einem der wohlhabendsten und einflussreichsten Männer in Rom200. Die Jahre ihrer Regentschaft verliefen glücklich. Als Nero selbst die Regierung übernahm, entwickelte er sich zum unberechenbaren Despoten und Selbstdarsteller. Er liebte es, öffentlich als Künstler aufzutreten, gebärdete sich als Freund und Förderer griechischer Kultur201 und suchte seine herrscherliche Stellung mit göttlichem Glanz zu umkleiden. Dabei überschritt er bewusst moralische und politische Grenzen und ließ ohne Bedenken Menschen aus dem Wege schaffen, die ihm hinderlich sein konnten. Im Jahr 68 n.Chr. kam es zu einer Verschwörung gegen ihn und er nahm sich das Leben. Bedeutsam für das frühe Christentum wurde Nero durch den Brand Roms (64 n.Chr.) und die sich daran anschließende erste größere Christenverfolgung (s.u. 12.2). Neros plötzliches Ende wurde von vielen Menschen bejubelt; andere aber waren fassungslos und vermuteten, sein Tod könne nicht sein und er lebe an einem verborgenen Ort weiter. So entstand die Erwartung, er werde aus dem Osten an der Spitze der Partherheere wiederkehren. Auf diese im Volk verbreiteten Vorstellungen vom ‚Nero redivivus‘ (vgl. Sib 4f; Tacitus, Historien II 8f) könnte in Offb 13,1–18; 17,11–17 angespielt werden, wo das Tier aus dem Abgrund als Schreckenskaiser der letzten Zeit gezeichnet wird.

Die Flavier

Trajan und Hadrian

Mit dem Tode Neros ging die Herrschaft des julisch-claudischen Hauses zu Ende, es begann die Zeit der Flavier (s.u. 9.3). Im Jahr 69 n.Chr. gelang es Vespasian, die Herrschaft an sich zu bringen und, gestützt auf das Heer, Ruhe und Ordnung zu schaffen. Vespasian setzte die Erneuerung des von Augustus geschaffenen Prinzipats durch und sicherte die Erbfolge seiner Söhne. Als er 79 n.Chr. starb, wurde sein Sohn Titus Kaiser, der Jerusalem erobert hatte; 81 n.Chr. folgte ihm sein Bruder Domitian (81–96 n.Chr.). Er scheint im Verlauf seiner Herrschaft immer mehr zum Tyrannen geworden zu sein (s.u. 12.3), der die Macht und Heiligkeit seiner Person öffentlich demonstrierte. Mit Nerva (96–98 n.Chr.) beginnt die Reihe der Caesaren, die sich den Lehren der Philosophen verpflichtet wussten und sie zum Wohl des Gemeinwesens zu verwirklichen suchten. Das stoische Herrscherideal setzte sich durch, nach dem der Beste regieren und sein Amt als Diener der Allgemeinheit führen sollte. Nerva adoptierte den General Trajan, der dann als sein Nachfolger 98 n.Chr. die Regierung übernahm und sie bis 117 n.Chr. ausübte202. Durch das Adoptionsverfahren wurde gesichert, dass man aus dem Kreis der in Betracht kommenden Kandidaten den tüchtigsten auswählen und ihn zum Herrscher bestimmen konnte. Auf Trajan folgte Hadrian (117–138 n.Chr.), der sich als kosmopolitischer Herrscher verstand203. Er reiste viel im Reich umher, weilte gern in Griechenland, ließ überall prachtvolle Bauten errichten und war um die Wohlfahrt der Provinzen bemüht. In die Regierungszeit Hadrians fällt der Bar Kochba-Aufstand (132–135 n.Chr.), der den endgültigen Untergang des Judentums bewirkte (s. o. 3.3).

3.4.1 Grundzüge der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der frühen Kaiserzeit

LUDWIG FRIEDLÄNDER, Sittengeschichte Roms I, Leipzig 91919. – GÉZA ALFÖLDY, Römische Sozialgeschichte, Stuttgart 42011. – PETER GARNSEY/RICHARD SALLER, The Roman Empire: Economy, Society, and Culture, Berkeley 1987. – ANDREA GIARDINA (Hg.), Der Mensch der römischen Antike, Frankfurt 1991. – EKKEHARD STEGEMANN/WOLFGANG STEGEMANN, Urchristliche Sozialgeschichte, 17–94. – FRANK KOLB, Rom. Die Geschichte der Stadt in der Antike, München 22002. – LEONHARD SCHUMACHER, Sklaverei in der Antike, München 2001. – HANS-JOACHIM DREXHAGE/HEINRICH KONEN/KAI RUFFING, Die Wirtschaft des Römischen Reiches (1.–3. Jahrhundert), Berlin 2002. – ELISABETH HERRMANN-OTTO, Soziale Schichten und Gruppen, in: Kurt Erlemann u. a. (Hg.), Neues Testament und antike Kultur II, 86–99. − ULRICH FELLMETH, Pecunia non olet. Die Wirtschaft der antiken Welt, Darmstadt 2008. – ELISABETH HERMANN-OTTO, Sklaverei und Freilassung in der griechisch-römischen Welt, Hildesheim 2009. − KAI RUFFING, Wirtschaft in der griechisch-römischen Antike, Darmstadt 2012. – JOSEF FISCHER, Sklaverei, Darmstadt 2014.

Aufgrund der Größe des Römischen Reiches, der zumeist dürftigen Quellenlage und der sehr unterschiedlichen Verhältnisse in Stadt und Land sowie zwischen den einzelnen Provinzen ist es nur sehr eingeschränkt möglich, exakte Aussagen (im neuzeitlichen Sinn) über die Sozial- und Wirtschaftsstruktur des frühen Kaiserreiches zu ermitteln204. Dennoch lassen sich Grundstrukturen erkennen.

Die Gesellschaftsstruktur

Führungsschicht

Die Gesellschaft des Imperium Romanum war durch eine relativ starre vertikale Struktur gekennzeichnet205. An der Spitze stand die imperiale Führungsschicht, deren Leitungsfunktionen das gesamte Imperium umfassten. In ihren Händen lagen alle entscheidenden Kompetenzen in Politik, Kriegführung, Administration und Rechtsprechung, lediglich in den Bereich der Wirtschaft wurde nur selten direkt eingegriffen. Zur imperialen Führungsschicht zählten nicht nur der Kaiser und seine Familie, sondern auch jene Senatoren, die mindestens einmal das Konsulat bekleidet hatten. Führende Militärs, Verwaltungsbeamte, Juristen und Freunde, die zumeist dem Adel angehörten und den Kaiser kontinuierlich berieten, sind ebenfalls der imperialen Führungsschicht zuzurechnen. Unter einzelnen Herrschern (z.B. Claudius, Nero, Domitian) konnten schließlich Sklaven bzw. Freigelassene, die das besondere Vertrauen des Kaisers besaßen, zentrale Verwaltungsämter innehaben206.

Oberschicht

Im Unterschied zur imperialen Führungsschicht verfügte die imperiale Oberschicht nicht über aktive reichsweite Leitungsfunktionen. Sie war durch Herkunft, Besitz und Vermögen207 privilegiert. Zu dieser Schicht zählten neben den Vasallenkönigen bzw. -fürsten vor allem Angehörige des Senatoren- und Ritterstandes (‚Stand‘ = ordo)208. Die Senatsmitglieder mussten seit Augustus aus alten Familien (Roms) stammen und für ihre Bewerbung um dieses Amt ein beträchtliches Vermögen vorweisen209. Nach den Senatoren (ordo senatorius) bildeten die Ritter (ordo equester) den zweiten Stand; es handelt sich dabei um – vom Kaiser geförderte – vermögende und erfolgreiche Personen aus allen Provinzen, die insbesondere in der provinzialen Reichsverwaltung, der Justiz und im Militär eine führende Rolle spielten. Auch die führenden Priesterfamilien Roms gehörten zur imperialen Oberschicht. Die regionale und lokale Oberschicht (ordo decurionum) übte als dritter Stand lediglich örtliche Leitungsfunktionen aus, zum Beispiel in den Stadträten oder in den Versammlungen der einzelnen Provinzen210. Sie war vor allem durch eine lokale Verankerung, Besitz und Vermögen privilegiert. Dazu zählten die führenden Verwaltungsbeamten größerer und mittelgroßer Städte, dort stationierte Militärs, aber auch reiche Bürger, Großgrundbesitzer und Fernhändler sowie einzelne Wissenschaftler und Intellektuelle211.

 

Mittelschicht

Als maßgebliches Kriterium für die Zugehörigkeit zur Mittelschicht des Imperiums212 muss die Fähigkeit gelten, sich selbst und seine Familie durch selbständige Arbeit zu ernähren und dabei gleichzeitig einen gewissen Überschuss zu erzielen. Nicht die Herkunft, sondern Fleiß, Erfolg, Vermögen und Einfluss qualifizieren die Angehörigen der Mittelschicht. Zu ihr gehörte zunächst der Großteil der freien Bürger Roms, sofern diese nicht verarmt waren; ebenso die unabhängigen freien Bürger der Städte im Reich, die über ein gewisses Vermögen verfügten. Sodann zählten erfolgreiche Grundbesitzer, Händler, Bankiers sowie selbständige qualifizierte Handwerker und Dienstleister dazu, ferner Beamte in den mittleren und größeren Städten des Reiches. Auch Angehörige des Militärs wie Centurionen und Unteroffiziere sind der Mittelschicht zuzurechnen, ebenso Angehörigen der römischen Sonderformationen und auch die privilegierten Veteranen. Schließlich jene Freigelassenen, die im Dienste des Kaisers standen, über großen Einfluss verfügten und sich ein gewisses Vermögen erwirtschaftet hatten. Sogar einzelne Sklaven der familia Caesaris gehörten zur Mittelschicht. Insgesamt war diese Schicht sehr inhomogen, was aber zugleich in der aufstrebenden Wirtschaft des 1./2. Jh. n.Chr. für viele Menschen die Chance bot, innerhalb der Gesellschaft aufzusteigen. Insbesondere durch (neu erworbenen) Reichtum war es möglich, Herkunftsschranken zu überspringen sowie Einfluss und gesellschaftliches Prestige zu gewinnen213.

Unterschicht

Wie die Mittelschicht war auch die breite Unterschicht sehr heterogen. Als entscheidendes Kriterium für die Zugehörigkeit zur Unterschicht müssen die vielfältigen Abhängigkeiten gelten, die es den Menschen verwehrten, selbständig ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften214. Hinzu kommen die gravierenden Unterschiede zwischen Stadt und Land sowie zwischen den einzelnen Regionen des Riesenreiches, die zu Landflucht215 und damit zu schleichender Verelendung der Städte216 führten. In den Städten217 zählten vor allem unselbständige Arbeiter und Dienstleister dazu, z.B. kleine Handwerker wie Schuhmacher, Töpfer, Schmiede, Textilverarbeiter, Hafenarbeiter, Bäcker, Maurer, Schlosser und Stellmacher. Auch kleine Kaufleute, Lehrer, Musiker, Friseure, Seeleute, die Empfänger staatlicher Sozialleistungen, von den Gaben ihrer Patrone Abhängige, Alte, Witwen sowie Tagelöhner, Bettler und chronisch Kranke müssen zur Unterschicht gerechnet werden. Große Teile der Bevölkerung Roms waren von den öffentlichen Getreidelieferungen abhängig218, ebenso gab es neben dem plebs urbana den plebs rustica. Auf dem Land dominierten die (freien oder abhängigen) Kleinbauern, die Kleinpächter und vor allem die abhängigen Lohnarbeiter bzw. Tagelöhner. Daneben gab es ebenso wie in den Städten kleine Handwerker und Dienstleister, Hirten, Alte, Bettler und Kranke.

Sklaven

Ganz überwiegend zur Unterschicht zählten die Sklaven, die einen wesentlichen Bestandteil aller antiken Gesellschaften und Wirtschaftsformen bildeten219. Die antike Sklaverei ist ein sehr komplexes Phänomen, das weder praktisch noch theoretisch infrage gestellt wurde220. Ab dem 2. Jh. v. Chr. nahm die Sklaverei stark zu. Um die Zeitenwende machten die Sklaven ca. 15–20% der Gesamtbevölkerung des Imperium Romanum aus (ca. 50 Millionen)221; in absoluten Zahlen wären dies ca. 10 Millionen Menschen222. Ursachen für Sklaverei waren vor allem Kriegsgefangenschaft, Geburt in Sklaverei, Menschenraub, Menschenhandel, Kindesaussetzungen und Verkauf aufgrund von Schuldverhältnissen. Sklaven wurden vor allem in der Landwirtschaft eingesetzt, harte körperliche Arbeit musste auch beim Militär, in Mühlen, Bädern und Bergwerken von Sklaven geleistet werden223. Sklaven konnten aber auch – je nach ihren Fähigkeiten und den Bedürfnissen ihrer Herren – für gelernte Berufe wie Lehrer, Koch, Amme, Hebamme, Arzt/Ärztin, Schreiber, Verwalter oder für den normalen Dienst im Haushalt eingesetzt werden. Schließlich waren in allen Bereichen des Handwerks und des Handels Sklaven tätig224. Die Herren besaßen die uneingeschränkte Gewalt über ihre Sklaven, die keine Besitz- und Ehefähigkeit hatten. Sie standen ihren Besitzern stets zur Verfügung, entweder zur persönlichen Verwendung oder zum Verleih an Vertragspartner, sie konnten vererbt, verpfändet oder verschenkt werden. Andererseits mussten sie untergebracht und ernährt werden, auch wenn kein Bedarf an ihrer Arbeitskraft bestand.

Es gab auch privilegierte Sklaven, so hatten vor allem die Sklaven der großstädtischen Oberschichten gute Lebensverhältnisse. Gehörten sie zum kaiserlichen Haushalt (familia Caesaris), d.h. zur kaiserlichen Verwaltung, konnten sie sogar sehr einflussreich und wohlhabend sein225. Sehr häufig blieben Sklaven nicht zeitlebens unfrei, vor allem in den gehobenen römischen Haushalten, aber auch, wenn sie als Handwerker oder Dienstleister gearbeitet hatten. Da die Freilassung von Sklaven gesetzlich geregelt war, gehörten Freigelassene dann fast ohne Einschränkungen zur römischen Gesellschaft226.

Die antike Wirtschaft

Die Basis der antiken Wirtschaft bildete die Landwirtschaft. Hinzu kamen als weitere zentrale Bereiche das Handwerk, der Handel sowie verschiedenste Dienstleistungen.

Landwirtschaft

Wie alle vorindustriellen Gesellschaften war auch das Römische Reich eine Agrargesellschaft227. Ca. 90% der Gesamtbevölkerung lebten auf dem Land228. Angebaut wurde überwiegend Getreide, das für die Grundversorgung der Bevölkerung, insbesondere der städtischen und militärischen Konsumzentren, eine Schlüsselstellung einnahm. Vor allem Nordafrika (mit Ägypten als Zentrum) galt als Kornkammer des Reiches. Missernten und Transportprobleme trafen vor allem die städtische Bevölkerung und führten immer wieder zu reichsweiten Hungersnöten229. Je nach Ernte konnte es einen Überschuss an Korn geben, der in den Scheunen gesammelt wurde (vgl. Lk 12,16–21), manchmal ging es aber auch um das nackte Überleben. Bäckereien mahlten das Korn und lieferten gebackenes Brot in die römischen Städte. Der Wein- und Olivenanbau war ein zweiter Schwerpunkt der Landwirtschaft, hinzu kamen Viehzucht, Weidewirtschaft, Obstanbau und Fischfang. Bienen lieferten Honig, Vögel Fleisch und Eier, Schafe, Ziegen und Vieh sorgten für Milch, Wolle, Fleisch und Häute. Die überschüssigen Erzeugnisse kleiner Bauernhöfe wurden gewöhnlich von den Landwirten selbst auf den Markt gebracht. Einige von ihnen dürften eigene Esel, Maultiere und Wagen besessen haben. Auf den Märkten, die auf den Plätzen der Städte sowie außerhalb der Stadttore abgehalten wurden, kamen am Ort produziertes Getreide, Früchte, Wein, Öl, Fleisch und Wolle zum Verkauf.

Die Verteilung des Landbesitzes fiel sehr unterschiedlich aus; ein Großteil des Landes war im Besitz der römischen Eliten, ererbt oder von insolventen Nachbarn, Schuldnern oder als Kriegsbeute erworben. Offenbar dehnte sich auch im 1. Jh. n.Chr. der Großgrundbesitz von mehreren 1000 Hektar auf Kosten der freien Kleinbauern weiter aus230. Große Güter wurden in der Regel von Verwaltern geleitet und von Sklaven bearbeitet, große Flächen konnten aber auch in kleine Parzellen aufgeteilt und an Pächter vergeben werden (vgl. Mt 21,33–42). Waren die Pachtzinsen hoch und kam es zu Missernten, gerieten diese Pächter sehr schnell in noch größere Abhängigkeit zu ihren Herren (bis hin zur Sklaverei). Die freien Mittel- und Kleinbauern mit wenigen Hektar Land garantierten mit Feldanbau, Tierhaltung und Gemüsegarten die Selbstversorgung großer Teile der Landbevölkerung und trugen mit ihren Überschüssen auch zur Versorgung der kleineren Städte bei. Die Härte des Landlebens und die ständige Gefahr, durch Missernten und Schulden sozial und rechtlich vollständig abzusteigen, führten ab dem 2. Jh. v.Chr. zu einer andauernden Landflucht231.

Handel, Handwerk und Dienstleistungen

Handwerk, Handel und Dienstgewerbe nahmen in der frühen Kaiserzeit einen Aufschwung232. In diesem Wirtschaftssektor dominierten Kleinbetriebe, die von freien Bürgern, von Freigelassenen aber auch von Sklaven im Auftrag ihrer Herren betrieben wurden. In Städten waren die Betriebe zumeist in die Mietshäuser integriert, in den Großstädten gab es ganze Viertel, die nach einzelnen Gewerben benannt wurden. In den Betrieben fertigten Töpfer Schüsseln und Vasen für den täglichen Gebrauch, Walker und Weber produzierten Kleidung, Lederarbeiter nähten Schuhe und Planen, Schmiede stellten landwirtschaftliche Geräte und die Werkzeuge von Handwerkern her, Zimmerleute fertigten Möbel und Wagen, Bildhauer Statuen und dekorative Reliefs. Weiter sind als Gewerbe zu nennen: Korbmacher, Schuster, Bäcker, Dachdecker, Bauarbeiter, Metallverarbeiter, Kupfer- und Goldschmiede. Sie nutzten normalerweise Rohmaterial, das in der Nähe gewonnen wurde, und verkauften ihre fertigen Waren in eigenen Läden oder auf Märkten. Neben den Kleinbetrieben gab es auch Massenproduktion, vor allem bei Ziegeln, Terrakotta-Lampen, Geschirr und Glaswaren. Diese Produkte wurden häufig überregional oder sogar international abgesetzt.

Ein intensiver Handel herrschte in und zwischen allen Gebieten des Römischen Reiches233. Der örtliche Handel im Nah- und Mittelbereich zwischen Dörfern und Städten drehte sich hauptsächlich um landwirtschaftliche und handwerkliche Produkte (Getreide, Öl, Fleisch, Vieh, Gebrauchsgegenstände des Alltags), die auf Märkten angeboten wurden. Im interregionalen Handel zwischen größeren Städten und den einzelnen Provinzen wurden Lebensmittel in Amphoren (Olivenöl, Wein, Fischsaucen) und gewerbliche Produkte (Keramik, Öllampen, Baumaterialien, Textilien) transportiert. Zu Land konnte der Transport von Menschen als Lastenträgern, von Eseln, Maultieren und Kamelen oder von Wagen mit Zugtieren durchgeführt werden. Der Fluss- und Seetransport hatte für den interregionalen, vor allem aber für den Fernhandel eine große Bedeutung. Flüsse wie der Nil, der Rhein oder die Donau waren wichtig, ebenso die küstennahe Schiffahrt im Mittelmeer und angrenzenden Gebieten (z.B. dem Schwarzen Meer). Im Fernhandel (z.B. Indien, China und Arabien) wurden vor allem Öl und Wein in Amphoren, wertvolle Kleidungsstücke, Metalle, Waffen und Luxusgegenstände gehandelt, aus Germanien war bei den Römern der Bernstein besonders begehrt. Zwar brachte der Seehandel viele Gefahren durch Schiffbruch und Piraterie mit sich, aber Personen mit Investitionsmitteln und Wagemut konnten großen Reichtum erwerben234.

Neben der Landwirtschaft als Primärbereich, dem Handwerk und Handel als Sekundärbereich, standen die Dienstleistungen als Tertiärbereich. Hier nahmen die Bank- und Geldgeschäfte einen bedeutenden Platz ein. Dazu gehörten vor allem Geldwechsel, Münzprüfung und das Kreditwesen. Bankgeschäfte waren oft Bestandteil gesellschaftlicher Beziehungen. Innerhalb der höheren Schichten lieh man sich bei Bedarf Geld von Freunden oder verlieh es an Freunde, wenn diese es benötigten. Mitglieder höherer Schichten wurden auch von ihren Untergebenen und Klienten oft um Darlehen gebeten, und zwar als Bestandteil des zwischen ihnen bestehenden Treueverhältnisses. Zu den wichtigen Dienstleistungen gehörte auch der Bildungssektor, der nicht vorrangig vom Staat wahrgenommen wurde. Lehrer/Lehrerinnen, Erzieher/Erzieherinnen, Ammen und Schreiber arbeiteten hier. Weitere Dienstleister waren Ärzte und Juristen. Zu den großen Dienstleistungsbereichen zählten auch die Gastronomie und das Unterhaltungsgewerbe einschließlich der Prostitution.

Für das Imperium Romanum des 1. Jh. n.Chr. ist die Unterscheidung zwischen Herrschern und Beherrschten grundlegend. Die Statik dieses Prinzips wurde aber durch eine wirtschaftliche und kulturelle Dynamik flankiert, die es Mitgliedern aller Schichten ermöglichte, ihre Welt zu erweitern.

Das frühe Christentum in seinen Kontexten

 

Der Überblick zur Geschichte, Philosophie, Religion/Theologie und Wirtschaft der hellenistischen Zeit ist für die nun folgende Darstellung der Geschichte des frühen Christentums in dreifacher Hinsicht grundlegend:

Es gab in der Antike keine ‚Heiden’

1) Das frühe Christentum hatte umfassend teil an der sozialen Wirklichkeit des Römischen Reiches des 1./2. Jh. n.Chr. und war in ein sehr komplexes und attraktives religiös-philosophisches Umfeld eingebettet. Religiöse Vorstellungen und Vollzüge bestimmten in allen Bereichen das Leben des antiken Menschen. Somit entwickelte sich das frühe Christentum in einer multi-religiösen Gesellschaft und stieß keineswegs in einen religionslosen Raum vor. Daraus folgt, dass es die mit der jüdisch/christlichen Unterscheidung ‚Jude/Christ/Heide‘ heute suggerierte religionsfreie Gesellschaft der Antike nie gegeben hat. Im Gegenteil, keine Gesellschaft war so religiös bestimmt wie der Hellenismus und dies gilt auch für das römische Kaiserreich im 1. Jh. n.Chr. Deshalb ist es unangemessen, im Hinblick auf Nicht-Juden und Nicht-Christen von ‚Heiden‘ zu sprechen235, sondern es handelt sich in der Regel um Menschen aus griechischrömischer Religiosität, um Christen aus den Völkern, die sich den frühen Gemeinden anschlossen236.

Anschlussfähigkeit durch Teilnahme

2) Damit verbindet sich ein weiterer zentraler Sachverhalt: Die frühen Gemeinden mit ihren Mitgliedern aus verschiedenen kulturellen Kontexten (palästinisches /hellenistisches Judentum/griechisch-römische Religiosität/lokale Kulte und Vereine) waren von Anfang an sowohl durch ihre Mitglieder als auch durch die konkrete Umwelt in die politischen und kulturell-religiösen Debatten der Zeit verwickelt. Die Erfolge der frühchristlichen Mission lassen sich nur unter der Voraussetzung erklären, dass eine hohe Anschlussfähigkeit in Bezug auf die jüdischen und griechisch-römischen Traditionsströme bestand237. Diese Anschlussfähigkeit ließ sich nicht durch Verweigerung, sondern nur durch eine bewusste Teilnahme an den Debatten erreichen, die im Umfeld der Gemeinden geführt wurden. Will man die Geschichte des frühen Christentums verstehen, müssen diese Kommunikationsfelder identifiziert werden und es gilt herauszuarbeiten, welche Antworten auf diese Fragen gegeben wurden und weshalb die Antworten in Theorie und Praxis offenbar von vielen Menschen als plausibel empfunden wurden. Ein neues kulturelles System wie das frühe Christentum konnte nur entstehen, weil es in der Lage war, das jeweilige kulturspezifische Vorwissen aufzunehmen, sich mit bestehenden kulturellen Strömungen zu vernetzen und Neuorganisationen von Vorstellungen und Überlieferungen vorzunehmen. Bewusste Kommunikation und gewollte Überzeugung stehen hier am Anfang!

Geschichte ist immer Teil von anderer Geschichte

3) Schließlich hat das frühe Christentum nicht nur seine eigene Geschichte, sondern ist immer auch in die Geschichte der anderen verwickelt. Als Bewegung im Judentum gerieten die Christusgläubigen (speziell in Jerusalem) immer wieder in Konflikt mit den anderen jüdischen Gruppen; vor allem mit den Sadduzäern, aber auch mit den Pharisäern. Als Bewegung aus dem Judentum haben die Christen teil an der spannungsreichen Geschichte der Juden im römischen Reich (s.u. 6.5: Das Claudius-Edikt). Zugleich wurde sie aber auch nach und nach in massive Konflikte mit dem römischen Staat hineingezogen, insbesondere was die Teilnahme am Kaiserkult betrifft. Deshalb hat die Geschichte des frühen Christentums immer auch eine religiös-politische Dimension.

Tafel 3: Chronologie Weltgeschichte/Palästina


356–323 v.Chr. Alexander der Große
WeltgeschichtePalästina
~ 301–200 ptolemäische Herrschaft~ 301–200 ptolemäische Herrschaft
~ 200–63 seleukidische Herrschaft~ 200–63 seleukidische Herrschaft
197 Sieg Roms über Philipp V. von Makedonien
175–164 Antiochius IV. Epiphanes~ 175–172 Jason
~ 172–163 Menelaos
167 Beginn der makkabäischen Erhebung
166–161 Judas d. Makkabäer
161–142 Jonathan
~ 150 Lehrer der Gerechtigkeit
142–135/34 Simon
~ 100 v. – 68 n.Chr. Qumrangemeinde
Die Hasmonäer
135/34–104 Johannes Hyrkan
104–103 Aristobul I
103–76 Alexander Jannai
76–67 Salome Alexandra
64 Pompejus besiegt die Seleukiden67–63 Aristobul II
63 Eroberung Jerusalems durch die Römer
40 Parthereinfall63–40 Hyrkan II
31 v. – 14 n.Chr. Augustus40–4 Herodes
~ 4 v. Geburt Jesu
4 v. – 33/34 n.Chr. Philippus
4 v. – 39 n.Chr. Herodes Antipas
4 v. – 6 n.Chr. Archelaos
14–37 Tiberius6–41 Judäa unter röm. Verwaltung
6/7 Census
26–36 Pontius Pilatus
27/28 Auftreten Johannes d. T./
Jesus v. Nazareth
30 Tod Jesu
37–41 Caligula41–44 Agrippa I
41–54 Claudius50–92/93 Agrippa II
54–68 Nero66–73 (74) jüdischer Krieg
70 Fall Jerusalems
69–79 Vespasian73/74 Fall Massadas
79–81 Titus74–132 Periode von Jabne
81–96 Domitian
98–117 Trajan
117–138 Hadrian132–135 Bar-Kochba-Aufstand

1Zu den hier nicht zu behandelnden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekten des Hellenismus vgl. HANS-JOACHIM GEHRKE, Geschichte des Hellenismus, 165ff; BURKHARD MEISSNER, Hellenismus, 97ff.

2Vgl. dazu FRANK KOLB, Die Stadt im Altertum, München 1984, 121–140.

3Die zeitliche Abgrenzung des ‚Hellenismus‘ fällt unterschiedlich aus. Während ein relativer Konsens darüber besteht, dass mit Alexanders Eroberungszügen eine neue Epoche begann (zumeist gilt das Todesjahr 323 als Beginn des Hellenismus), wird das Ende des Hellenismus unterschiedlich bestimmt: Mit der Eingliederung Ägyptens in das Römische Reich (30 v.Chr.) oder mit dem Ende der römischen Kaiserzeit bzw. der Antike überhaupt; vgl. dazu DIETER TIMPE, Art. Hellenismus, RGG4, Bd. 3, Tübingen 2000, 1609.

4Einen Austausch zwischen Hellas und dem Orient gab es natürlich auch schon vorher; vgl. dazu ALBRECHT DIHLE, Hellas und der Orient. Phasen wechselseitiger Rezeption, Berlin 2009.

5Vgl. HAIIM B. ROSÉN, Die Sprachsituation im Römischen Palästina, in: Günter Neumann/Jürgen Untermann (Hg.), Die Sprachen im Römischen Reich der Kaiserzeit, Köln/Bonn 1980, 215–239; ALAN R. MILLARD, Pergament und Papyrus, Tafeln und Ton, 81–114.

6Vgl. HAIIM B. ROSÉN, Die Sprachsituation im Römischen Palästina, a.a.O., 236f.

7Vgl. RÜDIGER SCHMITT, Die Ostgrenze von Armenien über Mesopotamien, Syrien bis Arabien, in: Günter Neumann/Jürgen Untermann (Hg.), Die Sprachen im Römischen Reich der Kaiserzeit, Köln/Bonn 1980, 198–205.

8Vgl. GÜNTER NEUMANN, Kleinasien, in: Günter Neumann/Jürgen Untermann (Hg.), Die Sprachen im Römischen Reich der Kaiserzeit, 167–185.

9Vgl. IIRO KAJANTO, Minderheiten und ihre Sprachen in Rom, in: Günter Neumann/Jürgen Untermann (Hg.), Die Sprachen im Römischen Reich der Kaiserzeit, 84ff. Zur Bedeutung des Griechischen als internationaler Sprache im römischen Kaiserreich, a.a.O., 121–145. Ein instruktives Beispiel bietet Cicero, Pro Archia 23: „Wenn nämlich jemand meint, griechische Verse brächten einen geringeren Zoll des Ruhmes ein als lateinische, so irrt er sich sehr; denn griechische Bücher werden in fast allen Ländern gelesen, lateinische hingegen sind auf ihr Sprachgebiet, das ziemlich klein ist, beschränkt.“

10Vgl. Philo, De Congressu, 44.

11Vgl. Josephus, Bellum 1,3.

12Einen Überblick vermittelt GEORGE W. E. NICKELSBURG, Jewish Literature (s.u. 3.3.1), 191–221.

13Sie wird so genannt, weil nach der Überlieferung des Aristeasbriefes dieses Werk durch 72 Gelehrte in 72 Tagen entstanden sein soll; zur Septuaginta vgl. MICHAEL TILLY, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005.

14Vgl. ARYEH KASHER, Jews and Hellenistic Cities in Eretz-Israel, TSAJ 21, Tübingen 1990.

15Vgl. TOR VEGGE, Paulus und das antike Schulwesen, BZNW 134, Berlin 2006, 423: „Die Erstellung eines abgeschlossenen und hinsichtlich Disposition und Stil durchgearbeiteten Textes setzte eine gründliche Ausbildung in Grammatik- und Rhetorikschule voraus. Die Qualität der paulinischen Texte belegt folglich die solide allgemeine literarische Ausbildung, die Vertrautheit mit Form und Inhalt der rhetorischen und philosophischen Rede ihres Autors.“ Auch THOMAS J. BAUER, Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie, 404–418, geht von einer höheren Schulbildung und rhetorischen Ausbildung des Paulus aus. PETER ARZT-GRABNER, Gott als verlässlicher Käufer, 412, folgert aus dem auffallenden Gebrauch von Geschäftstermini in den Paulusbriefen: „Als gelernter Handwerker, der vermutlich sogar mehrmals in leitender Funktion von Handwerksbetrieben tätig war, waren Paulus Kauf- und Arbeitsverträge wohl bekannt.“