Theologie des Neuen Testaments

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Χριστός ist Bestandteil der ältesten ntl. Überlieferungen, ob Jesus selbst den Χριστός-Titel für sich in Anspruch nahm oder zumindest bewusst messianische Erwartungen auslöste, muss eine Analyse der synoptischen Tradition klären. Der Befund ist überraschend schmal und vieldeutig. Bei Markus finden sich 7 Belege, Matthäus ist bei seinen 18 Belegen im Wesentlichen von Markus abhängig und im lukanischen Doppelwerk verbindet sich vor allem durch die Aufnahme von Jes 61,1f eine ausgeprägte Geistchristologie mit Χριστός (s.u. 8.4.2/8.4.3). Schlüsselstellen sind Mk 8,29 („Petrus antwortet ihm: Du bist der Christus!“) und Mk 14,61f („Da fragte ihn der Hohepriester noch einmal, und er sagte zu ihm: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? Da sprach Jesus: Ich bin es …“). Beide Texte sind vollständig in die markinische Christologie eingebunden und geben kaum exakt historisches Geschehen wieder.



Dennoch spricht viel dafür, dass Jesus durch seine Verkündigung und sein Verhalten messianische Erwartungen ausgelöst hat. Mk 8,27–30 könnten belegen, dass an Jesus politisch-messianische Erwartungen herangetragen wurden. Die messianischen Ovationen beim Einzug in Jerusalem (vgl. Mk 11,8–10), die Tempelreinigung und vor allem die Kreuzesinschrift (s.u. 3.10.2) legen darüber hinaus die Annahme nahe, dass Jesus bewusst messianische Erwartungen schürte. Die Kreuzesinschrift ὁ βασιλεῦς τῶν Ἰουδαίων („Der König der Juden“) dürfte weder von Juden noch Christen stammen und belegen, dass die Römer Jesus von Nazareth als Messiasprätendent hinrichteten

292

. Dann muss die Frage nach Jesu Königtum/Messianität im Prozess eine entscheidende Rolle gespielt haben

293

, ohne dass entscheidbar ist, ob Jesus aktiv den Messiastitel für sich beanspruchte. Auch die schnelle und umfassende Ausbreitung von Χριστός in den ältesten nachösterlichen Traditionen lässt sich am besten verstehen, wenn eine Verbindung mit dem Wirken und Geschick Jesu besteht.



Wie auch immer einzelne Texte beurteilt werden, der Gesamtbefund lässt nur einen historischen Schluss zu: Das Leben Jesu war nicht unmessianisch!

294

 Jesu Selbstanspruch, Repräsentant des gegenwärtigen und kommenden Gottesreiches zu sein, seine Freiheit gegenüber der Tora, seine souveränen Jüngerberufungen, seine Gewissheit, die entscheidende Gestalt in Gottes Gerichtshandeln und der gegenwärtige sowie kommende, von Gott inthronisierte Menschensohn zu sein, lassen nur den Schluss zu, dass Jesus einen ungeheuren Anspruch für seine Person erhoben hat, der von keinem Juden vor und nach ihm so gestellt wurde.



Zugleich aber fällt auf, dass sich dieser Anspruch auch in einer merkwürdig verhüllten Weise zeigt: Er äußert sich nicht in vorgegebenen, dogmatisch klaren Kategorien, sondern in zuweilen fast paradoxen Erzählungen und Worten. Jesus vermittelt Erfahrungen des Gottesreiches, aber er verweigert sich jeder Zeichenforderung und jedem direkten Autoritätsbeweis. Er verlangt für seine Botschaft höchste Verbindlichkeit und bindet Heil und Unheil an seine Person, zugleich verfremdet und überbietet er sämtliche bekannten Spielarten messianischer Autorität. Entscheidend ist nicht ein Wissen über Jesus, sondern die Konfrontation mit ihm und seiner Botschaft, sich ganz auf die neue Wirklichkeit Gottes einzulassen.





3.10Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang





J.BLINZLER, Der Prozeß Jesu, Regensburg

4

1969; P.WINTER, On the Trial of Jesus, SJ 1, Berlin 1961; A.N. SHERWIN-WHITE, Roman Society and Roman Law in the New Testament, Oxford 1963; D.DORMEYER, Die Passion Jesu als Verhaltensmodell, NTA 11, Münster 1974; A.STROBEL, Die Stunde der Wahrheit, WUNT 21, Tübingen 1980; M.LIMBECK (Hg.), Redaktion und Theologie des Passionsberichtes nach den Synoptikern, Darmstadt 1981; O.BETZ, Probleme des Prozesses Jesu, ANRW.II 25.1, Berlin 1982, 565–647; K.KERTELGE (Hg.), Der Prozeß gegen Jesus. Historische Rückfrage und theologische Deutung, QD 112, Freiburg 1988; R.E. BROWN, The Death of the Messiah I.II, New York 1993/94; W.REINBOLD, Der älteste Bericht über den Tod Jesu, BZNW 69, Berlin 1994; N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 540–611; P.EGGER, Crucifixus sub Pontio Pilato, NTA 32, Münster 1997; W.BÖSEN, Der letzte Tag des Jesus von Nazareth, Freiburg 1999; U. LUZ, Warum zog Jesus nach Jerusalem?, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, 409–427; J.D.G. DUNN, Jesus Remembered (s.o. 3), 765–824; G.VERMES, Die Passion, Darmstadt 2005; W.REINBOLD, Der Prozess Jesu, Göttingen 2006.



Am Ende seiner öffentlichen Wirksamkeit zog Jesus mit seinen Jüngern und weiteren Begleitern im Jahr 30 zum Passafest nach Jerusalem

295

. Er tat dies in Kontinuität zu seiner bisherigen Reich-Gottes-Verkündigung und zweifellos nicht ohne Absicht

296

, denn sowohl seine bisherige spektakuläre Wirksamkeit in Galiläa als auch der Einzug in Jerusalem (Mk 11,1–11par) lassen eine Zuspitzung der Ereignisse erwarten.





3.10.1Die Konflikte bis zur Passion





Zwar kann man am Ende des Wirkens Jesu von einer Zuspitzung seines Konfliktes mit jüdischen Autoritäten sprechen, was zugleich aber auch den Höhepunkt und das Ende bereits lang andauernder Auseinandersetzungen darstellte. Die Evangelien lassen keinen Zweifel daran, dass Jesu öffentliches Auftreten von Anfang an mit Kontroversen verbunden war

297

. Als charismatische religiöse Gestalt wirkte Jesus von Nazareth vor allem als Heiler, Exorzist (s.o. 3.6) und Lehrer. Nach Mk 1,22 lehrte er mit ‚Vollmacht‘ und nicht wie die Schriftgelehrten. Als Lehrer trat Jesus in zweifacher, sich ergänzender und durchdringender Weise auf

298

: 1) als eschatologischer Weisheitslehrer (s.o. 3.4/3.5) und 2) als vollmächtiger Ausleger der Tora (s.o. 3.8)

299

. Speziell mit den Pharisäern und Schriftgelehrten kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen über Heilungen am Sabbat (Mk 3,1–6; Lk 13,10–17), bzw. Fragen der Sabbatheiligung (Mk 2,23–28). Hinzu kamen Themen/Probleme der Toraauslegung (z.B. Zorn: Mt 5,21–22a; Ehebruch: Mt 5,27–28a.b; Schwur: Mt 5,33–34a; Vergeltung/Feindesliebe: Mt 5,44; Ehescheidung: Mk 10,1–12; größtes Gebot: Mk 12,28–34). Auch der große Komplex der Speisegesetze (Mk 7,1–15), das Thema ‚rein – unrein‘, speziell der Umgang mit kultisch unreinen Menschen (Mk 2,14–17; Lk 7,34; 15,1; 18,9–14) wurde unterschiedlich beurteilt. Schließlich waren rituelle Praktiken bzw. Einzelfragen (Mk 2,18–22; 7,9–13; Mt 23,23) und religiös-politische Streitpunkte (Mk 12,13–17) von Bedeutung. Dem Exorzisten Jesus warfen die Schriftgelehrten vor, mit dem Satan im Bunde zu stehen (Mk 3,22–30); sie beobachteten ihn kritisch (Mk 9,14–29), klagten ihn an, sich Gott gleich zu machen (Mk 2,1–12) und sprachen ihm Vollmacht und Legitimation ab (Mk 11,27–33). Das ebenfalls sehr angespannte Verhältnis zwischen Jesus und den Pharisäern bzw. den Anhängern des Herodes Antipas spiegelt sich in Mk 3,6; 8,15; 12,13 wider. Insgesamt scheint die Kombination von Heilungen, Exorzismen und Lehre die große Autorität und den anhaltenden Erfolg Jesu begründet zu haben. Dies wiederum rief seine Gegner auf den Plan, die ihre Tora- und Lehrkompetenz infrage gestellt sahen. Dabei spielten nicht nur theologische Differenzen, sondern auch soziale Motive eine Rolle. Die Zurückweisung Jesu in Nazareth weist darauf hin, dass er wegen seiner Herkunft und damit fehlenden Autorisierung abgelehnt wurde (vgl. Mk 6,1–6par). Seine Lehre und Exorzismen auch in Synagogen (vgl. Mk 1,21–28) galten Pharisäern und Schriftgelehrten als illegitim. Jesus gehörte nicht zu den etablierten Tora-Auslegern (vgl. Mk 6,3: „Ist das nicht der Zimmermann“

300

; Joh 7,15), die durch Herkunft (z.B. aus Priesterfamilien) und Ausbildung autorisiert waren und eine bestimmte soziale Position einnahmen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass insbesondere die Schriftgelehrten

301

 auch in der Passionsgeschichte eine führende Rolle spielten (vgl. Mk 8,31; 11,18; 14,1.43.53; 15,1.31).





3.10.2Verhaftung, Prozess und Kreuzigung





Jesus entzog sich den Ovationen beim Einzug in Jerusalem nicht, d.h. er akzeptierte die damit verbundenen messianischen Erwartungen (Mk 11,9fpar). Da der Einzug auch Elemente eines Herrscherzeremoniells enthielt, konnte er politisch interpretiert werden. In zeitlicher Nähe und sachlicher Kontinuität zum Einzug steht die Tempelreinigung (Mk 11,15–18par)

302

.



Die Tempelreinigung



Jesus findet im Tempelbezirk Verkäufer von Opfertieren und Geldwechsler vor, die ursprünglich zur Aufrechterhaltung eines geordneten Kultbetriebes dienten. Nicht jedes herbeigebrachte Tier konnte von Priestern einzeln geprüft werden, und auch die Geldwechsler übten eine Dienstleistung aus, denn nach Ex 30,11–16 musste jeder männliche Jude ab 20 Jahren eine Doppeldrachme als Tempelsteuer entrichten. Das Ausmaß der Tempelreinigung lässt sich in ihren Einzelheiten nicht mehr genau rekonstruieren, aber Jesus scheint mit Gewalt gegen (einige) Tierverkäufer und Geldwechsler vorgegangen zu sein. Damit verbindet sich ein Drohwort gegen den Tempel, das den Kern von Mk 13,2 bildet: „Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen bleiben, der nicht herausgebrochen wird.“

303

 Tempelreinigung und Tempelwort zielten nicht auf eine Wiederherstellung eines gottgefälligen Tempelkultes, wie sie in der Geschichte des Judentums immer wieder gefordert wurde

304

. Vielmehr war Jesus der Meinung, dass mit der Gegenwart und dem Kommen des Reiches Gottes der Jerusalemer Tempel seine Funktion als Ort der Sühne für die Sünden verloren hat. Weil die Herrschaft des Bösen zu Ende geht, bedarf es keiner Opfer mehr

305

.



Verhaftung und Verhör

 



Welche Rolle spielten jüdische Instanzen in dem Verfahren gegen Jesus? Wahrscheinlich wurde Jesu Aktion gegen den Tempel als Infragestellung der wirtschaftlichen und politischen Ordnung interpretiert und damit insbesondere von den Sadduzäern zum Anklagegrund instrumentalisiert

306

. Nicht ‚die Juden‘, sondern die Sadduzäer und Schriftgelehrten scheinen die treibende Kraft bei der Verhaftung Jesu gewesen zu sein (vgl. Mk 14,1.43.53.60; 15,1.11.31; Jos, Ant 18,64: „… und obwohl ihn auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes Pilatus zum Kreuzestod verurteilte …“)

307

. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Überlieferung bei Josephus, die zeigt, dass Prophetie gegen den Tempel und die Stadt Jerusalem offenbar eine Beteiligung der jüdischen Kapitalgerichtsbarkeit an der grundsätzlich Römern zustehenden Rechtsfindung verlangten

308

. Der Text bestätigt die Existenz eines etablierten Instanzenweges. Von führenden Männern der jüdischen Selbstverwaltung wird ein offizielles Verfahren gegen den Propheten Jesus Ben Ananias angestrengt. Er wird zunächst von Mitgliedern des Synhedriums verhört und dann dem Prokurator übergeben. Die Geißelung ging in der Regel der Vollstreckung eines Todesurteils voraus, d.h. die jüdischen Instanzen dürften einen Kapitalprozess angestrengt haben, die letztgültige Entscheidung lautete allerdings in diesem Fall auf Freispruch. Ein ähnlicher Ablauf ist für den Prozess gegen Jesus von Nazareth zu vermuten. Die Tempelreinigung brachte Jesus offensichtlich den Vorwurf ein, die öffentliche Ordnung in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht anzugreifen

309

. Er stellte mit seiner Aktion gegen den Tempel aus der Sicht der Sadduzäer den Kultbetrieb in Frage. Vergehen gegen den Tempel gehörten zu den „durchaus seltenen Fällen, welche die römische Rechtsfindung in der Provinz Judäa bewogen, auf dem Wege einer Ausnahmeregelung die jüdische Kapitalgerichtsbarkeit an der eigenen ‚cognitio‘ zu beteiligen.“

310

 Vornehmlich die Sadduzäer und Schriftgelehrten dürften Jesu Verhaftung angestrengt und das Verhör vor dem Hohen Rat betrieben haben. Jesus wurde dann dem römischen Statthalter übergeben, der eine eigene Untersuchung durchführte und verantwortlich für das Todesurteil ist.



Der Prozess und die Kreuzigung



Die Kapitalgerichtsbarkeit stand in Judäa allein dem römischen Prokurator zu

311

. Bei dem ersten Prokurator Coponius (6–9 n.Chr.) vermerkt Josephus ausdrücklich, er habe mit uneingeschränkter Vollmacht regiert und vom Kaiser auch das Recht erhalten, die Todesstrafe zu verhängen

312

. Nach dem Verhör vor dem Hohen Rat wurde Jesus zum Prätorium gebracht, dem Amtshaus des Pilatus

313

. Warum wurde Jesus nach einem kurzen Prozess verurteilt? Die Römer ließen sich mit Sicherheit von jüdischen Instanzen dazu nicht ohne Grund drängen, und der Hinweis auf innerjüdische Lehrstreitigkeiten reicht ebenfalls nicht aus, um das Eingreifen der Römer zu erklären. Der triumphale Einzug in Jerusalem, die Tempelaktion, Mk 15,2fpar („Bist du der König der Juden? Er aber antworte ihm: Du sagst es!“) und die Kreuzesinschrift (Mk 15,26par: „Der König der Juden“ = ὁ βασιλεῦς τῶν Ἰουδαίων) lassen vermuten, dass die Römer offenbar Jesus für einen (religiös-politischen) Aufrührer hielten, der die gespannte Situation an einem Passafest für sich ausnutzen könnte.



Die Brisanz dieses Vorwurfes illustrierte Josephus. In den Wirren nach dem Tod Herodes d. Gr. strebten sowohl ein gewisser Judas

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 als auch ein gewisser Simon

315

, Knecht Herodes d. Gr., die Königswürde an. Sie plünderten und brandschatzten mit ihren Truppen, wurden dann aber von den Römern vernichtend geschlagen. Danach griff ein gewisser Athronges

316

 nach der Krone. Er führte den Königstitel und kämpfte sowohl gegen die Römer als auch gegen die Familie Herodes d. Gr. Auch er wurde von den Römern und ihren Verbündeten besiegt

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. Josephus charakterisiert diese unruhige Zeit in einem Summarium: „Und so war Judäa voll von Räuberbanden; und wo immer sich eine Gruppe von Anführern zusammentat, wählten sie einen König, der den Untergang der staatlichen Ordnung herbeiführen sollte. Sie fügten zwar wenigen Römern einen unerheblichen Schaden zu, bereiteten aber ihrem eigenen Volk ein großes Blutbad.“

318

 Josephus berichtet dann, der römische Statthalter Varus habe weitere Aufstände brutal niedergeschlagen und einmal 2000 Juden kreuzigen lassen

319

. Hinter den von Josephus als ‚Räuberbande‘ bezeichneten Gruppen standen messianische und soziale Hoffnungen, die sich auf eine Befreiung von der Römerherrschaft und eine gerechtere Ordnung richteten. Nach PsSal 17,21ff wird der von Gott dem auserwählten Volk gesandte König und Gesalbte nicht nur die Heiden vertreiben, sondern auch über sein Volk in Gerechtigkeit herrschen.



Pilatus ließ Jesus geißeln und zur Kreuzigung abführen. Die Kreuzigung war die bevorzugte römische Todesstrafe für Sklaven und Aufständische, eine besonders grausame und entehrende Strafe

320

. Jesus von Nazareth wurde wahrscheinlich am Freitag, den 14. Nisan (= 7. April) des Jahres 30 in Jerusalem als Aufrührer von den Römern gekreuzigt

321

.





3.10.3Jesu Verständnis seines Todes





Auffällig ist, dass Jesus sich trotz der absehbaren Gefahr nicht aus Jerusalem abgesetzt hat. Nach den synoptischen Passionsdarstellungen hätte er dazu noch reichlich Gelegenheit gehabt. Die Möglichkeit einer Verhaftung konnte Jesus nicht völlig unvorbereitet getroffen haben, denn er kannte die angespannte politische Situation in Jerusalem, hatte den Tod von Johannes d. Täufer vor Augen und wurde von seinem eigenen Landesherrn Herodes Antipas gewarnt (Lk 13,31)

322

. Wenn er trotzdem in Jerusalem blieb und sich bewusst provozierend verhielt, dann spricht alles dafür, dass Jesus seinen Tod als Möglichkeit kommen sah und jedenfalls nichts tat, um diesem Schicksal zu entgehen. Fragt man nach dem Sinn eines solchen Verhaltens, dann ist neben einigen Logien der synoptischen Tradition vor allem die Abendmahlsüberlieferung zu bedenken

323

.



Verschiedene Logien könnten ein Wissen Jesu um seinen Tod voraussetzen; so z.B.Lk 12,49.50 („Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen, und wie sehr wünschte ich, es wäre schon entfacht! Aber ich muss mich mit einer Taufe taufen lassen, und wie ist mir bange, bis sie vollzogen ist“), Lk 13,31f (Jesus antwortet auf Warnungen vor Herodes Antipas: „Geht und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen, heute und morgen, und am dritten Tag werde ich vollendet“), Mk 14,7 (Jesus in der Salbungsgeschichte von Bethanien: „Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer bei euch“; vgl. Mk 2,19). All diese Texte sind nicht eindeutig, denn ihre vor- oder nachösterliche Entstehung ist ebenso unsicher wie der Bezug auf Jesu Tod. Aussagekräftiger ist hingegen die Abendmahlsüberlieferung mit damit verbundenen Einzellogien.



Das Abendmahl



Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern muss im Kontext seiner vorhergehenden Mahlpraxis und damit auch seiner Gottesreichverkündigung gesehen werden (s.o. 3.4.5). Die Nähe des Reiches Gottes gewinnt in den Mahlzeiten mit gesellschaftlichen und rituellen Außenseitern konkrete Gestalt, „denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lk 19,10). Jesu letztes Mahl, obwohl nur mit den Jüngern gehalten, weist wie Jesu Mahlzeiten mit Zöllnern und Sündern zuvor auf die Gemeinschaftsmahlzeit im Gottesreich voraus, deren gewisses Unterpfand es zugleich ist. Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der eschatologische Ausblick in Mk 14,25: „Amen ich sage euch: ich werde sicherlich von dem Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu jenem Tage, wo ich es von neuem trinken werde im Gottesreich.“

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 Der eschatologische Ausblick weist voraus auf die Mahlzeit im Gottesreich. Eine Mahlzeit ist in jüdischen Texten verbreitetes Bild für die eschatologische Gemeinschaft in Gottes neuer Welt (vgl. Jes 25,6–12). Durch den eschatologischen Ausblick wird das Abendmahl zum Vorzeichen dieser Herrlichkeitsmahlzeit. Inhaltlich verdeutlicht Mk 14,25 zweierlei: 1) Jesus rechnete wenigstens unmittelbar vor seiner Verhaftung mit seinem Tod und nahm von seinen Jüngern bewusst Abschied. 2) Der Gedanke an seinen Tod führte Jesus keineswegs zu einer Aufgabe seiner Hoffnung auf das Reich Gottes. Der Zeitpunkt seines Kommens bleibt zwar durch das unbestimmte „an jenem Tag“ in der Schwebe, aber die gewisse Hoffnung auf das Kommen der Gottesherrschaft hält sich ungebrochen durch. Mk 14,25 lässt sich darüber hinaus als Todesprophetie verstehen: Jesus trinkt zum letzten Mal, bevor er am Mahl im Reich Gottes teilnimmt. Möglicherweise hofft er aber auch, das Reich Gottes breche so bald herein, dass ihm der Weg durch den Tod erspart bleibt.



Historisch sehr wahrscheinlich ist ein letztes Mahl Jesu mit seinen Jüngern unmittelbar vor seiner Verhaftung (vgl. 1Kor 11,23c). Er tat dies wie bei den vorhergehenden Mahlgemeinschaften in der Gewissheit der Gegenwart Gottes und in der Erwartung des Reiches Gottes. Ob dieses Mahl ein Passamahl war, lässt sich nicht mehr ausmachen

325

. Dagegen spricht: a) Paulus (bzw. seine Tradition) als ältester literarischer Zeuge weiß davon nichts (vgl. das Passa-Motiv in 1Kor 5,7!); b) Mk 14,12 ist offensichtlich sekundär (ebenso Lk 22,15). c) Jesus wurde wahrscheinlich an einem 14. Nisan hingerichtet (vgl. Joh 18,28; 19,14; auch 1Kor 5,7), das Passafest beginnt aber mit dem 15. Nisan. Dafür spricht: Der Ablauf des letzten Mahles kann im Rahmen einer Passafeier verstanden werden (speziell Lukas!). Wahrscheinlich ist anzunehmen: Jesus feierte das letzte Mahl im Zusammenhang mit einem Passafest; zugleich gilt aber, dass der theologische Ertrag dieses historisch nicht zu lösenden Problems gering ist.



Das letzte Mahl erhielt seinen besonderen Charakter durch das Bewusstsein Jesu, dass er sterben wird. Jesus verband seinen bevorstehenden Tod offenbar mit der Erwartung, das Reich Gottes werde nun umfassend anbrechen (Mk 14,25). Dieses Sterben konnte von Jesus nicht losgelöst gedacht werden von seiner einzigartigen Gottesbeziehung und seiner ausgeprägten Gottesgewissheit, die sich vor allem in seiner Reich-Gottes-Verkündigung und seinen Wundern zeigten. Jesu Hoheitsbewusstsein forderte geradezu eine Deutung des bevorstehenden Geschehens! Diese Deutung konnte nicht in einfacher Kontinuität zu den Mahlfeiern des Irdischen stehen, denn mit dem bevorstehenden Tod stellte sich für Jesus umfassend die Frage nach dem Sinn seiner Sendung. Seiner Person kam dabei eine zentrale Bedeutung zu, da bereits die Gegenwart des Reiches Gottes und die Wunder ursächlich von ihr abhingen (vgl. Lk 11,20). Entsprechend forderte das bevorstehende Geschehen eine Deutung im Hinblick auf die Person Jesu, die nur er selbst geben konnte

326

. Wahrscheinlich verstand Jesus seinen Tod in Aufnahme von Jes 53 als Selbsthingabe für die ‚Vielen‘ (vgl. Mk 10,45b)

327

; der Tod steht damit in Kontinuität zum Leben des irdischen Jesus, der ‚für andere‘ eintrat und lebte. Diese Selbsthingabe formuliert Jesus im Verlauf des letzten Mahles gleichnishaft mit Deuteworten (vgl. Mk 14,22.24): τοῦτό ἐστιν τὸ σῶμά μου („dies ist mein Leib“) und τοῦτό ἐστιν τὸ αἷμά μου … ὑπὲρ πολλῶν („dies ist mein Blut … für die Vielen“)

328

.



Diese Deuteworte orientieren sich nicht an dem, was eigentlich im Passamahl im Vordergrund stand, und sie gewinnen durch die Gesten eine weitere Dimension: Das gemeinsame Trinken aus dem einen Becher könnte darauf hinweisen, dass Jesus angesichts seines Todes die von ihm gestiftete Gemeinschaft über seinen Tod hinaus fortgesetzt wissen wollte. Jesus feierte somit das letzte Mahl in dem Bewusstsein, mit seinem Tod werde Gottes Reich und damit auch das Gericht hereinbrechen. Er gibt sein Leben, damit die ‚Vielen‘ in diesem Endgeschehen Rettung erlangen werden. Die Erwartung des mit seinem Sterben sich umfassend enthüllenden Reiches Gottes erfüllte sich für Jesus nicht (vgl. Mk 15,34). Gott handelte an ihm durch die Auferweckung von den Toten in unerwarteter Weise, zugleich aber auch in Kontinuität: Jesu Tod ist und bleibt rettendes Geschehen für die ‚Vielen‘. Nachösterlich wurde das letzte Mahl zum Erfüllungs- und Erinnerungszeichen des Gekommenen, durch das sich dieser in der Kraft des Heiligen Geistes als lebendiges und gegenwartsmächtiges Subjekt seines Gedächtnisses, als Stifter eines neuen Bundes und als kommender Herr von Menschheit und Welt erweist. Diese Grundstruktur prägt trotz unterschiedlicher Ausformungen alle Abendmahlsüberlieferungen.

 



Wenn Jesus bewusst nach Jerusalem ging, den Folgen seiner bewussten Provokationen nicht auswich und beim letzten Mahl seinen bevorstehenden Tod deutete, dann ist eine Schlussfolgerung unausweichlich: Jesus hoffte und erwartete, dass mit seinem Auftreten in Jerusalem das Reich Gottes umfassend anbrechen werde. Somit steht sein Ende in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seinem vorangegangenen Wirken. Jesu dienende Pro-Existenz

329

 für Gott, sein Reich und die Menschen umfasst und charakterisiert gleichermaßen sein Leben und Sterben.





1 Die ältere Forschung wird von A.SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, dargeboten; zu der mit R.Bultmann verbundenen Entwicklung vgl. H.ZAHRNT, Es begann mit Jesus von Nazareth, Stuttgart

3

1969; W.G. KÜMMEL, 40 Jahre Jesusforschung (1950–1990), Königstein/Bonn 1994; eine kritische Darstellung der neueren amerikanischen Forschung bietet N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 28–82. Relevante Texte der Debatte finden sich in: M.BAUMOTTE (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus.



2 Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten, herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig 1778.



3 A.a.O., 7f.



4 D.F. STRAUSS, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, Erster Band, Tübingen 1835, V.



5 E.KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus, 213.



6 Der Terminus ‚third quest‘ geht von einer forschungsgeschichtlichen Dreiteilung aus: 1) Die Leben-Jesu-Forschung des 19.Jh. mit ihren Reaktionen im frühen 20.Jh.; 2) die ‚neue‘ Frage nach Jesus ab der Mitte des 20. Jh.; 3) die ‚dritte‘ Fragerunde ab Beginn der 80er des 20.Jh. Sinnvollerweise sind fünf Epochen der Jesusforschung zu unterscheiden: 1) Aufklärung (Reimarus/Strauss); 2) Liberale Jesusforschung (H.-J.Holtzmann); 3) Destruktion des liberalen Jesusbildes (J.Weiss/W.Wrede/A.Schweitzer/R.Bultmann); 4) die ‚neue‘ Frage nach dem historischen Jeusus (E.Käsemann/E.Fuchs/G.Bornkamm/G.Ebeling/H. Braun); 5) die neuere (überwiegend) nordamerikanische Jesusforschung (‚third quest‘); vgl. auch G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 22–29.



7 Zu nennen ist hier bes. das sogen. ‚Geheime Markusevangelium‘ (ein angeblicher Brief von Clemens von Alexandrien mit zwei Zitaten aus einem unbekannten ‚Markusevangelium‘), das 1958 der Religionshistoriker M.SMITH gefunden haben will. Vom Fund existieren lediglich Fotos, die keine überzeugende Beweiskraft haben. Von einer Fälschung geht aus: ST.C.CARLSON, The Gospel Hoax. Morton Smith’s Invention of Secret Mark, Waco Texas 2005. Für die Authentizität bei gleichzeitiger Abhängigkeit von den synoptischen Evangelien und einer Datierung ins 2.Jh. votieren zuletzt: H.-J.KLAUCK, Apokryphe Evangelien, Stuttgart 2002, 48–52; E.RAU, Das geheime Markusevangelium. Ein Schriftfund voller Rätsel, Neukirchen 2003.



8 Vgl. als Übersicht D.S. DU TOIT, Redefining Jesus: Current Trends in Jesus Research, in: M.Labahn/A.Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 82–124.



9 Vgl. hier C.A. EVANS, The New Quest for Jesus and the New Research on the Dead See Scrolls, in: M.Labahn/A.Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 163–183.



10 Vgl. T.HOLMÉN, The Jewishness of Jesus in the ‚Third Quest‘, in: M.Labahn/A.Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 143–162.



11 Vgl. dazu J.SCHRÖTER/H.-G.BETHGE, Das Evangelium nach Thomas (NHC II,2), in: H.-M.Schenke/H.-G.Bethge/U.U. Kaiser (Hg.), Nag Hammadi Deutsch I, GCS N.F. 8, Berlin 2001, 151–181. Für den zentralen Bereich der Soteriologie plädiert mit überzeugenden Argumenten auch für eine Spätdatierung: E.E. POPKES, Die Umdeutung des Todes Jesu im koptischen Thomasevangelium, in: J.Frey/J.Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005, 513–543.



12 Vgl. hierzu als Programmschrift H.Köster/J.M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des Frühen Christentums, Tübingen 1971. Die Entwicklung skizziert J.Schröter, Jesus im frühen Christentum. Zur neueren Diskussion über kanonisch und apokryph gewordene Jesusüberlieferungen, VuF 51 (2006), 25–41.



13 Vgl. B.L. MACK, Wer schrieb das Neue Testament? Die Erfindung des christlichen Mythos, München 2000.



14 Vgl. dazu R.HEILIGENTHAL, Der verfälschte Jesus, Darmstadt 1997.



15 Vgl. U.SCHNELLE, Einleitung (s.o. 2.2), 574–576.



16 Vgl. dazu als Überblick die Beiträge deutscher und anglo-amerikanischer Exegeten/Exegetinnen in: W.STEGE