Theologie des Neuen Testaments

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4.Die erste Transformation: Die Entstehung der Christologie

W.BOUSSET, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus, Göttingen 61967; O.CULLMANN, Die Christologie des Neuen Testaments, Tübingen 51975; E.SCHWEIZER, Erniedrigung und Erhöhung bei Jesus und seinen Nachfolgern, AThANT 28, Zürich 21962; W.KRAMER, Christos Kyrios Gottessohn. Untersuchungen zu Gebrauch und Bedeutung der christologischen Bezeichnungen bei Paulus und den vorpaulinischen Gemeinden, AThANT 44, Zürich 1963; F.HAHN, Christologische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christentum, FRLANT 83, Göttingen 51995; R.DEICHGRÄBER, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit, SUNT 5, Göttingen 1967; W.POPKES, Christus Traditus, AThANT 49, Zürich 1967; K.WENGST, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums, StNT 7, Gütersloh 21973; J.ERNST, Die Anfänge der Christologie, SBS 57, Stuttgart 1972; PH.VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975, 9–57; K.KERTELGE (Hg.), Der Tod Jesu im Neuen Testament, QD 74, Freiburg 1976; M.HENGEL, Der Sohn Gottes, Tübingen 21977; E.SCHILLEBEECKX, Jesus (s.o. 3), 355–505; M.-L.GUBLER, Die frühesten Deutungen des Todes Jesu, OBO 15, Freiburg(H)/Göttingen 1977; G.FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu im Neuen Testament, BThSt 6, Neukirchen 1982; P.POKORNÝ, Die Entstehung der Christologie, Berlin 1985; G.SCHIMANOWSKI, Weisheit und Messias. Die jüdischen Voraussetzungen der urchristlichen Präexistenzchristologie, WUNT 2.17, Tübingen 1985; G.STRECKER, Literaturgeschichte des Neuen Testaments, Göttingen 1992; G.BARTH, Der Tod Jesu im Verständnis des Neuen Testaments, Neukirchen 1992; M. DE JONGE, Christologie im Kontext, Neukirchen 1995; J.D.G. DUNN, Christology in the Making, Grand Rapids 21996; M.KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998; DERS., Art. Christologie I, RGG4 2, Tübingen 1999, 273–287; F.J. MATERA, New Testament Christology, Louisville 1999; W.SCHRAGE, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes, BThSt 48, Neukirchen 2002; S.VOLLENWEIDER, Horizonte neutestamentlicher Christologie, WUNT 144, Tübingen 2002; L.W. HURTADO, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids 2003; R.FELDMEIER, Gottes Torheit? Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, in: W.H. Ritter (Hg.), Erlösung ohne Opfer?, Göttingen 2003, 17–55; W.POPKES/R.BRUCKER (Hg.), Ein Gott und ein Herr. Zum Kontext des Monotheismus im Neuen Testament, BThSt 68, Neukirchen 2004; R.N. LONGENECKER (Hg.), Contours of Christology in the New Testament, Grand Rapids 2005; J.FREY/J.SCHRÖTER (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005; M.HENGEL, Abba, Maranatha, Hosanna und die Anfänge der Christologie, in: Denkwürdiges Geheimnis (FS E.Jüngel), hg. v. I.U. Dalferth/J.Fischer/H.-P.Großhans, Tübingen 2005, 144–183; TH. SÖDING, Der Gottessohn aus Nazareth. Das Menschsein Jesu im Neuen Testament, Freiburg 2006; K. ERLEMANN, Jesus der Christus, Neukirchen 2011; D. STAUDT, Der eine und einzige Gott. Montheistische Formeln im Urchristentum und ihre Vorgeschichte bei Griechen und Juden, NTOA/StUNT 80, Göttingen 2012; ST. SCHREIBER, Die Anfänge der Christologie, Neukirchen 2015.

Die Verkündigung, das Leben und das Geschick des Jesus von Nazareth bilden die Grundlage für die neue Erfahrungs- und Denkwelt der ersten Christen. Mit der Entstehung einer Christologie als begrifflicher und erzählerischer Entfaltung der Heilsbedeutung des Jesus von Nazareth als Messias, Kyrios und Gottessohn vollzieht sich eine erste Transformation. Nicht mehr Jesus selbst verkündigt, sondern er wird verkündigt. Was Jesus einst sagte und wie Jesus nach Kreuz und Auferstehung erfahren und gedacht wird, fließen nun ineinander und bilden etwas Neues: Jesus selbst wird zum Gegenstand des Glaubens und zum Inhalt des Bekenntnisses.

Wie lässt sich der Übergang von der Verkündigung Jesu zur Verkündigung von/über Jesus beschreiben? Zwei grundsätzliche Denkmodelle sind möglich: 1) Das Modell der Diskontinuität: A. von Harnack unterschied scharf zwischen dem einfachen Evangelium Jesu, in das allein der Vater gehört, und der maßgeblich von Paulus bestimmten späteren christologischen Entwicklung. „Das Evangelium ist in den Merkmalen, die wir in den Vorlesungen angegeben haben, erschöpft, und nichts Fremdes soll sich eindrängen: Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott.“1 Auch R.Bultmann votiert für das Modell der Diskontinuität, wählt aber eine psychologische Erklärung: „Jesus hat mit dem Hereinbrechen der Basileia gerechnet; das ist nicht passiert. Die Urgemeinde hat mit dem Erscheinen des Menschensohnes gerechnet; das ist nicht passiert. Allein die dadurch entstandene Verlegenheit war das agens für die Entwicklung der Christologie und der Grund für den Rückfall in das apokalyptische Zeitverständnis.“2 2) Das Modell der Kontinuität wird von J.Jeremias vertreten, „die vor- und nachösterliche Botschaft gehören unauflöslich zusammen, keine von beiden darf isoliert werden. Sie dürfen aber auch nicht nivelliert werden. Vielmehr verhalten sie sich zueinander wie Ruf und Antwort.“3 Nach L.Goppelt „vertritt Jesus eine Christologie als verhülltes Selbstzeugnis; die Apostel entfalten sie als offenes Bekenntnis und daher als dieses Bekenntnis explizierende Lehre.“4 Umfassend versucht W.Thüsing die Ganzheit ntl. Theologie zu begründen, „weil Jesus auch als der Irdische schon ‚der Sohn‘ ist (wenn er auch erst von Ostern her im Vollsinn als solcher erkannt werden kann), weil die theologische Grundstruktur des ‚Evangeliums‘ also schon deshalb nicht erst von Ostern an besteht; weil die inhaltlichen Strukturen der eschatologisch-theologischen Botschaft des Christentums durch das Jesuanische geprägt sind: Die Ganzheit der ‚nachösterlichen Transformation‘ ist durch die Ganzheit des Jesuanischen (der ‚jesuanischen Strukturkomponenten‘) vorgeprägt.“5 Für F.Hahn ist die Identität des Irdischen mit dem Auferstandenen „das Fundament für alle christologischen Aussagen. Jede isolierte theologische Wertung der vorösterlichen Geschichte Jesu widerspricht dem Gesamtzeugnis des Neuen Testamentes.“6

Beide Entwicklungen sind in sich teilweise überlagernder Form möglich: Die nachösterliche Christologie könnte ein wirklich neues Element sein, das keinen oder nur wenig Anhalt am vorösterlichen Jesus hat; sie könnte aber auch eine folgerichtige Fortschreibung des vorösterlichen Anspruchs Jesu unter der veränderten Perspektive der Osterereignisse sein. Zur Klärung dieser Frage müssen die entscheidenden Faktoren für die Ausbildung der frühen Christologie bedacht werden.

4.1.Jesu vorösterlicher Anspruch

Die vorangegangenen Analysen (s.o. 3) haben gezeigt, dass Jesu Auftreten mit seinen lehrhaften, charismatischen, prophetischen, weisheitlichen und messianischen Dimensionen schon unter religionsgeschichtlichen Aspekten als singulär anzusehen ist. Es gibt keine Gestalt der Antike, die einen vergleichbaren Anspruch gestellt und eine vergleichbare Wirkung erzielt hätte wie Jesus von Nazareth7. Wenn Jesus das Aufrichten der Königsherrschaft Gottes exklusiv an seine Person band, so dass sein Tun als Anbruch der Gottesherrschaft erscheint, dann musste er notwendigerweise in die Nähe Gottes gerückt und mit Gott zusammengedacht werden. Wenn er seine Person zum Kriterium des eschatologischen Gerichtes erhob (Q 12,8fpar), als Wundertäter auftrat und wie Gott Sünden vergab, sich über Mose stellte und mit der Berufung der 12 Jünger die eschatologische Restitution Israels in neuer Form anstrebte, dann ist die eschatologische Qualität des vorösterlichen Jesus der Grund, warum nach Ostern eine explizite Christologie ausgebildet wurde. Jesus erhob bereits vorösterlich einen einzigartigen Anspruch, der durch die Auferstehung nachösterlich verändert, aber zugleich noch verstärkt wurde8.

Die Entstehung der frühen Christologie liegt aber nicht nur im personalen Anspruch Jesu begründet, sondern auch in seinen Lehrinhalten; es kann von einer wirkungsgeschichtlichen Plausibilität in personaler und sachlicher Hinsicht gesprochen werden. Dafür sprechen die Kontinuitätslinien zwischen dem Handeln bzw. der Verkündigung Jesu und dem frühen Christentum9: 1) Jesus band den Willen Gottes nicht an rituelle Vollzüge, sondern betonte die Ethik der Gottes- und Nächstenliebe. Von hier aus konnte im frühen Christentum eine Liebesethik entwickelt werden, die nicht unmittelbar mit der Tora verbunden war. Jesu Wirken wurde in seiner Gesamtheit als heilsame Regelung gestörter Beziehungen des Menschen zu Gott und der Menschen untereinander wahrgenommen und interpretiert. Jesus hatte sein Leben ‚für uns‘ losgelassen, um es von Gott neu zu erhalten. 2) Gottes grenzenlose Liebe eröffnet Perspektiven, die über die Erwählung Israels hinausgehen. Obwohl Jesus sich prinzipiell nur an Israel gesandt wusste, ermöglichten seine zeichenhaften Hinwendungen zu Heiden den frühen Christen, ihre Botschaft über Israel hinauszutragen. 3) Jesus erkannte dem Tempel offenbar nur eine geringe Bedeutung zu, so dass für die frühen Christen die lokale Gottesverehrung an einem einzigen Ort keine besondere Rolle spielte. Jesus interpretierte die Grundpfeiler des Judentums seiner Zeit offenbar in einer Weise, die für eine Transformation hin zum Universalismus offen war.

4.2Die Erscheinungen des Auferstandenen

Die Erscheinungen des Auferstandenen als ein zentraler Teil des Ostergeschehens waren offenbar die Initialzündung für die grundlegende Erkenntnis der frühen Christen: Der schmachvoll am Kreuz gestorbene Jesus von Nazareth ist kein Verbrecher, sondern er ist auferweckt worden von den Toten und gehört bleibend auf die Seite Gottes. Aus der hervorragenden Qualität Jesu vor Ostern wurde so Jesu Christi unüberbietbare Qualität nach Ostern. Hinzu kommt: Durch die Erscheinungen wurde die Auferstehung zu einem Erzählfaktum. Ein Vergleich der Ostererzählungen der Evangelien mit 1Kor 15,3b–5 zeigt, dass drei Elemente das Grundgerüst aller Ostererzählungen ausmachen: 1. eine Grabeserzählung (1Kor 15,4: „Und er wurde begraben“); 2. Ein Erscheinungsbericht (1Kor 15,5a: „Und dass er erschienen ist dem Kephas“); 3. Eine Gruppenerscheinung vor Jüngern (1Kor 15,5b–7)10.

 

Wie die Evangelien (vgl. Mk 16,1–8par; Joh 20,1–10.11–15) setzt auch Paulus das leere Grab voraus11. Er erwähnt es nicht ausdrücklich, aber die Logik des Begrabenseins und der Auferstehung Jesu in 1Kor 15,4 (und auch des Mitbegrabenwerdens in Röm 6,4) verweist auf das leere Grab, denn die jüdische Anthropologie geht von einer leiblichen Auferstehung aus12. Hinzu kommt ein grundsätzliches Argument: Die Auferstehungsbotschaft hätte in Jerusalem nicht so erfolgreich verkündigt werden können, wenn der Leichnam Jesu in einem Massengrab oder einem ungeöffneten Privatgrab verblieben wäre13. Es dürfte weder den Gegnern noch der Anhängerschaft entgangen sein, wo Jesus beigesetzt wurde14. Der Erfolg der Osterbotschaft in Jerusalem ist gerade historisch ohne ein leeres Grab nicht denkbar. Der Fund eines Gekreuzigten im Nordosten des heutigen Jerusalem aus der Zeit Jesu zeigt15, dass die Leiche eines Hingerichteten an seine Angehörigen oder andere Nahestehende ausgeliefert und von ihnen bestattet werden konnte. Das leere Grab allein bleibt allerdings zweideutig, seine Bedeutung erschließt sich erst von den Erscheinungen des Auferstandenen her16.

Ausgangspunkt der Erscheinungsüberlieferungen17 ist die Protepiphanie Jesu vor Petrus (vgl. 1Kor 15,5a; Lk 24,34), denn sie begründete die hervorgehobene Stellung des Petrus im frühen Christentum18. Das Johannesevangelium geht von einer Ersterscheinung vor Maria Magdalena aus (Joh 20,11–18), erst danach erscheint Jesus den Jüngern (Joh 20,19–23). Bei Markus werden Erscheinungen Jesu in Galiläa angekündigt (Mk 16,7), ohne erzählt oder überliefert zu werden. Bei Matthäus erscheint Jesus zunächst Maria Magdalena und der anderen Maria (vgl. Mt 28,9.10), bei Lukas den Emmausjüngern (Lk 24,13ff). Die Berichte lassen noch erkennen, dass Jesus wahrscheinlich zunächst Petrus und Maria Magdalena bzw. mehreren Frauen erschien. Offensichtlich verfolgen die Erscheinungsberichte keine apologetische Tendenz19, denn obwohl Frauen nach jüdischem Recht nicht voll zeugnisfähig waren, spielen sie in fast allen Erscheinungsberichten der Evangelien eine wichtige Rolle. Jesus ist nach den Erscheinungen vor Einzelpersonen verschiedenen Gruppen von Jüngern erschienen, seien es die Zwölf oder aber mehr als 500 Brüder, von denen 1 Kor 15,6 spricht. Auf diese Gruppenerscheinungen folgten wiederum Einzelerscheinungen, so vor Jakobus und Paulus (vgl. 1Kor 15,7.8).

Auf der Grundlage dieser Überlegungen lassen sich die erkennbaren geschichtlichen Daten schnell zusammentragen: Die Jünger waren bei der Inhaftierung Jesu geflohen, wahrscheinlich nach Galiläa. Nur einige Frauen wagten es, der Kreuzigung von ferne zuzusehen und später nach dem Grab zu sehen. Begraben wurde Jesus von Joseph von Arimathäa, der ein Sympathisant Jesu aus vornehmer Jerusalemer Familie war (vgl. Mk 15,43; Joh 19,38). Die ersten Erscheinungen Jesu ereigneten sich in Galiläa (vgl. Mk 16,7; 1Kor 15,6?), möglicherweise gab es auch Erscheinungen in Jerusalem (vgl. Lk 24,34; Joh 20). Wahrscheinlich sammelte Petrus Mitglieder des Zwölferkreises und andere Jünger bzw. Jüngerinnen, denen Jesus dann erschien. Es folgten besondere Einzelerscheinungen (Jakobus, Paulus), mit denen diese besondere Epoche abgeschlossen wurde. Mit den Auferstehungserscheinungen verband sich sehr früh die Überlieferung vom leeren Grab, das in der Nähe seiner Hinrichtungsstätte gelegene Grab wurde so im Licht der Ostererscheinungen zu einem Zeugnis der Auferstehung.

Welchen Charakter hatten die Erscheinungen? Theologisch ist bedeutsam, dass sie ein Element der Verkündigung der Auferstehung Jesu sind, d.h. sie können nicht von der einen Basisaussage abgelöst werden: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt. Religions- und traditionsgeschichtlich handelt es sich um Visionen im Kontext apokalyptischer Vorstellungen, nach denen Gott in der Endzeit wenigen Auserwählten Einblick in sein Handeln gewährt20. Der Realitätsgehalt der Erscheinungen kann aufgrund der spärlichen Überlieferungssituation nicht psychologisch erfasst werden, und auch eine Interpretation der Erscheinungen als rein subjektive Glaubenserfahrungen ist nicht hinreichend21, denn so wird der besondere Status der Erscheinungen als Glaubensgrundlage minimiert. „Andererseits müssen die Visionen von solcher Art gewesen sein, dass sie es ermöglichten bzw. sogar dazu nötigten, sie im Sinne der Aufererweckungsaussage zu deuten.“22 Wie die Auferstehung selbst sind auch die Erscheinungen als ein von Gott kommendes Transzendenzgeschehen zu begreifen, das bei den Jüngern und Jüngerinnen Transzendenzerfahrungen auslöste (s.u. 6.2.2). Transzendenzerfahrungen können in zweifacher Art verarbeitet und rekonstruiert werden: „Erzählungen, in welchen die Erfahrungen von Transzendenz kommunikativ gestaltet und zur Wiedererzählung bereitgestellt werden, und Rituale, in welche solche Erfahrungen kommemoriert werden und mit welchen die transzendente Wirklichkeit beschworen wird.“23 Dies leisten sowohl die Formel- als auch die Erzähltraditionen, in denen notwendigerweise in unterschiedlichen zeitbedingten Formen diese Transzendenzerfahrungen aufgearbeitet und zum intersubjektiven Diskurs in den Gemeinden zur Verfügung gestellt werden. Taufe, Herrenmahl und Gottesdienste waren rituelle Orte, an denen die Erfahrungen erneuert und verfestigt wurden.

Ostern wurde so zur Basisgeschichte der neuen Bewegung24. An den Texten lässt sich ablesen, was die Ereignisse auslöste und welche Bedeutungen ihnen zugeschrieben wurden. Historisch und theologisch höchst bedeutsam ist die Beobachtung, dass Paulus als authentischer Erscheinungszeuge seine Transzendenzerfahrung sehr restriktiv schildert und auf die entscheidende theologische Erkenntnis hin auslegt: Der Gekreuzigte ist auferstanden! Die Erscheinungen des Auferstandenen als Transzendenzerfahrungen eigener Art begründen die Gewissheit, dass Gott durch seinen schöpferischen Geist (vgl. Röm 1,3b–4a) an Jesus Christus handelte und ihn zur maßgeblichen Gestalt der Endzeit eingesetzt hat.

4.3Erfahrungen des Geistes

Neben den Erscheinungen des Auferstandenen ist das Wirken des Geistes die zweite Erfahrungsdimension, die auf die Ausbildung der frühen Christologie einwirkte. Während die Erscheinungen streng begrenzt waren, ist das Wirken des Geistes keinen Beschränkungen unterworfen. Religionsgeschichtlich gehören Gott und der Geist schon immer zusammen. Im griechisch-römischen Kulturraum vollzieht sich das Wirken der Gottheiten vor allem nach der Lehre der Stoiker in der Sphäre des Geistes25. Im antiken Judentum ist die Vorstellung von großer Bedeutung, dass in der Endzeit der Geist Gottes ausgegossen wird (vgl. Ez 36,25–29; Jes 32,15–18; Joel 3,1–5LXX; 1QS 4,18–23 u.ö.). Der Messias wurde als geistbegabte Gestalt vorgestellt und Tempel-/Einwohnungsmetaphorik verbanden sich mit dem Geist26.

Im frühen Christentum dürften spontane Geisterfahrungen den Ausgangspunkt der Entwicklung markieren: ‚Gott hat uns den Geist gegeben‘ (vgl. 1Thess 4,8; 1Kor 1,12.14; 2Kor 1,22; 5,5; Röm 5,5; 11,8). Der Empfang des Geistes ist auch an äußeren Phänomenen erkennbar (vgl. Gal 3,2; Apg 8,18), speziell an wunderbaren Heilungen (1Kor 12,9.28.30), ekstatischer Glossolalie (Apg 2,4.11; 4,31 u.ö.) und prophetischem Reden (vgl. 1Kor 12; 14; Apg 10; 19). In legendenhafter Ausschmückung, im Kern aber historisch sicherlich zuverlässig, beschreibt die Apostelgeschichte das Wirken des Geistes in den frühesten Gemeinden. Der Heilige Geist erscheint als die von Jesus versprochene „Kraft aus der Höhe“ (Lk 24,49; Apg 1,5.8), die den Jüngern zu Pfingsten (Apg 2,4) verliehen wird. Der Geist wird allen zuteil, die die Predigt der Apostel annehmen und sich taufen lassen (vgl. Apg 2,38). Nach frühester Überlieferung war schon das Wirken Jesu seit der Taufe durch den Heiligen Geist geprägt (vgl. Mk 1,9–11; Apg 10,37). Es ist der Geist Gottes, der die Auferstehung Jesu bewirkt (Röm 1,3b–4a; Röm 6,4; 8,11; 1Petr 3,18; 1Tim 3,16), und nun die neue Seins- und Wirkweise des Auferstandenen bestimmt (2Kor 3,17: „Der Herr aber ist der Geist“; vgl. 1Kor 15,45). Das Wirken des Geistes trennt im Taufgeschehen die Glaubenden von der Macht der Sünde und bestimmt von nun an ihr neues Sein (vgl. 1Kor 12,13; 6,19; Röm 5,5). Paulus als ältester literarischer Zeuge teilt die Auffassung von den wahrnehmbaren Zeichen des eschatologischen Geistempfanges (vgl. z.B. 1Thess 1,5; Gal 3,2–5; 1Kor 12,7ff). Er selbst nimmt Erfahrungen des Geistes für sich in Anspruch (vgl. 1Kor 14,18; 2Kor 12,12) und mahnt die Gemeinden, den Geist nicht zu dämpfen (vgl. 1Thess 5,19).

Die ältesten christlichen Aussagen über das Wirken des Geistes Gottes sprechen die Überzeugung aus, dass die jüdische Hoffnung auf das inspirierende und lebenspendende Pneuma für die Endzeit jetzt ihre Erfüllung gefunden hat. Im Wirken des Geistes Gottes erkannten die frühen Christen die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten.

4.4Die christologische Lektüre der Schrift

Das Auftreten Jesu in Israel verweist die frühen Christen auf die Schriften Israels. Aus den Schriften nimmt die Christologie ihre Sprache, wie 1Kor 15,3f bezeugt; das Postulat „gemäß den Schriften“ (ϰατὰ τὰς γραφάς) ist ein grundlegendes theologisches Signal. Die frühen Christen leben in und aus den Schriften Israels. Die Lektüre vollzieht sich allerdings unter veränderten Verstehensbedingungen, denn nun lesen die Judenchristen ihre Schrift (vornehmlich in der Gestalt der Septuaginta27) neu aus der Perspektive des Christusgeschehens. Die Relecture der Schriften vollzieht sich in einer zweifachen Bewegung: Die Schriften werden zum Bezugsrahmen der Christologie und die Christologie gibt den Schriften eine neue Bestimmtheit28.

Die christologische Relecture der Schrift führt im frühen Christentum zu verschiedenen Modellen, um die Kontinuität des Verheißungshandelns Gottes in der Geschichte aufzuzeigen. Durch Gottes Heilshandeln an Jesus von Nazareth in Kreuz und Auferstehung war für die ersten Christen deutlich, dass es einen Zusammenhang zwischen diesem Geschehen und dem Heilshandeln Gottes mit Israel geben muss. In den Figuren der Typologie (Vorabbildung), der Verheißung und der Erfüllung sowie in den exegetischen Methoden der Allegorese und des Midrasch, in Zitatkombinationen, Zitatvariationen und Anspielungen sind Modelle zu sehen, um diese grundlegende Überzeugung auszudrücken.

In den unbestritten echten Paulusbriefen finden sich 89 Zitate aus dem Alten Testament29, wobei die Verteilung der Zitate über die einzelnen Briefe auffällig ist: Im ältesten (1Thess) und in den beiden jüngsten (Phil, Phil) Briefen fehlen Zitate, hingegen finden sich die meisten Zitate in den Schriften, in denen der Apostel aktuelle Probleme bzw. Konflikte bearbeiten muss (Korintherbriefe, Gal und vor allem Röm!). Theologisch ist für Paulus die Schrift Zeuge des Evangeliums, denn die Verheißungen Gottes (vgl. ἐπαγγελία in Gal 3 und Röm 4) erfahren im Evangelium von Jesus Christus ihre Bestätigung (vgl. 2Kor 1,20; Röm 15,8). In der Logienquelle finden sich 5 Zitate mit Einleitung, wobei die Konzentration auf die Versuchungsgeschichte auffallend ist (vgl. Q 4,4.8.10f.12; ferner Q 7,27)30. Markus platziert Zitate an zentralen Stellen seines Evangeliums (vgl. Mk 1,2f; 4,12; 11,9; 12,10.36; 14,27); sie bestätigen das Heilsgeschehen, ohne ein zentrales Element der Christologie zu sein31. Auffälligerweise findet sich bei Markus erstmals in einem Nebensatz die Wendung „aber die Schriften sollen erfüllt werden“ (Mk 14,49). Bei Matthäus sind die Erfüllungszitate ein grundlegender Bestandteil der Christologie (vgl. mit jeweils redaktioneller Einführung Mt 1,23; 2,6.15.18.23; 4,15f; 8,17; 12,18–21; (13,14f); 13,35; 21,5; 27,9f; vgl. ferner Mt 26,54.56)32. Sie legen nach dem Deutungsmodell ‚Verheißung – Erfüllung‘ umfassend dar, wie einzelne Begebenheiten aus dem Leben Jesu, seine Taten und Worte sowie die Passion den Schriften entsprechen, sie bejahen und erfüllen. Die Einführungsformeln zeigen Gemeinsamkeiten, es folgt auf den Erfüllungsgedanken der Verweis auf die Schriftstelle, wobei auch der Name des Propheten (Jesaja, Jeremia) genannt werden kann. Das Leitverb πληρόω steht in der Regel im Passiv, um so auf das Handeln Gottes zu verweisen. Dadurch wird das Hauptanliegen matthäischer Christologie zum Ausdruck gebracht: Die Geschichte Jesu ist die Geschichte Gottes. Bei Lukas steht die Vorstellung im Mittelpunkt, dass im Auftreten Jesu die prophetischen Verheißungen der Schrift erfüllt sind (vgl. Lk 1,70; 4,21; 18,31; 24,44; Apg 3,21)33. Auf die Zeit des Gesetzes und der Propheten folgt die gegenwärtige Verkündigung des Reiches Gottes (Lk 16,16). Die Zeit des Heils im Auftreten Jesus setzt sich fort in der universalen Evangeliumsverkündigung der Kirche (vgl. Apg 10,34f). Einen Schritt weiter geht Johannes, bei dem Jesus zum verborgenen Subjekt der Schrift wird (Joh 5,46: „Denn wenn ihr Mose glaubtet, würdet ihr auch mir glauben, denn über mich hat jener geschrieben“). Identifizier- und abgrenzbare Zitate aus dem Alten Testament34 finden sich in Joh 1,23; 1,51; 2,17; 6,31; 6,45; 10,34; 12,13.15.27.38.40; 13,18; 15,25; 16,22; 19,24.28.36.37; 20,28; vgl. ferner Joh 3,13; 6,45; 7,18.38.42; 17,12. Auffällig sind die unterschiedlichen Einleitungsformeln in den beiden Hauptteilen des Evangeliums. Während sich im ersten Teil des Evangeliums fünfmal das Partizip γεγραμμένον in Verbindung mit ἐστίν (vgl. Joh 2,17; 6,31; 6,45; 10,34; 12,14) findet, sprechen die neuen Einleitungsformeln im zweiten Hauptteil des Evangeliums (ab Joh 12,38) ausdrücklich von der Erfüllung des Gotteswillens in der Passion Jesu Christi. Die Schriften verweisen hier nicht nur auf Jesus, sondern Christus bezeugt sich selbst in ihnen. Damit ist ein grundlegender Perspektivenwechsel vollzogen, die Christologie empfängt nicht nur Impulse aus den Schriften, sondern prägt diese inhaltlich. Im Rahmen der temporären und sachlichen Priorität des Christusgeschehens weist Johannes der Schrift einen außerordentlichen Rang zu: Als Christuszeuge kommentiert und vertieft sie die wahre Erkenntnis des Gottessohnes.

 

Einige Einzeltexte nehmen in der frühchristlichen AT-Rezeption eine besondere Stellung ein.

Paulus setzt mit Gen 15,6 und Hab 2,4b faktisch alle anderen Texte des Alten Testaments außer Kraft. Bei der interpretierenden Aufnahme von Hab 2,4bLXX in Gal 3,11 und Röm 1,17 bindet der Apostel die Treue Gottes nicht an den aus der Tora lebenden Gerechten, sondern an den Glauben an Jesus Christus als Rechtfertigungsgeschehen. Der chronologische Abstand zwischen Gen 15,6 und Gen 17 hat bei Paulus theologische Qualität. Gilt die Beschneidung aus jüdischer Sicht als umfassender Treueerweis Abrahams gegenüber den Geboten Gottes, so trennt Paulus die Beschneidung von der Glaubensgerechtigkeit. Die Glaubensgerechtigkeit ging der Beschneidung voran, so dass die Beschneidung lediglich als eine nachträgliche Anerkennung und Bestätigung der Glaubensgerechtigkeit verstanden werden kann. Eine Schlüsselstellung nahm Ps 110,1LXX bei der Herausbildung der frühen Christologie ein35: „Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich dir deine Feinde als Schemel unter deine Füße lege.“ Hier fanden die frühen Christen den maßgeblichen Schriftbeleg für Jesu himmlische Würde und Funktion: Er wurde zur Rechten Gottes erhöht, hat Anteil an der Macht und Herrlichkeit Gottes und übt von dort seine Herrschaft aus (vgl. 1Kor 15,25; Röm 8,34; Mk 12,36; 14,62; Mt 22,44; 26,64; Lk 20,42; 22,69; Apg 2,34; Kol 3,1; Eph 1,20; Hebr 1,3.13; 8,1; 10,12). In diesem Kontext übertrugen die ersten Christen schon sehr früh die für Gott geläufige Anrede ‚Herr‘ auf Jesus (vgl. die Aufnahme von Joel 3,5LXX in Röm 10,12f; ferner 1Kor 1,31; 2,16; 10,26; 2Kor 10,17) und brachten damit seine einzigartige Autorität in Abgrenzung zu anderen Ansprüchen zum Ausdruck36. Bei der Ausformung der Sohnes-Christologie (vgl. 1Thess 1,9f; Röm 1,3b–4a; Mk 1,11; 9,7) dürfte Ps 2,7 („Kundtun will ich den Beschluss des Herrn; er sprach zu mir: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt“; vgl. ferner 2Sam 7,11f.14) eine zentrale Bedeutung eingenommen haben.

Als intertextuelles Phänomen leistet die christologische Relecture der Schrift zweierlei: Sie stellt die atl. Referenztexte in einen neuen Sinnhorizont und legitimiert zugleich die eigene theologische Position der ntl. Autoren. Dabei bildet nicht das Eigengewicht der Schrift, sondern Gottes endzeitliches Heilshandeln in Jesus Christus die sachliche Mitte ihres Denkens. Zentrale Inhalte jüdischer Theologie (Tora, Erwählung) werden neu bedacht und der Schrifttext in einen produktiven intertextuellen Interpretationsprozess hineingenommen.

4.5Religionsgeschichtliche Kontexte

Die Entwicklung der frühen Christologie vollzog sich in Kontinuität zu jüdischen Basissätzen, die wichtige Verstehenskategorien lieferten: Gott ist einer, er ist der Schöpfer, der Herr und der Erhalter der Welt. Traditionen des antiken Judentums37 ermöglichten es auch, am Monotheismus festzuhalten, zugleich aber Jesus von Nazareth als Χριστός, ϰύριος und υἱὸς τοῦ ϑεοῦ zu bezeichnen. Für das frühe Christentum war es ein naheliegender Vorgang, vornehmlich in der jüdischen Tradition verankerte Hoheitstitel (s.o. 3.9/s.u. 4.6) auf Jesus zu übertragen. Nach jüdischer Vorstellung gibt es nur einen Gott, aber er ist nicht allein. Zahlreiche himmlische Mittlergestalten wie die Weisheit (vgl. Prov 2,1–6; 8,22–31; Sap 6,12–11,1), der Logos oder die Namen Gottes haben ihre Heimat in unmittelbarer Nähe zu Gott38. Biblische Patriarchen wie Henoch (vgl. Gen 5,18–24)39 oder Mose und Erzengel wie Michael40 umgeben Gott und wirken nun in seinem Auftrag. Sie bezeugen die Weltzugewandtheit Gottes, zeigen, dass Gottes Macht überall präsent ist und alles seiner Kontrolle unterliegt. Als Teilhaber an der himmlischen Welt sind sie Gott untergeordnet, sie gefährden in keiner Form den Glauben an den einen Gott. Als geschaffene und untergebene Kräfte traten sie in keine Konkurrenz zu Gott, als göttliche Attribute beschreiben sie in der Sprache menschlicher Hierarchie die Aktivitäten Gottes für die Welt und in der Welt. Zugleich sind aber gravierende Unterschiede offenkundig41: 1) Die personifizierten göttlichen Attribute waren keine gleichwertigen Personen mit eigenständigen Handlungsfeldern. 2) Sie wurden nicht kultisch verehrt. 3) Innerhalb der Vielfalt jüdischer Vorstellungen war es undenkbar, dass ein gerade schmachvoll Verstorbener in gottgleicher Art verehrt wurde.

Das Judentum bildet auch bei der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten den religionsgeschichtlichen Rahmen und Hintergrund, hier formte sich diese Vorstellung im Rahmen der Apokalyptik im 3./2.Jh. v.Chr. aus42. Der einzig unbestrittene Auferstehungstext im AT ist Dan 12,2f: „Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu. Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten.“ Als zweiter zentraler Text ist Jes 26,19 zu nennen: „Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf; wer in der Erde liegt, wird wachen und jubeln. Denn der Tau, den du sendest, ist ein Tau des Lichts; die Erde gibt die Toten heraus.“ Die in beiden Texten vorausgesetzte Auferstehungshoffnung hat eine Vorgeschichte im AT, zu verweisen ist auf Jes 26 und Ez 37,1–14. Im 2./1.Jh. v.Chr. bezeugen zahlreiche Texte die Auferstehungshoffnung: SapSal 3,1–8; äthHen 46,6; 48,9f; 51,1; 91,10; 93,3f; 104,2; PsSal 3,10–12; LAB 19,12f; 2Makk 7,9; TestBen 10,6–10. Von besonderer Bedeutung ist, dass es auch bei den Essenern den Glauben an eine Auferweckung der Toten gegeben hat. In 4Q521 2 II,12 wird von Gott lobpreisend gesagt: „Dann wird er Erschlagene heilen, und Tote wird er lebendig machen; Armen wird er frohe Botschaft verkünden …“ In der gleichen Handschrift findet sich in Fr. 7,6 folgender Text: „… der lebendig macht die Toten seines Volkes“43.