Dem Logos zuhören

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Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Im dritten Kapitel wird schließlich versucht, aus den philosophischen und theologischen Überlegungen ein Verständnis von Dialog zu entwickeln, das den Anforderungen der heutigen Pluralität der religiösen und nichtreligiösen Bekenntnisse und Nicht-Bekenntnisse gerecht wird. Die Überlegungen laufen auf eine Differenzierung zwischen zwei Herangehensweisen hinaus, die in einem Verständnis von Dialog möglich sind. Es kann einerseits darum gehen, dass die Gesprächspartner versuchen, sich im Dialog zu definieren, d. h. voneinander abzugrenzen oder sich gar in eine abgestufte Reihenfolge zu bringen. Neben diesem eher wettbewerblichen und deshalb als kompetitiv bezeichneten Verständnis wird ein relationales Verständnis vorgeschlagen. In diesem geht es darum herauszufinden, welche Beziehung zwischen den Dialogpartnern bestehen kann, wie sie aufeinander einwirken und voneinander lernen. Je weniger diese Frage von einer wettbewerblichen Sicht gekennzeichnet ist, desto geringer wird die Gefahr, die Wahrheit aufzugeben oder zu relativieren. Wenn auch beide Sichtweisen im Verhältnis zwischen den Religionen ihre Berechtigung haben – zumal das römische Lehramt beide Sichtweisen beleuchtet – so wird sich zeigen, dass innerhalb der Zielorientierung im Dialog ein relationales Verständnis weiter führen kann als ein kompetitives. Insbesondere im Bereich der Theologie der Religionen kann sich ein relationales Verständnis verdient machen, ebenso wie für die Herausforderungen, die sich für eine zahlenmäßig kleiner werdende Kirche im Kontext religiöser und weltanschaulicher Pluralität stellen.

Im Übrigen sind Methodologie und Auswahl des Stoffes persönlich geprägt. Im Lesen der zuvor zitieren Aussage Kardinal Ratzingers, der das Titelzitat entnommen ist, kam mir spontan die Frage, wie die Chancen aussehen, dass der geäußerte Wunsch sich erfüllt. Diese Frage stellte sich mir vor dem Hintergrund meiner eigenen missiologischen und theologischen Studien in Rom, die mich in den vergangenen Jahren mit Personen, Gedanken und Autoren in Verbindung brachten, die sich als hilfreich für die Fragestellung erweisen könnten. Vor diesem Hintergrund gestaltete sich der methodische Rahmen in der Weise, nicht eine vollständige Theologie des Dialogs zu erarbeiten, sondern Anregungen aufzuzeigen. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass es nicht darum geht, Gedankengänge eines Autors oder mehrerer Autoren in ihrer Vollständigkeit zu analysieren und zu valutieren, sondern diese aufzugreifen und Möglichkeiten zu suchen, sie für weiteres Nachdenken fruchtbar zu machen. Das hat dazu geführt, dass in dieser Studie zahlreiche Autoren zu Wort kommen und in eine Verbindung gebracht werden, die dazu anregen kann, die Grundlagen und Möglichkeiten des Dialogs, insbesondere des interreligiösen und interkulturellen, weiter zu vertiefen.

Jedes Kapitel beginnt mit einer skizzenhaften Darstellung des Hintergrundes, vor dem sich die dann folgenden Überlegungen verstehen und von dem sie angeregt werden. Damit ist nicht die vollständige Darstellung einer Wirklichkeit beabsichtigt, die ohnehin zu komplex erscheint. Es sollen vielmehr die Motivation der Gedankengänge anschaulich gemacht und der Einstieg aus der Zeit und dem Kontext heraus gefunden werden.

Bei all dem wird keine abgeschlossene Systematik einer Theologie des Dialogs versucht, vielmehr geht es um Anregungen, mögliche Wege des Dialogs weiter zu beschreiten.

1 „Der Dialog unterbricht die Gewalt“, schreibt W. STEGMAIER, Heimsuchung. Das Dialogische in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, in: FÜRST, G. (HG.), Dialog als Selbstvollzug der Kirche? Quaestiones disputatae 166, Freiburg – Basel – Wien 1996, 9-29, hier: 9.

2 Vgl. das Eröffnungsreferat von Bischof KARL LEHMANN bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda vom 19. September 1994, Vom Dialog als Wahrheitsfindung in der Kirche heute. Zit. nach: SEKRETARIAT DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ (HG.), Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz 17, Bonn 1994, 5: „‚Dialog’ ist auf neue Weise zum Signal für die Diagnose und Therapie in der heutigen Gesellschaft geworden. Überall wird in umfassender Weise der Dialog als Form des Umgangs miteinander und der Kommunikation gefordert. Dies gilt in besonderer Weise für die Kirche. Hier kann es […] programmatisch heißen: ‚Dialog statt Dialogverweigerung. Wie in der Kirche miteinander umgehen?’“

3 F. KÖNIG – J. DUPUIS, Unterwegs zu einem Dialog der Religionen, in: Stimmen der Zeit 226 (2008), 232-244, hier: 236.

4 Vgl. Lumen gentium 1.

5 Vgl. H. J. POTTMEYER, Dialog und Wahrheit. Wie die Kirche ihre Wahrheit findet und lebt, in: SCHAVAN, A. (HG.), Dialog statt Dialogverweigerung. Impulse für eine zukunftsfähige Kirche, Kevelaer 21995, 90–96, hier: 94.

6 Allerdings werden die Begriffe Diskurs und Dialog sehr häufig gerade im kirchlichen Sprachgebrauch synonym verwendet, was auch W. BEINERT, Wenn Mutter Kirche ihren Pass verliert. Oder: Ekklesiologie des Dialogs, in: ThPQ 146 (1998), 349-356, hier: 351, feststellt.

7 Vgl. W. LÖSER, Art. „Dialog“, in: W. BEINERT (HG.), Lexikon der katholischen Dogmatik, Freiburg – Basel – Wien 1997, 83-86, hier: 84.

8 CASSIODOR, Expositio in Psalmum 95 (94), Vers 1, PL 70, 671.

9 J. RATZINGER, Der Dialog der Religionen und das jüdisch-christliche Verhältnis; Erstveröffentlichung: Internationale katholische Zeitschrift Communio 26 (1997), 419-429; zit. nach: J. RATZINGER, Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund, Urfelder Reihe 1, Hagen 42005, 93–121, hier: 120-121.

10 NIKOLAUS VON KUES, Über den Frieden im Glauben – De pace fidei, zit. nach der Ausgabe L. MOHLER (HG.), Meiner Philosophische Bibliothek 223, Leipzig 1943.

11 Ebd., 96.

12 Zum Stand der Diskussion vgl. R. HAUBST (HG.), Der Friede unter den Religionen nach Nikolaus von Kues. Akten des Symposions in Trier vom 13.-15. Oktober 1982, Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 16, Trier 1984, darin: J. STALLMACH, Einheit der Religion – Friede unter den Religionen. Zum Ziel der Gedankenführung im Dialog “Der Friede im Glauben”, 61-75, hier: 63.

13 So: W. DUPRÉ, Menschsein und Mensch als Wahrheit im Werden. Einige Bemerkungen zum Problem der Religion bei Nikolaus von Kues, in R. HAUBST (HG.), Der Friede unter den Religionen, 313-324, hier: 320.

14 Vgl. J. STALLMACH, Einheit der Religion, 72-73.

15 Vgl. W. A. EULER, Einheit der Religionen – Friede unter den Menschen. Begegnung mit nichtchristlichen Religionen bei Ramon Llull und Nikolaus von Kues, in: C. LOHR – E. COLOMER (HG.), Anstöße zu einem Dialog der Religionen. Thomas von Aquin – Ramon Llull – Nikolaus von Kues, Freiburg 1997, 71–91, hier: 85-86.

16 Die Philosophie ist nach PETRUS DAMIANI, De divina omnipotentia 5,621, die „ancilla theologiae“.

1. K A P I T E L

PHILOSOPHISCHE ANNÄHERUNGEN — WAHRHEIT IM DIALOG

Vorbemerkung: Der Umbruch des Denkens als geistesgeschichtlicher Kontext

Wer sich daran macht zu untersuchen, wie auf philosophische Weise ein „Hinhören auf den Logos“ gehen kann, der wird sich zunächst darüber Gedanken machen, in welche Richtung die philosophische Betrachtung geht, d. h. wo das Denken seinen Ausgang nimmt und wohin es führen soll. Anders gefragt: Wer oder was ist der Agent, der Protagonist der Denkbewegung? Ist es der Denkende, der versucht, ein Gedachtes zu erreichen oder gar zu formen? Oder ist es das Gedachte oder zu Denkende, was nach dem Denkenden greift? Bei diesen Überlegungen mag man auf einen Begriff stoßen, mit dem eine geisteswissenschaftliche Strömung des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet wird: den „Umbruch des Denkens“1.

Der Begriff Umbruch lässt auf eine Entwicklung besonderer Art schließen. Mit ihm kann nicht nur beständiges Fortschreiten auf dem Weg durch die Zeit beschrieben sein, dass also das spätere auf dem früheren aufbaut, dessen Fehler aufzeigt, es weiter entwickelt und überwindet. Vielmehr liegt ein besonderer Akzent auf dem Bruch; die Abkehr vom Bisherigen ist radikal und dezidiert. Tatsächlich ist der Umbruch des Denkens verstanden worden als eine neue neuzeitliche Hinkehr zur Metaphysik2, aber nicht als neoscholastischer Pendelschlag zurück, sondern personalistisch gewendet und damit in Absetzung von allem bisher Dagewesenen3.

Eine prophetische These Hegels

Vorausgesehen mag diese Entwicklung bereits G. W. F. Hegel (1770 – 1831) haben, als er im Jahre 1802 schrieb, dass

„durch die Totalität der betrachteten Philosophien der Dogmatismus des Seins in den Dogmatismus des Denkens, die Metaphysik der Objektivität in die Metaphysik der Subjektivität umgeschmolzen worden ist und also der alte Dogmatismus und Reflexionsmetaphysik [sic!] durch diese ganze Revolution der Philosophie zunächst nur die Farbe des Innern oder der neuen und modischen Kultur angezogen“4 habe.

Mit diesem Urteil verbindet Hegel die Einschätzung, eine wahre Philosophie erstehe erst aus der Vernichtung der Absolutheit der herkömmlichen Philosophien5. Die Wortwahl des Autors deutet bereits den radikalen Umbruch des Denkens an, der etwas vernichtet: den Dogmatismus des Seins und denjenigen des Denkens.

Was Hegel „Dogmatismus des Seins“ nennt, hatte seit der Antike die Philosophie bestimmt und im Mittelalter seinen Höhepunkt erreicht. Alles, was ist, verdankt sich im letzten Grunde dem einen Sein, das allem seine Ordnung vorgibt und es in sein je eigenes Sein als Teilhabe entlässt. Ziel der philosophischen Erkenntnis ist die dadurch vorgegebene objektive Ordnung des Seins. Theologisch gewendet geht es darum, zur Erkenntnis der göttlichen Ordnung aufzusteigen, die hinter dem Kosmos steht und sich in ihm zeigt: die Metaphysik. In diesem Dogmatismus des Seins kommt dem Menschen zentrale Bedeutung zu. Er und mit ihm die Erde sollten der Mittelpunkt der ganzen von Gott her geordneten Welt sein. Was also im Mittelalter als Ordo-Gedanke zu universaler Bedeutung aufgestiegen war, nennt Hegel „Metaphysik der Objektivität“.

 

Mit den Begriffen „Dogmatismus des Denkens“ und „Metaphysik des Subjekts“ skizziert Hegel die Entwicklungen im Denken der Neuzeit. Unter dem Druck der Naturwissenschaften mit ihren neu erarbeiteten und erfundenen Forschungsmethoden und –instrumenten geriet die bisherige Sichtweise ins Wanken. Nicht mehr die Metaphysik, sondern die Astronomie erhob den Anspruch, die maßgebliche Erklärung für die Welt insgesamt und damit die Zielvorgabe des Denkens zu liefern. So hat G. Galilei (1564 – 1642) nicht nur die Hinwendung der Astronomie zum heliozentrischen Weltbild in unbestreitbarer Weise vollzogen, sondern zusätzlich den Anspruch der Mathematik, der Geometrie und damit der Naturwissenschaft generell reklamiert, der verbindliche Maßstab zur Beschreibung und Normierung jeglicher Ordnung der sichtbaren Welt überhaupt zu sein. Darin kommt der methodische Schritt der Reduktion zum Tragen: Von verschiedenen Hinsichten, unter denen derselbe Gegenstand betrachtet werden kann, wird eine als vorrangig angesehen; alle anderen treten ihr gegenüber zurück oder sinken gar in die Bedeutungslosigkeit. Mit der Reduktion der Wissensformen im Blick auf die Wirklichkeit der Welt auf die geometrischen Wissenschaften provozierte Galilei6 damit die Herauslösung der Geisteswissenschaft aus dem Bereich aller Fragestellungen, die die objektive Welt als solche betrafen.

Infolgedessen vollzog die Philosophie der Neuzeit die der Naturwissenschaft entgegengesetzte Richtung. Sie wandte sich von dem Anspruch ab, die Welt, die Dinge an sich objektiv sicher zu erkennen. Nachdem dies von den Naturwissenschaften übernommen worden war, rückte nun der Zweifel in den Blick des geisteswissenschaftlichen Zugangs und über diesen die Beschränkung auf das erkennende Subjekt selbst. Die Geisteswissenschaften – an prominenter Stelle R. Descartes (1596 – 1650)7 und I. Kant (1724 – 1804) – vollzogen also gegenläufig zu den Naturwissenschaften eine Entwicklung hin zum Menschen als bestimmendem Ausgangspunkt. Nicht mehr vom Sein her wird gedacht, sondern vom denkenden Menschen. Es erhebt sich die Frage, unter welchen Bedingungen überhaupt Erkennt-nis möglich ist. Die Kapazität des menschlichen Verstandes gibt radikal den Umfang möglicher Erkenntnis vor. Denken vom Sein her ist immer Denken des Subjekts. Nicht das Sein, nur das Denken ist sicher. Allein dieses lässt der methodische Zweifel Descartes’ übrig. Die Dinge an sich können im Denken nicht erreicht werden. Das metaphysische Grundanliegen der Philosophie war also in anderer Perspektive das gleiche geblieben: Wie bisher ging es darum, möglichst viel Wahres zu erkennen: Allerdings meinte man nun Wahres im Denken; das Wahre im Sein an sich wurde für unerreichbar erklärt. Metaphysik war fortan nur noch im Subjekt selbst, in seinem Denken und in seinen Sitten, zu finden.

Beide Denkrichtungen tragen nach Hegel also die Züge einer Totalität. Man darf ihm hier eine prophetische Gabe bescheinigen, denn genau dieser Begriff taucht 150 Jahre später wieder auf bei einem Philosophen, der sich damit gegen das Denken der Neuzeit stellt und der Sache nach die Vernichtung der Absolutheit proklamiert, die der deutsche Philosoph erhofft: E. Lévinas (1906 – 1995) wendet sich gegen ein Denken, das zum Ziel hat, seinen Gegenstand, die Wahrheit und letztlich Gott schlechthin zu erreichen und zu erfassen. Dies laufe nämlich darauf hinaus, dass das Ich im Denken sich des Gegenstandes seines Denkens bemächtigt und durch Begreifen vereinnahmt8, den Denkenden an das Gedachte bindet9 und damit eine Totalität herstellt, die Lévinas als „Krieg“ bezeichnet10 und mit der er dasjenige meint, was vom herkömmlichen philosophischen Denken als das Sein bezeichnet wird11. Lévinas formuliert seine Gedanken nicht zuletzt unter dem (Ein-)Druck der Geschehnisse des 20. Jahrhunderts, namentlich der Menschen verachtenden Kriege und Vernichtungen. Er fordert die Hinwendung zu einem Denken, das den Vorrang und die Zentralität des Menschen philosophisch ausdrücken und absichern kann. Subjekt und Objekt der Erkenntnis sollen getrennt voneinander bleiben; es ist ein Abstand zu wahren zwischen dem Selben und dem Anderen12. Beide sind nicht in ein System einzubinden. Dennoch besteht eine Beziehung, insofern das Andere immer wieder in den Horizont des Selben einbricht und sich Geltung verschafft. Die Bewegung im Denken kehrt sich bei Lévinas also um: Sie geht nicht mehr vom denkenden Subjekt aus hin auf den Gegenstand, sondern gestaltet sich als Empfangen von etwas, das sich zuwendet; aus dem Ergreifen wird ein Ergriffen-Sein.

Die Frage nach der Wahrheit, dem Logos und der Natur

Damit steht die Philosophie und stehen die Geisteswissenschaften schlechthin an einem Scheideweg, denn es drängt sich die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit des Denkens auf. Genauer gesagt: Kann noch mehr Wahrheit erreicht werden als diejenige, die geometrisch und astronomisch festzustellen ist?

Diese Frage hat sich auch in der Lyrik in folgendem Gedicht von Novalis (eig. F. L. Freiherr von Hardenberg, 1749 – 1832) artikuliert, in dem in eindrücklicher Weise für eine Neubekehrung des Denkens über die Naturwissenschaften hinaus hin zum Logos ein plädiert wird:

„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Sind Schlüssel aller Kreaturen,

Wenn die so singen, oder küssen,

Mehr als die Tiefgelehrten wissen,

Wenn sich die Welt ins freie Leben

Und in die freie Welt wird zurück begeben,[…]

Dann fliegt vor Einem [sic!] geheimen Wort

Das ganze verkehrte Wesen fort.“13

Wenn die Vernunft darauf angewiesen sein soll, von der Wahrheit ergriffen zu werden, so liegt sie in ihrer Schwachheit offen; sie zeigte, dass sie über die Naturwissenschaften hinaus aus sich nicht zur Wahrheit fähig ist. Diesen Schluss zieht in letzter Konsequenz das Schwache Denken bis hin zum postmodernen Nihilismus14.

Lévinas und mit ihm das Dialogische Denken (auch: Personalistisches oder Neues Denken), als dessen profilierteste Vertreter F. Ebner (1882 – 1931), F. Rosenzweig (1886 – 1929) und M. Buber (1878 – 1965) sowie in jüngerer Zeit B. Casper (geb. 1936) gelten können, nimmt dazu konsequent den anderen Menschen in den Blick. Lévinas spricht vom Antlitz, das in die Welt des Subjekts einbricht und diese Frage stellt. Über das Antlitz des Anderen erschließt sich das Unendliche, aber es läuft nicht in eine Totalität hinein, sondern geht über eine adäquate Idee hinaus und lässt sich nicht integrieren15. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass der Umbruch des Denkens letztlich ethisch motiviert ist. Vom ethischen Ansatzpunkt aus wird die Lehre vom Sein völlig neu geordnet: Das Verhältnis zum Anderen, bisher in der Ontologie vergessen, wird als „Exteriorität“ bezeichnet und radikal metaphysisch verstanden16. Die Begegnung mit dem Antlitz ist der konkrete Punkt, an dem das Unendliche, die Beziehung zu Gott, dem Subjekt zukommt17 und es neu aus einem „Dialog der Liebe“18 hervortreten lässt.

Dadurch erhält die Frage nach der Wahrheit eine neue Antwort. Ihre herkömmliche Bezeichnung als Adaequatio intellectus et rei19 genügt nicht mehr; Wahrheit wird herausgenommen aus dem Leistungsfeld des Subjekts und seines Intellekts allein, vielmehr ethisch gewendet und mit der Gerechtigkeit und der Freiheit verknüpft20. Wahrheit verschafft sich Geltung in dem Einbrechen des Anderen, und die Erkenntnis ihrer geht aus der Selbstkritik hervor21. Aus der Exteriorität schickt sich eine Freiheit zu, die nach Lévinas eine universale Ordnung reflektiert22 und in der Begegnung mit einem anderen Menschen, mit dem Dritten, zum Durchbruch kommt. Dem Anderen kommt zu guter Letzt ein ontologischer Status für das Subjekt zu. Dieser realisiert sich im Dialog.

All das wirft einige Fragen auf. Die erste: Tritt in der Logik dieses Denkens also der Dia-Logos an die Stelle des Logos, oder wird er ihm übergeordnet? Der Logos bezeichnet philosophisch das Verhältnis, das Ineinandergehen von Wahrheit und Vernunft. Kann davon noch die Rede sein, wenn Vernunft und Wahrheit als philosophische Prozesse, als Bewegungen gesehen werden, die der Erfüllung und der Sinngebung aus dem Einbruch des Anderen, gar des Jenseitigen, bedürfen? Mit anderen Worten: Wird der Logos dann nicht mehr innerhalb der Philosophie gesucht, sondern ist er ihr fremd?

Des Weiteren stellt sich die Frage nach der Natur. Ihre Ordnung war in Mittelalter und Scholastik das alles Bestimmende. Galilei hatte sich ausdrücklich auf sie bezogen. In der Neuzeit war man hingegen von der Idee einer objektiv geordneten Natur abgekommen: Der Subjektivismus Descartes’ unterwarf sie dem methodischen Zweifel, Kant entrückte sie gar der menschlichen Erkenntnismöglichkeit. Das Neue Denken erkennt sie an, weist ihr aber eine der Person untergeordnete Rolle zu. Lévinas kennt Natur jeweils in Abhängigkeit vom Einbrechen des Anderen in den eigenen Horizont. In jüngerer Zeit hat sich vor allem in den praktischen Disziplinen wie z. B. der Pädagogik immer mehr die Erkenntnis wieder Bahn gebrochen, das es um das Subjekt herum etwas gibt, das es nicht selbst gemacht hat23. Allein schon diese Feststellung provoziert zu einer Beschäftigung mit etwas Vorgegebenen, was nicht in Abhängigkeit vom Subjekt selbst gesehen werden kann. Die Natur rückt auf empirischem Wege wieder neu ins Gesichtsfeld und fordert den Philosophen neu heraus.

Zu dieser Herausforderung gehört es auch, die Felder von Naturwissenschaft und Philosophie kritisch auseinander zu halten. Beide können sich auf denselben Gegenstand beziehen: Beider Materialobjekt ist die Welt mit all dem, was in ihr wahrnehmbar ist, insbesondere dem Denken und Verhalten der Menschen. Die jeweilige Herangehensweise, das Formalobjekt hingegen, ist unterschiedlich: Die Naturwissenschaft beobachtet, was sich ihr bietet, und geht ihm gleichsam auf den Grund. Sie sucht, was hinter dem Beobachteten oder Wahrgenommenen steckt, also nach allgemein gültigen Kausalitäten und mathematischen Gesetzmäßigkeiten, aus denen Schlüsse darauf gezogen werden können, was weiterhin allgemein verbindlich erwartet werden kann. Diese Schlussfolgerungen sind dann unabhängig von der Beschaffenheit des wahrnehmenden Subjekts. Die wahrgenommenen Qualitäten sind sekundäre, während die mathematischen Gesetzlichkeiten die primären Qualitäten sind, welche ausschließlich die Naturwissenschaft interessieren24. Die Philosophie hingegen tendiert auf das Ganze des Seins hin. Es ist ihr fremd, bestimmte Fragestellungen auszuschließen. So kann sie die Beschränkung der Naturwissenschaften auf die Mathematik nicht mitvollziehen25 und sich andererseits auch nicht von ihr in die Schranken weisen lassen.

Daraus leitet sich die Weite des philosophischen Rahmens ab, in dem Dialog, Begegnungen und zwischenmenschliche Beziehungen betrachtet werden. Er kann nicht etwa durch soziologische oder neurowissenschaftliche Forschungen oder Thesen26 eingeengt werden. Von vorrangigem Interesse ist es für uns dabei, Begegnungen und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten auszuleuchten, die sich für Gespräche zwischen Menschen bieten, und diese nicht nur kausal zu begründen, sondern intentional auf etwas hin zu orientieren, was als Logos bezeichnet werden darf. Wie also kann philosophisch gesehen ein Miteinander-sprechen nicht nur als Ereignis beschrieben, sondern in seinem letzten Grund aus einem Hinhören auf den Logos heraus verstanden werden, das sich also nicht nur aus psychischen, sozialen oder neuronalen Gesetzlichkeiten heraus erklärt, sondern auf ein Ziel hin orientiert?

1.1Phänomenologische Annäherung

Zur Bearbeitung dieser Fragen bietet sich ein Blick auf die Phänomenologie an. Sie bringt auf der einen Seite das Subjekt, das Ich, in seinem Denken und Erkennen, und auf der anderen Seite den Gegenstand, der sich diesem Denken und Erkennen zeigt, ihm erscheint, in einen gegenseitigen Zusammenhang, in dem sich beide im Denken und Erkennen gleichsam aufeinander zu bewegen. Auch das dem Ich begegnende andere Subjekt wird in diesen Zusammenhang einbezogen. Und dieser Zusammenhang wird in einer so radikalen und objektiv abstrahierenden Weise ergründet, dass kaum eine einschlägige Publikation zum Thema ohne einen Bezug zu dem Protagonisten der Phänomenologie, E. Husserl (1859 – 1938), auskommt27. E. Stein (1891 – 1942) ist sogar davon überzeugt, dass

 

„die phänomenologische Methode, wie sie E. Husserl ausgebildet […] hat, […] von den großen Philosophen aller Zeiten bereits angewendet wurde, wenn auch nicht ausschließlich und nicht mit reflektiver Klarheit über das eigene Verfahren.“28

Für die Dialogphilosophie des Neuen Denkens kommt der Phänomenologie grundlegende Bedeutung zu29, denn sie radikalisiert einerseits die Hinwendung zum Subjekt, andererseits thematisiert sie in ebenso radikaler Weise das Verhältnis zum Anderen. Dabei verharrt sie nicht beim erkennenden Subjekt, sondern rückt auch wieder das in den Blick, was die Scholastik unter Natur subsumiert, die Neuzeit hingegen anscheinend aufgegeben hatte. Eindringlich wird dies deutlich an Husserls programmatischer Aufforderung: „Zu den Sachen selbst!“30. In dem „Zu“ dieses Mottos tritt die Bewegung des Denkens vom Subjekt zum Objekt hervor; sie bleibt indessen nicht eingesperrt in den Horizont des subjektiven Denkens, sondern ihr wird in den „Sachen selbst“ eine Richtung vorgegeben, die zu einer objektiven, also (in welcher Weise auch immer) vom Gegenstand her kommenden Verbindlichkeit über das Subjekt hinaus weist. Die Dinge selbst erscheinen, sie geben sich und werden vernehmbar und verstehbar. So schafft die Phänomenologie die Grundlagen für die komplexe Untersuchung von Erfahrung und Erkenntnis und öffnet dadurch Perspektiven für die gesamte Philosophie31. Es tun sich damit Raum und Struktur auf, in der sich objektiv Wahrheit zur Geltung bringen kann32 – die Wahrheit des Logos.

Der phänomenologische Ansatz richtet das Augenmerk darauf, wie sich dem Subjekt ein Gegenstand der Erkenntnis anbietet. Der Erkenntnisgegenstand wird zum Erscheinenden, zum Phänomen. Damit wird begrifflich an die Erkenntnislehre Kants angeknüpft. Der Königsberger Philosoph hatte behauptet, man könne nicht die Dinge an sich erkennen, sondern nur die Art, wie sie sich zeigen: als Erscheinungen, Phänomene. Ihre Einordnung und Definition erfolgen in den Kategorien der menschlichen Vernunft, die diese je schon a priori bereithält. Im Noumenon, der verstandesmäßigen Einordnung des Phänomens, sind damit die Möglichkeiten der Erkenntnis ausgeschöpft.

Husserl setzt dieses Denken begrifflich fort und überwindet es. Seine Absicht ist es, einen Weg aufzuzeigen, auf dem es möglich ist, gegen Kant doch „zu den Sachen selbst“ zu gelangen – nicht im metaphysischen Verständnis, sondern gnoseologisch. Das bedeutet: Im Vorgang des Erkennens soll die Sache selbst gefunden werden. Die Untersuchung richtet sich daher nicht auf den Gegenstand als solchen, sondern es muss darum gehen herauszufinden, wie seine Präsentation im Bewusstsein vor sich geht, wie – und nicht: als was – er erscheint. Eine Erscheinung in diesem Sinne ist deshalb einerseits unabhängig vom Ich und von aller dinglichen Welt33. Andererseits benötigt jedes Erscheinen und damit jedes Seiende als zwei Pole den Gegenstand und das Bewusstsein und kann als eine Art Struktur verstanden werden, die einen konkreten Gegenstand in das Bewusstsein des Subjekts hinein trägt. Was auch immer erscheint, hat sich unabhängig von seiner eigenen Qualität vor dem Bewusstsein auszuweisen, unabhängig davon, welchem konkreten Ich dieses Bewusstsein gehört34.

Um diese Struktur in ihrer objektiven Gültigkeit zu erreichen, entwickelt Husserl, von der Mathematik her kommend35, eine Methode, die ein Charakteristikum seiner Philosophie werden sollte: Es ist die Epoché, die Einklammerung. Dabei wird all das von der Betrachtung ausgenommen, was bezweifelt oder naturwissenschaftlich thetisch ausgedrückt werden kann und damit nicht streng zum reinen Vorgang des Bewusstseinaktes gehört36. Darunter fallen alle Eigenschaften und sonstigen Gegebenheiten des Gegenstandes der Betrachtung auf der einen und des betrachtenden Subjekts, d. h. des konkreten Ich, auf der anderen Seite.

Husserl spricht dabei von „phänomenologischer Reduktion“37. Er beschreibt diesen Zusammenhang (wahrscheinlich im Jahre 1921) so:

„Ich urteile in der phänomenologischen Reduktion nicht über die Natur, über das identische Objektive, das mir in Erfahrung gegeben ist, sondern über die Erfahrung und ihre Zusammenhänge und das reine Bewusstsein überhaupt.“38

Dabei stellt Husserl incidenter klar, dass er die Natur als objektiv vorgegebene und gleich bleibende Wirklichkeit – er bezeichnet sie einmal als „im modernen Sinn ein Abstraktionsprodukt“39 – nicht ablehnt und auch nicht in Zweifel zieht. Das unterscheidet seine Vorgehensweise von dem methodischen Zweifel des Descartes. Husserl enthält sich vielmehr jeglichen Urteils über sie, er blendet sie aus40, indem er von der natürlichen zur phänomenologischen Einstellung übergeht:

„In der natürlichen Einstellung vollziehen wir schlechthin all die Akte, durch welche die Welt für uns da ist. Wir leben naiv im Wahrnehmen und Erfahren, in diesen thetischen Akten […] Naturwissenschaft treibend, v o l l z i e h e n wir erfahrungslogisch geordnete Denkakte […] In der phänomenologischen Einstellung u n t e r b i n d e n wir in prinzipieller Allgemeinheit den Vollzug aller solcher kogitativen Thesen […].“41

Der Phänomenologe ändert also in fundamentaler Weise seine Haltung allem gegenüber, was ihm in der Wahrnehmung begegnet42. Gegenstand der phänomenologischen Untersuchung ist die Erfahrung, jedoch nicht verstanden als konkretes Ergebnis in Form eines erfahrenen Gegenstandes, sondern als Prozess des Erfahrens der Welt, den das Ich vollzieht, der also im Subjekt selbst stattfindet.

„Der Erfahrungsbegriff ist hier sicherlich ein anderer als derjenige, in dem in Geltungszusammenhängen von Begründung der Erkenntnis durch Erfahrung die Rede ist, wo Erfahrung ein Titel ist für theoretisch begründende, theoretischen Akten eine Rechtsunterlage gebende Akte (Ichakte wahrnehmenden Erfassens daseiender Gegenstände oder wiedererinnernden Erfassens etc.).“43 Es geht dabei vielmehr um die Typik der Apperzeptionen, den auf Vorgegebenheiten aufbauenden Vorgang von Affektionen und Aktionen, die sich immer neu bildet und „für jeden eine andere ist“44.

1.1.1Phänomenologie der Intersubjektivität als Wegweiser zum Dialog

In der phänomenologischen Betrachtung gelangt das Ich, vermittelt durch die reine Struktur seiner Erlebnisse, zu sich selbst, zur Welt und zum Anderen.

1.1.1.1Die Intentionalität und die phänomenologische Konstitution der Welt

Die Welt und das Ich bilden einen Zusammenhang, der mit dem Begriff der Intentionalität beschrieben wird. Er äußert sich erstens darin, dass Bewusstsein immer „Bewusstsein von etwas“45 ist. Darin wird die zweipolige Struktur der Intentionalität anschaulich, in der sich das Bewusstsein und damit das Subjekt, das Ego, in seinem Erkennen (Noesis) mit dem Gegenstand der Erkenntnis (Noema) verbindet. Die Akte, in denen sich Intentionalität realisiert, die auf der beschriebenen Struktur dahinströmen, nennt Husserl „Erlebnisse“. In ihnen zeigt sich die Struktur, in der sich dem Ich die dingliche Welt in den Phänomenen erschließt; das Erlebnis erweist sich damit als Gabe46.

Der Schwerpunkt im husserlschen Denken liegt damit nicht so sehr auf einer Neuentdeckung des Ich als solchen, sondern darin, dass der Ausgang beim Erlebnis selbst gesucht wird, und vor allem dass dieses in seiner intentionalen Verortung aus zwei Komponenten besteht, nämlich einer „noetisch“ oder „intentional“ und einer „hyletisch“ oder „material“ genannten47. Zweitens äußert die Intentionalität sich darin, dass Gegenstände in ihrem Erscheinen sich im Bewusstsein konstituieren. Es geht also in der Phänomenologie als Lehre vom Erscheinen nicht nur um Erkenntnislehre, sondern um die Lehre vom Sein selbst: „Wieviel Schein, so viel Sein“48. Bloßes Erkennen würde nach seinem Gegenstand greifen. Diese Haltung der Bemächtigung im Denken ist bereits im Zusammenhang mit dem Umbruch des Denkens verworfen worden. Es ist vielmehr umgekehrt: In seinem Erscheinen greift der Gegenstand selbst nach dem Bewusstsein, vor dem er sich ausweist49, dem er sich gibt und in dem er sich konstituiert. Das Erfahrene lässt also das Ego nicht unberührt, sondern bezieht es ein. Das bedeutet: Die zu erkennende Welt ist nicht ein gegenüber stehendes Außen, sondern gibt sich dem Ich hin und wird erst dadurch als Welt für mich eingeholt50. Die gesamte Welt konstituiert sich also im Bewusstsein in dem Sinne, dass jeder erscheinende Gegenstand