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„In meiner geistigen Eigenheit bin ich aber doch identischer Ichpol meiner mannigfaltigen ‚reinen’ Erlebnisse, derjenigen meiner passiven und aktiven Intentionalität, und aller von daher gestifteten und zu stiftenden Habitualitäten.“137

In diesem summarischen Überblick lässt sich eine große Ähnlichkeit in der Grundstruktur der phänomenologischen Betrachtung des Ich in seinem leiblichen Konstituieren von Welt nachzeichnen: Beide Autoren erkennen eine dialektische Spannung in der Tiefe des Ich, die dieses gleichzeitig zu sich selbst und über sich hinaus führt. Das Ich kommt im tiefsten Grund seiner selbst zum Ur-Ich, zum absoluten Bewusstsein (Husserl) oder zur Erscheinung des absoluten Lebens (Henry). Von dieser Systole her erschließt sich nun die diastolische Bewegung. Husserl und Henry beschreiben also die gleiche Struktur von Systole und Diastole, wenn auch infolge ihrer unterschiedlichen Grundanliegen in den Denkansätzen unterschiedlich. Für Husserl geht es in der Phänomenologie um die Darlegung einer Prima philosophia. Damit verbleibt sie in den religiös neutralen Begriffsfeldern rund um das Ich, das Erscheinen, das Erlebnis, den Leib, das Leben usw.; Henry hingegen möchte die Phänomenologie in den Dienst des Verständnisses der Offenbarung in Jesus Christus stellen und legt sich mit seinen Überlegungen zu einer Phänomenologie des Fleisches ein denkerisches und begriffliches Instrumentarium zurecht, das zur Darlegung der johanneischen Inkarnationstheologie des Fleisch gewordenen Wortes (Joh 1, 14) dient138. Dabei versteht sich Henrys Phänomenologie nicht ausschließlich christlich, sondern erhebt den Anspruch, allgemeine philosophische Grundlage zu sein. Trotz der Anlehnung an die johanneische Theologie zeigt sie daher bereits die Richtung, in der das Religiöse schlechthin „in die Mitte menschlicher Existenz“ zurückkehren139 kann. Es zeigt sich hier also eine inkarnatorische Logik, die schon im Denken Husserls grundsätzlich erschlossen wurde. Der Kristallisationspunkt für die Phänomene ist für Husserl der Leib, für Henry das Fleisch. In der lebenden Leiblichkeit (Husserl) des Fleisches (Henry) begegnet das Ich in der dialektischen Spannung von Systole und Diastole sich selbst, der Welt und dem Anderen.

1.1.1.4Die Erfahrung der Welt und die Intersubjektivität aus dem Ich heraus

Im tiefsten geheimnisvollen Abgrund, der im Ur-Ich liegt, am Beginn des transzendentalen Leitfadens, fallen die Konstitution des Ich und die Konstitution der Welt und damit nunmehr auch des Anderen als Nicht-Ich zusammen; beides ist in unaufhebbarer Spannung apodiktisch und universal vorgegeben:

„Hier ist eine apodiktische Universalstruktur vorgezeichnet – in meinem ego, in jedem ego überhaupt –, eine egologische Intersubjektivität als in jedem ego in seiner eigenen Struktur vorgezeichnet.“140

Die apodiktische Struktur, die dem Ich vorgezeichnet, also von ihm verschieden und ihm unverfügbar gegeben ist, führt das Ich nicht nur zu seinem eigenen Geheimnis, zu dem also, was es nicht benennen kann, von dem her es nämlich ergriffen ist, sondern das Ich verweist gleichermaßen über sich selbst hinaus hin auf das andere Subjekt141. Es gibt eine egologische Intersubjektivität, die schon dem Ur-Ich eigen ist.

Die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit, das eigene Leben des Ich, lässt den Anderen erkennen. Die Erkenntnis des Anderen entspringt dem Ur-Ich, in dem der Andere schon angelegt ist:

„Die Anderen sind in mir, in meinem in sich geschlossenen transzendentalen Leben in bestimmter Motivation erwachsene Geltungsgebilde, habituell mir eigener Erwerb, wieder identifizierbar, durch erneuerte Erfahrung synthetisch bewährbar. Und so sehe ich und sage ich: Sie sind in Wahrheit und gemäß dem in mir konstituierten Sinn ‚meinesgleichen’, mit ihrem transzendentalen Leben, das ich durch die Selbstvergegenwärtigungsart (in mir motivierter) Fremdappräsentation analogisch erfahre, in einer Art, die es mir ermöglicht, in meinem ausgebildeten Vermögen, dem Selbst des Anderen immer näher zu kommen, von ihm immer vollkommener Kenntnis und Erkenntnis zu gewinnen – immer in Form von Modis [sic!] der Selbstvergegenwärtigung.“142

Von hier aus erschließt sich die Bedeutung des anderen Menschen für das denkende Subjekt. Wenn der Denkende in den Akten des Bewusstseins die Welt im Wege der phänomenologischen Reduktionen gleichsam in sich hinein holt und in sich konstituiert, dann ist auch der Andere als Teil dieser Welt demselben Prozess der Erkenntnis unterworfen und hat damit für das Ich eine wechselseitig konstitutive Bedeutung. Die Subjekte stehen somit nicht bloß nebeneinander, sondern sind über die Intentionalität miteinander verbunden. Die jeweils eigene Intentionalität bezieht zum einen das Ich auf den Anderen, insofern dieser für das Ich erscheint. Darüber hinaus wird der Andere als Wahrnehmender wahrgenommen, dem die Wirklichkeit erscheint. Es konstituiert sich eine Intersubjektivität, deren Phänomenologie Husserl ausführliche Untersuchungen143 widmet. Wir wollen diese in dem für unseren Darstellungszusammenhang erforderlichen Rahmen kurz nachzeichnen144.

Das Erscheinen des Anderen als Teil des Welterscheinens

Zu der Welt, die im Bewusstsein konstituiert wird, gehört auch der andere Mensch145. Phänomenologisch wird er als Körper scheinbar mit Gegenständen gleich gestellt und als Ding angesehen146. Die von Husserl so genannte Apperzeption führt über die Wahrnehmung des Anderen als Körper hinaus. Die Apperzeption fügt dem sinnlich Wahrgenommenen hinzu, was für die Konstitution des Gegenstandes bedeutsam ist. So werden z. B. von einem Haus meist höchstens zwei Wände und Dachflächen wahrgenommen. Die ihm wesentlichen weiteren Bestandteile hingegen werden apperzipiert, also mit wahrgenommen – nicht in sinnlicher Weise, aber doch so, dass die die vollständige Konstitution als Haus im Bewusstsein möglich ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Menschen: Er wird wahrgenommen als Körper, zugleich aber wird mit ihm sowohl apperzipiert, was ihn zum Menschen, zum Leib-Körper macht, als auch alles andere, was ihn als Mensch im Bewusstsein erscheinen lässt.

Die Notwendigkeit des Anderen zur Konstitution objektiver Wirklichkeit

Der Andere tritt nicht nur als Gegenstand in der Welt auf, sondern als ein Bewusst-sein, das genauso intentional vorgeht wie das Ego. Diese Erkenntnis ist nicht metaphysisch vorgegeben, sondern aus der phänomenologischen Reduktion selbst hergeleitet. So vermeidet Husserl den Rückfall in metaphysische oder ontologische Denkstrukturen147. Ebenso grenzt er die phänomenologische Ebene von der psychologischen ab: Während man auf der psychologischen Ebene im Solipsismus endet, ist dieser auf der phänomenologischen transzendentalen Ebene überwunden148. Die Brücke zum Anderen ergibt sich aus der phänomenologischen Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis: Insofern das Ego sich transzendental reduziert, muss objektive Erkenntnis das Erscheinen der Welt für jedes beliebige (d. h. auch das andere) Ego sein. Objektive Erkenntnis setzt also eine Vielzahl von Egos voraus. Dies gilt unabhängig davon, ob das Ego als das konkret erlebende Subjekt alleine ist (etwa nach einer „universalen Pest“149) oder nicht. Husserl denkt also auch im Hinblick auf die Intersubjektivität konsequent und transzendental egologisch. Die phänomenologische und die transzendentale Reduktion, die Epoché all dessen, was angezweifelt werden kann, bewirken gleichsam einen Sog allen Wahrnehmens und Erkennens in das Innerste des erkennenden Subjekts – des Meditierenden, wie Husserl im Rahmen der Cartesianischen Meditationen sagt – hinein. Allein im Inneren wird alle Wirklichkeit konstituiert einschließlich des Anderen, und zwar als Nicht-Ich im Gegensatz zum Ich150. Der Leitfaden des transzendentalen Ego beinhaltet bereits alles, was zur Konstitution auch des Anderen notwendig ist, weil

„eine reduzierte Welt als immanente Transzendenz zur Ausweisung kommt. Es ist in der Ordnung der Konstitution einer ichfremden, einer meinem konkret-eigenen Ich äußeren […] Welt die an sich erste, die ‚primordiale’ Transzendenz (oder ‚Welt’), die unerachtet ihrer Idealität als synthetische Einheit eines unendlichen Systems meiner Potentialitäten noch ein Bestimmungsstück meines eigenen konkreten Seins als Ego ist.“151

Die Wahrnehmung des Anderen und dessen Reduzierung führen also dazu, dass dieser vom Ich in allen möglichen Varianten und durch sie hindurch wahrgenommen werden kann. Wie jedes real Erfahrene, wird auch der Andere zum Index einer Mannigfaltigkeit, die nie auszuschöpfen ist und die in ihrer Bandbreite nie in eigene originäre Wahrnehmungen übergehen kann152. Diese Mannigfaltigkeit realisiert sich immer wieder neu in Erfüllungszusammenhängen, die sich als „mögliche Erfahrungen“ durch verschiedene Motivationslagen darbieten153. Damit ist eine Offenheit des Ich für alles, was nicht Ich ist, bereits in ihm selbst als Potenzial angelegt und wird aktuell, sobald der Andere in das Gesichtsfeld der Erfahrung rückt.

Diese Mannigfaltigkeit leitet hin zu einem Verständnis des Fremden, das ihn zum einen vom Ich abgrenzt, zum anderen von großer Bedeutung für dessen eigenes Selbstverständnis ist. Dieser Zusammenhang ist im Anschluss an E. Husserl insbesondere von B. Waldenfels vertieft worden. Waldenfels hat aus den Wurzeln der Phänomenologie Husserls eine „Phänomenologie des Fremden“ entwickelt154. Dabei wird das Fremde nicht als ein Spezialthema behandelt, das von der mehr oder weniger sicheren eigenen Position aus beobachtet und behandelt wird, zu der man in ursprünglicher Vertrautheit wieder zurückkehrt und vielleicht neue oder tiefere Erkenntnisse gewonnen hat. Sondern das Fremde wird vielmehr als etwas gesehen, das sich unmittelbarer auf die eigene Erfahrung auswirkt, indem es eindringt, in Frage stellt, entfremdet und sich gerade im Entziehen als Fremdes zeigt.

 

Der Mensch stellt sich als Grenzwesen und das Fremde als „Grenzphänomen par excellence“155 dar, insofern es von andersher kommt. Es sprengt oder mindestens verwandelt eine etwa bestehende Ordnung, und das immer wieder. Dabei entstehen Ordnungen gerade durch Abgrenzung: Durch Definition wird festgelegt, was etwas ist und was nicht. An den Grenzen entsteht immer wieder Unruhe. Im Gegensatz dazu steht die Ordnung schlechthin, der grenzenlose Kosmos, der alle Ordnungen umfasst und sie auf welche Weise auch immer untereinander in Beziehung setzt („Beziehungsgefüge“156). Geltung verschafft sich dieser Kosmos in seiner Grenzenlosigkeit an einem Ort innerhalb des Ganzen, an dem er sich selbst enthüllt. Dieser Ort ist klassischerweise die Seele als – nach Aristoteles und dann Thomas von Aquin – „quodammodo omnia“157. Das Denken versucht, sich dieser Grenzenlosigkeit anzugleichen, schafft es aber nicht, da sich überall „Randfiguren“ finden, „die in ihrer Anomalität die Normalität verunsichern“158. Die Zeit, in der man davon ausging, es gebe einen Ort, von dem aus sich das Ganze entfalte, und zwar ohne Bruch, einen Ort also, der im vorgegebenen Ganzen entschwindet, sei mit der Moderne zu Ende gegangen. Subjektivität und Rationalität, so Waldenfels, lassen jede Ordnung als kontingent erscheinen159. Damit ist die Reduzierung des Selbst auf ein Selbiges hinfällig, weil allein in sich noch keine Grenzziehung möglich ist. Ein Selbst, ein „Eigenes entsteht, indem sich ihm etwas entzieht, und das, was sich entzieht, ist genau das, was wir als fremd und fremdartig erfahren“160. Fremdes charakterisiert sich also nicht durch die Vermittlung eines Dritten bzw. durch einen drittseitigen Standpunkt, der anhand von Kriterien die Unterscheidung trifft. Waldenfels führt als Beispiel Holz und Beton an. Diese sind verschieden, werden aber nicht als fremd betrachtet. Fremdheit kommt zur Verschiedenheit hinzu, aber in einer nicht dialektisch zu vermittelnden Diastase. Daher ist sorgfältig das Begriffspaar Fremd-Eigen von Selbem-Anderen zu unterscheiden. Auch eine radikale Besinnung auf das Selbst darf nicht die Unruhe ausblenden, die in dieser Selbstbesinnung präsent bleibt. So wie jede Ordnung „ihren blinden Fleck in der Gestalt eines Ungeordneten“ hat, so trägt auch jedes Eigene den Einfallspunkt eines Fremden in sich. In beiden Fällen ist dies kein Defizit161.

Die Erfahrung des Anderen als alter Ego und die Selbsttranszendenz des Ich

Damit zeigt sich, dass auch der Andere im Subjekt und seinen Potentialitäten bereits angelegt ist; der bereits erwähnte Zusammenhang von Systole und Diastole, der sich in der bereits skizzierten husserlschen Monadenlehre zeigt, erweist gerade im Bereich der Intersubjektivität, die Husserl als Teil der Konstitution der Welt versteht, den gesamten Umfang seiner Bedeutung.

Husserl spricht gar von „Paarung“162. Vom eigenen Ich aus, d. h. vom Standpunkt der Monade, die das Ich selbst ist, wird der Andere wahrgenommen als eine ebensolche Monade. Das bedeutet aber nicht, dass der Andere als Kopie des Ich selbst wahrgenommen wird. Die phänomenologische Epoché gestattet dies nicht, weil sie ja gerade die Eigenheiten des Ich, die es erlauben würden, es mit einem anderen Ich zu vergleichen, ausklammert. Vielmehr ist die Wahrnehmung des Anderen als alter Ego phänomenologisch geprägt durch appräsentierte Wahrnehmung. Die andere Monade konstituiert sich appräsentativ in der eigenen163. Das bedeutet: Zusammen mit dem, wie der Andere als Nicht-Ich, das zur Welt gehört, erscheint, erscheint gleichzeitig seine eigene Intentionalität, die mir entzogen ist und über die ich nicht verfügen kann und die daher nie ganz und erfüllend wahrgenommen werden kann164. „Wir finden bei genauer Analyse wesensmäßig dabei vorliegend ein intentionales Übergreifen“165 und damit eine Selbsttranszendenz des Ich auf das alter Ego hin. Hier erweist sich die volle intersubjektive Tragweite der oben bereits skizzierte husserlschen Monadenlehre in Abgrenzung zu derjenigen Leibniz’.

Die transzendentale Reduktion auf das primordiale Ich lässt also eine Monade hervortreten, die zum einen der anderen Monade bedarf und zum anderen sich selbst auf die andere Monade hin entwirft. Gleichzeitig aber überschreitet sie sich selbst und gibt sich in ein Unverfügbares und nie an sich vollständig Wahrnehmbares hinein. Dieser Gedanke kann in letzter Konsequenz nur auf der tiefsten intentionalen Schicht vollzogen werden, wo also nichts mehr, was das konkrete Ich ausmacht, in Betracht kommt. Auf dieser tiefsten intentionalen Struktur ist vom Ich das andere Ich notwendig mitgesetzt, „auch wenn alle fremde Leiblichkeit fortfiele und ich zum solus ipse würde.“166 Damit ist auf der anderen Seite mit größter Deutlichkeit festgestellt, dass das andere Ich nie an sich wahrgenommen wird, sondern immer nur appräsentiert, d. h. durch „Vergegenwärtigung hindurch erfolgende Mitsetzung einer Ichgegenwart, die nicht die meine ist“167, aber in meiner tiefen intentionalen Struktur bereits beschlossen liegt.

Indem Husserl die leibnizschen Monaden mit Fenstern versehen hat, hat er sie auf die Welt und insbesondere den Anderen hin geöffnet. Henry tut ähnliches und betrachtet den Punkt, an dem das Ich im Tiefsten auf Gott und damit auch den Nächsten hin offen ist, weil

„das Verhältnis zwischen den transzendentalen Sich [sic!] und dem absoluten Leben die religiöse Verbindung (religio) voraussetzt. Nicht so, als würde jedes von ihnen als Träger dieser Verbindung sein Verhältnis zum anderen erzeugen, sondern … weil es von dieser Verbindung her sein eigenes Sich besitzt sowie damit zugleich die Möglichkeit, sich auf den anderen zu beziehen.“168

In der Selbsterscheinung des Absoluten Lebens „in seiner ursprünglichen Ipseität […] entsteht und bildet sich in einer ursprünglich phänomenologischen Möglichkeit jede denkbare Gemeinschaft.“169

Aus diesem innersten Punkt heraus manifestiert sich – Henry spricht gar von „zeugen“170 – das Erscheinen des absoluten Lebens im Erscheinen von Welt. Gerade aus der Selbsterscheinung des absoluten Lebens in jedem einzelnen ergibt sich für ihn eine zwingende soziale Dimension, da „das in jeder Gemeinschaft Gemeinsame das Leben ist“171. Damit erhält das Ich, das als in letzter Instanz konstituierendes der Anonymität preisgegeben werden müsste172, seine Bestimmung im Zusammenspiel mit dem Anderen. Die zwischenmenschliche Beziehung ist deswegen nicht irgendeine Möglichkeit, sondern sie ist konstitutiv für das Ich selbst. Mit anderen Worten: Ohne die Beziehung zum anderen wäre das Ich nicht so, wie es ist, und zwar in ontologischer Hinsicht, nicht nur moralisch oder charakterlich.

Der Ursprung des Ich aus der Extramundanität des Ur-Ich ist auch für den Anderen bedeutsam. Denn aus ihr folgt, dass auch der Andere nicht einfach nur äußerlich vom Ich unterschieden ist, sondern in seinem eigenen Ich-Sein anders ist als das Ich, dabei aber seinerseits eine Sichtweise auf mich hat173. Beides entspricht einander: Ich begegne einem Anderen und entdecke, dass er in seiner phänomenologisch reduzierten Subjektivität genau so wenig in der Welt vorkommt wie ich und sich genau so sehr an der Welt konstituiert wie ich. Er bleibt deshalb nicht der Andere überhaupt, sondern wird Mensch174. Am Anderen wird dem Ich die eigene Wirklichkeit vor Augen geführt.

„Haben wir fremde Subjekte hereingenommen in unsere subjektive Umwelt, so haben wir dadurch eo ipso uns hinein genommen in unsere Umwelt.“175

So wird in der Hineinnahme des Anderen die Struktur deutlich, die einen Dialog, ein Gespräch miteinander zu tragen vermag.

1.1.1.5Einwände gegen den phänomenologischen Zugang zur Intersubjektivität?

Die Phänomenologie und insbesondere der in ihr sich zeigende intersubjektive Ansatz verlangen danach, den Schritt der Epoché so zu vollziehen, dass die Strukturen des Bewusstseins freigelegt werden und dass nicht mehr inhaltliche Gegenstände den Blick auf diese verstellen. Dafür legen Husserl und auch Henry Zeugnis ab. Nicht alle Denkansätze der jüngsten Zeit gehen den Weg mit, die Epoché bis in diese letzte Konsequenz durchzuführen. Insbesondere im Bereich des Ego scheinen sie entweder nicht die Notwendigkeit zu sehen oder aber nicht den Schritt zu wagen, den Leib und die Psyche radikal auszuklammern. In der Tat ist dies ein operativer Schritt im Denken, der nicht nur außergewöhnliche Herausforderungen an ein theoretisches Abstraktionsvermögen stellt, sondern sich als gegenläufig erweist zu den Erkenntnissen und Postulaten moderner Psychologie, die das Ich in seiner physio-psychischen Verfasstheit mitnichten einzuklammern gestatten, sondern es vielmehr immer mehr in den Vordergrund rücken.

Auch Husserl hatte möglicherweise damit zu ringen, die phänomenologische Ambivalenz in der Betrachtung des Leibes stets eindeutig zu berücksichtigen. Während Ich und anderes Ich phänomenologisch reduziert sind, hat der Leib eine andere Charakteristik. Er dient dem Phänomenologen als Grundlage und als Vehikel, welche(s) das phänomenologische andere Ich, d. h. dessen einzufühlende Erlebnisströme, dem Erleben des Ich zugänglich macht. Dem Leib scheint daher eine Priorität und Unabdingbarkeit gegenüber dem phänomenologischen Ich zuzukommen, die letztlich jedoch in einem gewissen Missklang zum phänomenologischen Ansatz gesehen werden könnte. Husserl ist deshalb der Vorwurf einer Aporie gemacht worden, weil er es nicht vermocht habe, sich eindeutig auf das Ich entweder als transzendentales oder als psychologisches Ego festzulegen, sondern das transzendentale nach dem Vorbild des psychologischen und damit des empirischen Ich zu konzipieren176.

In der Tat weist Husserls Werk eine große Nähe zur Psychologie auf. Das tritt in den „Phänomenologischen Untersuchungen zur Konstitution“177 deutlich zu Tage. Hier beschreibt Husserl den Zusammenhang zwischen dem Ich und der Erfahrung des Leibes als Leibkörper. Über weite Passagen178 klingen seine Ausführungen wie diejenigen eines Psychologen. Es könnte durchaus den Anschein haben, als ob die phänomenologische Reduktion des Ich an der Klippe des eigenen Leibes Schiffbruch erleidet: Denn das Ich kommt um den eigenen Leib nicht herum, und hat Schwierigkeiten, ihn selbst vollständig zu reduzieren; Husserl sieht das Problem und möchte die Reduktion179, gerät dabei aber in eine kontradiktorische Spannung, die sich an den folgenden beiden Aussagen zeigt: „Das Ich des cogito ist völlig leer an sachlichem, spezifischem Wesen, […] individuiert durch den Strom“180. Diese Feststellung völliger Leere scheint in einen Zirkelschluss zu treten mit einer anderen Aussage, nach der die Leibapperzeption „die einzige völlig originale“181 sei. Insofern die Leibapperzeption einzig original sein soll, kann sie kaum durch etwas anderes – den Erlebnisstrom – individuiert werden, weil dann diesem Individuierenden seinerseits Originalität zukommt. Der Widerspruch baut sich daran auf, dass die Apperzeption des Leibes nicht mit völliger Leere vereinbar zu sein scheint. Dieser Widerspruch wird aber aufgelöst, wenn man sowohl die Apperzeption des Leibes als auch das völlige Leer-sein monadologisch versteht. Beides muss jeglicher Ausdehnung entkleidet sein und dadurch wie ein mathematischer Punkt werden. Die Apperzeption des Leibes und das Leer-sein des Ich führen dann auf die Monade zurück, und hier liegt buchstäblich der Punkt, in dem beides zusammenfällt und sich der scheinbare Widerspruch auflöst.

In der phänomenologischen Betrachtung kann jedoch vom Ich nur mehr ein mathematischer Punkt bleiben oder, mit Leibniz gesprochen, eine Monade ohne jegliche Ausdehnung. Anderenfalls ist der Weg zur intersubjektiven Dimension der husserlschen Phänomenologie oder der Phänomenologie des Fleisches verstellt.

 

Exkurs: Phänomenologisch-intersubjektive Interpretation der Erschaffung des Menschen

Die phänomenologische Herangehensweise, die dem menschlichen Miteinander eine Intersubjektivität nachweist, kann einen Beitrag zur Auslegung des biblischen Schöpfungsberichtes aus Gen 2,7-22182 leisten:

7Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. […]18Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.19Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen.20Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht.21Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch.22Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu.“

In dieser Schriftstelle können Ansatzpunkte für die einzelnen Schritte der phänomenologischen Betrachtung zur Intersubjektivität gefunden werden. Zunächst wird der Mensch als einzelner erschaffen und ist an sich auch nicht auffallend defizitär, denn er kann sogar am Schöpfungswerk des Herrn aktiv Teil haben, indem er ihm auf ausdrückliche Ermächtigung Gottes hin Namen gibt. Damit ist der Mensch in seiner Gottebenbildlichkeit konstituiert und von Gott her in die Personalität gerufen183. Phänomenologisch gesprochen zeigt sich hier der Mensch als Ich. Das Ich hat zwar einen Selbststand, dieser allerdings entspricht offenkundig noch nicht ganz dem Plan Gottes. Denn in dem göttlichen Urteil, es sei „nicht gut“ (Gen 2,18), dass der Mensch allein bleibe, wird im Lichte von Gen 1,31a ein Gegensatz zur übrigen Schöpfung deutlich, von der es heißt, sie sei „sehr gut“184. Damit zeigt sich in der Hl. Schrift die Ablehnung eines Solipsismus. Gleichwohl fährt sie fort in einer vom Ich ausgehenden Betrachtung. Dies kommt zum Ausdruck durch die Entnahme des Fleisches aus Adam. Der zweite Mensch ist damit an den ersten zurückgebunden. Das Wort von der Hilfe, die ihm entspricht, muss nicht auf das Verhältnis von Mann und Frau beschränkt bleiben und deshalb ausschließlich soziologisch oder gar patriarchalisch ausgelegt werden. Mit den phänomenologischen Grundgedanken kann darunter verstanden werden, dass der Mensch sich selbst am anderen erarbeitet, dass er erst durch die mögliche Beziehung mit ihm den vollen Sinn seines Daseins ausschöpfen kann185. Es tritt dabei eine eigenartige Spannung auf: Der zweite Mensch – Eva – wird von Gott geschaffen und verdankt sich seinem Schöpfer genauso wie der erste. Und doch ist der zweite Mensch konstituiert durch den ersten. Diese Spannung zwischen Ich und dem Anderen ist also nach der Heiligen Schrift in der Schöpfung selbst verankert. Sie kann deshalb nicht aufgelöst, sondern muss austariert werden.

1.1.2Phänomenologie der Kommunikation mit dem Fremden

Die phänomenologische Intersubjektivität hat nicht den Charakter einer statischen Verhältnisbestimmung. Vielmehr wohnt ihr bereits in ihren tiefsten Grundlagen eine Dynamik inne, die die Subjekte aus ihrem jeweiligen Inneren heraus aufeinander verweist. Der Andere gehört zur Konstitution des Ich. Das bedeutet: Das eigene Erleben ist nicht vollständig, solange es nicht seine Letzterfüllung im Wahrnehmen der Erlebnisse des Anderen findet. Das Ich geht also bereits im Schritt des Erlebens über sich hinaus.

1.1.2.1Die Einfühlung als Medium der Intersubjektivität

Das Transzendieren seiner selbst kann nun in seiner phänomenologischen Charakteristik näher beschrieben werden. Husserl verwendet dafür den Begriff „Einfühlung“186. Diese, so schreibt er, „schafft die erste wahre Transzendenz“187. Sie ist das Medium188, an dem entlang die Intersubjektivität phänomenologisch erscheint. Das Ich wird nicht solipsistisch auf ein absolutes Ich zurück geführt189, sondern zur Intersubjektivität hin reduziert190. Von entscheidender Bedeutung hierbei ist die Wahrnehmung, die den anderen erfasst und auf dem Weg der Einfühlung zu ihm vordringt. Geleitet wird sie durch ein „inneres Licht“, wie E. Stein es nennt191. Das Subjekt schließt von sich aus auf andere, und zwar zunächst nicht reflektiert192. Daraus darf freilich nicht geschlossen werden, dass es sich dabei um einen unbeherrschbaren, nicht näher zu erklärenden Akt handelt, sondern dieser Akt ist rückgebunden an die Anschauung des eigenen Körpers und desjenigen des Anderen, jeweils als Leib appräsentiert. Durch die Einfühlung findet die Wahrnehmung ihre Letzterfüllung im „Wahrnehmen der Erlebnisse des Anderen“193. Das lässt sich wie folgt skizzieren:

Wie bereits dargestellt wurde, nimmt das Ich den Anderen über die Leibapperzeption als ein alter Ego wahr. Was in dieser Begegnung des Ich mit dem Anderen geschieht, ist streng phänomenologisch zu reduzieren. Es verbieten sich daher psychologische Aussagen über Eigenschaften des anderen194. Vielmehr liegt der phänomenologische Schritt darin, dass das Ich am Anderen selbst die phänomenologische Reduktion vornimmt; darin besteht die Einfühlung:

„So wie wir an eigenen Akten […] phänomenologische Reduktion üben können, so können wir solche Reduktion auch üben an den uns durch Einfühlung bewusst werdenden fremden Akten. wir können, uns hineinversetzend, gleichsam hineinlebend in ihr Aktleben, i n i h n e n Reflexion und phänomenologische Epoché üben, als wären wir sie selbst […].“195

Als Gegenstand des eigenen Erlebnisses verbleibt, dass der Andere ein eigenes Erlebnis hat. Das Ich erfährt also erstens den Anderen als eigenes Erlebnis. Gleichzeitig ist davon auch erfasst, dass der Andere das Ich als je eigenes Erlebnis erfährt. Die jeweiligen Bewegungen des Denkens mögen nicht identisch sein – der Eingefühlte erfährt anderes als der Einfühlende –, aber sie führen, phänomenologisch reduziert, jeweils auf das Gleiche zurück: Aus der Erfahrung eines Ur-Leibes durch das Ich zeigt sich ihm der Leib des Anderen. Das bedeutet: Das Ich erfährt den Anderen nicht nur im Wahrnehmen, schon gar nicht als Spiegelbild seiner selbst. Vielmehr spricht Husserl in diesem Zusammenhang von einer Struktur, die derjenigen des Erinnerns entspricht: der Vergegenwärtigung196. Diese Struktur ist weiter als die der Erfahrung, denn sie vermag Früheres gegenwärtig zu setzen, das mit dem Heutigen zunächst überhaupt nichts (mehr) zu tun hat. In dieser Vergegenwärtigung wird also der Leib des Anderen vom eigenen Leib her gesehen, aber nicht als Spiegelbild desselben (denn phänomenologisch reduziert gibt es nichts, was sich spiegeln könnte), sondern auf dem Weg der Einfühlung in den sich selbst erfahrenden Ur-Leib. Sowie sich das Ich an eigene vergangene Erlebnisse erinnert und sich diese vergegenwärtigt, so schlägt es eine Brücke zu fremden Erlebnissen und vergegenwärtigt sie sich im Medium der Einfühlung.

Daraus ergeben sich Folgen für die Wahrnehmung der Welt. Das Ich erlebt den Anderen genau wie sich selbst als Wahrnehmenden. Es wird sich nicht einreden, der Andere nehme dasselbe auf dieselbe Art und Weise wahr. Vielmehr wird es, aus dem eigenen Erleben heraus, sofort einsehen, dass der Andere anderes in anderer Weise wahrnimmt. Gleichzeitig aber weiß es in seiner Einfühlung, dass der Akt des Wahrnehmens, das Erlebnis, phänomenologisch reduziert, ein Prozess ist, der analog zum eigenen abläuft und der damit im eigenen Erlebnis in der Weise der Vergegenwärtigung begegnen kann. Diese Begegnung erfolgt gewissermaßen in Form einer Erfüllung. Indem nämlich das Ich sein eigenes Erleben des Anderen phänomenologisch reduziert und damit sich selbst ausklammert, bleibt es nicht leer, sondern schafft im selben Moment die Möglichkeit, den Raum, dass der Akt des Wahrnehmens beim Anderen als Gegenstand der phänomenologischen Erkenntnis in seinem wahren Sein, in seinem Eidos, erkannt wird und das, was der andere tatsächlich tut, damit transzendiert wird.