Oh nee, Boomer!

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Der Mann in der Andropause: Der dritte Frühling

Auf einmal scheint er mich unerwartet doch noch zu ereilen: der dritte Frühling. Den ersten (die Adoleszenz mit Anfang dreißig) und den zweiten (die Midlife-Crisis mit Anfang vierzig) habe ich mit Schrammen an längst nicht nur der eigenen Seele überstanden und glücklich hinter mir gelassen. Doch neuerdings, o Freude, o Wunder, tritt Freund Pinselchen auf einmal wieder merklich öfter in Aktion, heidewitzka, bis zu fünf Mal muss ich manche Nacht aufs Klo. Meist kommt dann aber nicht viel – wenigstens das hat noch ein bisschen was von Honeymoon-Syndrom. Dafür bin ich oft nicht fertig, wenn ich fertig bin, sondern könnte gleich noch mal. Das Nachtröpfeln ist der Orgasmus des alten Mannes.

»Too much information«, werden jetzt mal wieder die Zartbesaiteten nölen. Aber besser too much information, so lautet meine Devise, als too wenig. Wer too much information fürchtet, hat doch die letzte Neugier auf das Leben und die Welt verloren. Der ist im Grunde wie tot. Wie Sagrotan hat die Angst vor der Vergänglichkeit des Fleisches alles Sinnliche in ihnen abgetötet – solchen Leuten gilt mein ganzes Mitleid.

Dabei gibt sich mein Urologe doch so viel Mühe, es ist fantastisch: Blut, Urin und Schnickschnack, alles wird schön überprüft. Nichts ist gut, Kontrolle ist besser, denn leider bin ich genetisch meine eigene Zeitbombe. Eines Tages, so sagt der Urologe, wird die wohl hochgehen. Na, der macht mir aber Spaß, palim-palim, helau.

Der Urologe ist mir wie ein Freund. Alle anderen habe ich über die Jahre hinweg vergrämt oder schlicht vernachlässigt. Ich bin ein merkwürdiges Arschloch geworden, wie die meisten in meinem Alter. Dabei können wir doch nichts dafür, dass wir alles besser wissen und als Einzige die Dinge realistisch sehen. Auf dem Gipfel ist es einsam.

Apropos Arschloch. Hose runter, Ultraschall. Er ist gründlich und erklärt mir alles: Hier sorgt Sand in der Niere für Urlaubsgefühle, dort liegt die Prostata, dreieinhalb Zentimeter, alles in Ordnung. Über seinen spannenden Ausführungen vergesse ich fast, dass er die ja noch abtasten muss. Inside Deep Ass. Dazu lege ich mich auf die Seite, und er zieht einen Handschuh über. Und noch ein Scherz: »Erst die Arbeit, dann das Vergniegen.« Er ist Pole.

Bei der Gelegenheit fällt mir wieder ein, wie lustig ich das englische Wort für Polen finde: Poland. Haha. Poland. Hahahaha. Im Alter wird man nicht nur immer klüger, sondern auch immer witziger. In Poland gibt’s zwei Berge / und auch ein tiefes Tal / im Tal da wohnen Zwerge / die bauen ’nen Kanal. Kurz habe ich überlegt, ob ich das K in Klammern setzen soll: »(K)anal«. Ich habe dann drauf verzichtet, denn der typische Witz des Alters ist subtil. Mein Humor ist eine Rose im Oktober. Noch einmal entfaltet sich die ganze Pracht, doch der Höhepunkt kündigt zugleich den Abschied an.

Eulen nach Athen

Mal was Sinnvolles schreiben. Das ist schon lange mein heimlicher Wunsch. Wie so ein Schriftsteller mit Rollkragenpullover. Sechs Uhr morgens, Stehpult, Wasserglas. Ein Essay, das schwerblütig mit »meines Erachtens« beginnt und mit »die Geschichte wird über uns richten« endet. Statt meiner üblichen Lyrics wie »gestern an der Kasse bei Edeka hab ich voll gepupst, hihi haha – Arschloch, K/Fotze, ficken« endlich mal ein inhaltlich wie sprachlich brillantes Meinungsstück zu komponieren, das die Leserin zum Nachdenken und am Ende vielleicht sogar zum Handeln bewegt.

Denn das neue Jahrzehnt beginnt, wie das alte endete: mit Meldungen über Kriege, Katastrophen, Krankheiten und Klimawandel. Daher geht mir mein eitles Geschnatter zunehmend selbst auf die Nerven, diese notorische ZDFisierung einer geschriebenen Kleinkunst, die immer harmlos ist und niemals aneckt nach dem Motto: Kleine Geschichten aus der großen Stadt – wäre doch schön, wir hätten sie nicht aufgeschrieben.

Und so war ich zuletzt immer froh, wenn ich ausnahmsweise mal einen Auftrag für einen echten Artikel mit einem richtigen Thema bekam. Hauptsache, irgendwas mit Haltung. Aber leider entpuppt sich auch das wieder als bloße Augenwischerei: In einer linken Zeitung zu schreiben, wie doof zum Beispiel Nazis sind, bedeutet nicht nur, Eulen nach Athen zu tragen, sondern Athen mit einer springflutartigen Eulenplage zu überziehen, einer regelrechten Eulenpest, überall wimmelt es bloß so von Eulen, die Eulen fliegen den Leuten ins Gesicht, krallen sich schauerlich heulend in die Haare, keiner traut sich mehr zu Fuß auf die Straße, Autos mit geschlossenen Fenstern quälen sich durch dicke Wolken flatternder Eulen, es müssen Billionen sein, die die Sonne derart verfinstern, dass am Tag das Fernlicht eingeschaltet werden muss, links und rechts der Straße türmen sich die von den Fahrzeugen beiseite geschobenen Eulen zu immer höheren Wällen auf; Straßenreinigung, Militär und Katastrophenschutz sind völlig überfordert, längst sind sie auch schon in den Wohnungen der Menschen, kaum öffnet man den Kleiderschrank – schuhu, schuhuu! –, den Klodeckel – schuhu, schuhuu! –, im Küchenregal, im Kühlschrank, in Lebensmittelbehältern, in Lampenschirmen, in Kleidung, Frisuren, Bauchfalten, Arschritzen, Wimpern, Harnröhren, Zahnzwischenräumen sammeln sich lebende Eulen, tote Eulen, Eulenreste, Federn, Gewölle, Kehrschaufeln sind längst ausverkauft und ebenso Eulensprays, verbrennen, vergraben, ausstopfen, Zoo-Volieren, man wird der Masse einfach nicht Herr, die Akropolis sieht aus wie ein Guanofelsen im Südpazifik, übrigens sind auch die griechischen Mäuse ziemlich sauer … Was wollte ich sagen …? Genau, deshalb gibt es an dieser Stelle mal etwas zu einem ernsten Thema: Die holen bei uns nun schon seit Monaten die vollen Werkstofftonnen nicht mehr ab.

Anstelle der Eulenarie könnte man auch kürzer sagen: Man schmort im eigenen Saft. Aber kurz ist immer blöd, wegen des Zeilengelds. Also, wo war ich gerade …? Dum di dum di dum … genau: die Werkstofftonnen. Werden nicht mehr abgeholt. Alles andere schon noch regelmäßig: Restmüll, Papier und Biomüll (keine Eulen und Käserinden – das lockt Ratten an!), nur eben nicht der Plastikmüll. Soll das eine Strafe für unzulässige Durchmischung sein? Aber die wäre ja auch irgendwann mal abgebüßt.

Ich rufe bei der auf der Tonne angegebenen Nummer an, doch dort meldet sich nur der Anrufbeantworter: »Hallo! Hier ist der Anschluss von Monika, Michael und Mathilda Müllabfuhr. Wir sind leider gerade auf Tour oder in der Deponie. Sie können uns jedoch nach dem Piepton eine Nachricht hinterlassen …«

Und dann bricht es doch aus mir heraus. All die Sottisen, Kalauer und Banalitäten, die ich schon fast einen halben Tag lang zugunsten des heiligen Ernstes unterdrückt habe, sprudeln nun haltlos auf das Tonband der redlichen Müllmenschen: meine Erlebnisse mit Lehrlingen an der Supermarktkasse, Backfachverkäuferinnen, Bettlern, Balkontomaten und Fahrraddieben; Geschichten, deren grundlegende Vanität jedem Leser die Tränen der Vergeblichkeit in die Augen treiben muss. Aber ich kann einfach nicht anders.

Knastgespräche

Sonntagmittags gehen wir gewöhnlich für wenigstens ’ne Stunde raus. Wir zwingen uns dazu, in der Regel auf mein Betreiben hin. Man muss nun mal an die frische Luft. Die Leute sagen, dass man sonst ziemlich sicher stirbt. Wenn nicht gleich, dann später.

Die kürzeste Runde, also die Notroute bei schlechtem Wetter, führt von der Wohnung meiner Frau Q. aus durch den Görlitzer Park, links rum am Sportplatz vorbei, am Schlesischen Busch noch mal links rüber zur Schlesischen Straße und dort dann zurück. Eine Stunde dauert das auch nur deshalb, weil ich am Sportplatz immer zwanghaft stehen bleiben und den Amateurspielern beim Kicken zugucken muss. Ich kann nicht anders, Fußball wirkt auf mich wie ein Magnet.

Was mich zugleich fasziniert und anwidert, ist das ständige Gepöbel gegen den Schiedsrichter. Er kann es niemandem recht machen. Vielleicht macht er auch mal Fehler, doch die Spieler können ja selbst nichts. Tapsig stolpern sie über den Platz, der Ball schussert wie eine Flipperkugel mal hier- und mal dorthin. Sie sind weder fit noch talentiert oder technisch gut ausgebildet, Breitensportler eben. Aber der Schiedsrichter muss natürlich Bundesliganiveau haben. Nicht um alles in der Welt wollte ich seinen Job machen – sollen sich die undankbaren Psychopathen doch untereinander anschreien und in die Fresse hauen.

Wenn ein Tor fällt, bin ich zufrieden. Dann setzen wir unseren Weg fort. »Ächz«, sagt Q., und sie sagt wortwörtlich »ächz«, denn wir sind beide kulturell von Donald Duck und Asterix geprägt: »Ächz, verdammt, können wir jetzt vielleicht mal wieder rein?«

Sie will Serie gucken. Teechen. Sofa. Die Füße hochlegen für den Rest des Tages. Oder das scheißschwierige Rätsel im SZ-Magazin lösen. Mit mir zusammen, aber ich sitze meist nur blöd daneben. So kann sie mal wieder ihre geistige Überlegenheit beweisen. Toll, Glückwunsch, dabei ist das überhaupt nicht nötig. Ich weiß zum Glück, welche Qualitäten ich habe und welche nicht. Ich habe auch kein Problem damit, dass bei uns im Grunde fast so ein traditionelles Geschlechterverhältnis herrscht, bloß eben mit vertauschten Rollen. Sie ist eher so die Checkerin. Sie bekommt auch für einen ähnlichen Job viel mehr Geld, was allerdings tatsächlich nicht so schwer ist: Jede Laus verdient mehr als ich. Der »Loser Pay Gap« geht in der Diskussion hinter all den anderen Pay Gaps stets ein wenig unter.

Aber gut ist, dass ich als beobachtender Rätseladjutant überhaupt nichts tun muss. Ich kann ja auch nicht viel. Ich muss einfach nur schön sein. Sonst nichts. Der Mangel an Gestaltungsmöglichkeiten macht mein Leben wunderbar unkompliziert.

 

»Knurr«, sagt sie. »Jetzt ist es aber wirklich langsam genug.«

»Nur noch diesen kurzen Schlenker«, bettle ich: Schlesischer Busch und dann zurück. Also wie immer. Um die freudlose Chose spielerisch aufzulockern, stellen wir uns vor, wir wären im Knast und dürften nur einmal am Tag ’ne Stunde raus für eine Pflichtrunde an der frischen Luft. Im Grunde ist es ja auch so. Unser Dasein ein Knast, der Winter als Strafverschärfung. Der Hofgang immer im Kreis – Görli, Sportplatz, Schlesische –, über uns der schon mittags nach Weltuntergang aussehende ewig dunkelgraue Himmel. Fehlt nur noch der Maschendraht davor.

Die Atmosphäre wird komplett, als wir den Wachturm auf dem ehemaligen Mauerstreifen passieren. Um die Hofgangssituation zu simulieren, improvisieren wir Knastgespräche. Unsere schwere Jugend. Die doofen Wärter. Wie man aus altem Toastbrot Schnaps brennt. Wofür wir einsitzen.

Natürlich färben wir die Schilderungen unserer Vergehen auf eine Weise ein, die uns und unsere Taten clever, hart und irgendwie cool aussehen lassen soll. Ein gutes Standing in der Anstaltshierarchie kann überlebenswichtig sein. So musste ich einen Nazi umbringen, der meiner Schwester im Kaufladen den Wagen in die Hacken geschoben hat. Das ging nicht anders – jeder Ehrenmann hätte genauso gehandelt. Meine Frau wiederum hat im großen Stil Silberbesteck geklaut, um ein Waisenhaus in Laos zu finanzieren. Hat ihre Freiheit geopfert, um ein wenig Glanz in stumpfe Kinderaugen zu zaubern. Der Winter ist immer die härteste Zeit hier. Zum Glück werden wir beide im Frühjahr entlassen.

»Wenn ich rauskomme, werde ich als Erstes ein paar Rechnungen begleichen«, sage ich und versuche, meine Stimme rau und gefährlich klingen zu lassen. Das gehört nun mal zu dem Spiel.

»Was für Rechnungen?«

»Na ja: Strom, Gas, Miete, Mitgliedsbeitrag für AfD, ADAC und Alpenverein, so was eben«, sage ich. »Und du?«

»Goldene Löffel klauen«, sagt sie, und ihr Blick wird schwärmerisch. »Das wollte ich schon immer.«

Diesseits jeder Hoffnung

Bis vor Kurzem gab es für Alkoholismus offiziell nur eine Lösung: aufhören, und zwar komplett und für immer.

Doch das neue Zauberwort heißt »Kontrolliertes Trinken«. Im von zehntausend Konsumeinheiten zum groben Sieb perforierten Gehirn des Betroffenen bleibt von diesem Wortpaar immerhin noch »trinken« hängen. Das klingt doch gleich viel besser als die böse Nulldiät: saufend trocken werden, oder besser gesagt, halbtrocken – das ist doch wunderbar! Erzprotestanten, Guttempler, Langweiler, Miesepeter, Betschwestern, Gesundheitsapostel, Sauertöpfe, Panikmacher, Besserwisser, Krümelkacker, Askesefaschos: All diese zutiefst verhassten Protagonisten der Nüchternheit können uns gepflegt am Hobel blasen. Wer so lebt, ist doch schon gestorben.

Nun sitze ich bei Frau Dr. alk. Dipl.-Psych. Verena Parder-Wedde in Rummelsburg, neben mir noch vier weitere Kandidaten der Altersklasse 50 bis 69. Wo bin ich hier bloß gelandet? Die durch die großen Fenster hereinfallende Spätnachmittagssonne erreicht nicht ganz unseren Stuhlkreis auf dem hellen Holzlaminat. Die Leiterin gibt eine selbst gehäkelte Schnapspulle zur Vorstellungsrunde herum. Wer die »Sprechflasche« hält, darf erzählen, warum er hier ist.

Die fast weißhaarige Hilde (64) hat mit dem Trinken begonnen, nachdem ihr Mann gestorben war. Irgendwer musste dessen gigantischen Getränkevorrat ja vertilgen, wäre doch schade drum gewesen. Mein direkter Nachbar Lothar (68) hatte Pech im Lotto. Anita wiederum hat noch nie getrunken, weil sie Alkohol nicht ausstehen kann. Doch das Versprechen »Kontrolliertes Trinken« hat sie neugierig gemacht. Vielleicht, so die aparte Mittfünfzigerin, könne sie hier unter Anleitung den Alkoholgenuss erlernen, um auf Feiern nicht länger Außenseiterin zu sein. Während die anderen labern, lege ich mir meine Worte zurecht.

Es war so, der junge Arzt war neu, ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Und egal mit welchem meiner ganzen Prekariatsärzte ich die letzten dreißig Jahre über gesprochen hatte: Noch nicht mal beim Rundum-Gesundheitscheck wurde jemals auch nur eine Sekunde lang verquaste Eso-Kacke thematisiert, wie meine Lebensumstände, meine Stimmung, meine Ernährung, mein Berufs- oder Sexleben und mein Suchtverhalten. Die Blutwerte waren ja okay. Dieser übergriffige Quacksalber aber blickte mich nur einmal kurz an und sagte: »Sie müssen aufhören zu rauchen.« Ohne meine Lunge abzuhorchen, mein Atem rasselte nicht, und ich hatte ihm auch keinen blutigen Schleim auf den Schreibtisch gehustet.

Ich reagierte perplex: Wie er denn darauf käme? Er erklärte, rauchen wäre ungesund. Ach so. Das hatte ich zwar auch schon mal gehört, aber ich hatte das Geunke stets darauf zurückgeführt, dass die Tabakindustrie um ihre clevere Geschäftsidee beneidet wurde. »In Ihrem Alter«, sagte er mit einem zweiten kurzen Blick, der mir wehtat, »steckt man nicht mehr alles so weg wie eventuell gewohnt.« Er erwähnte auch noch irgendwie Cholesterin und Ernährung und so’n Scheiß, ich wollte daher schon wieder abschlaffen, als das Wort »Alkohol« fiel. Begleitet von einem dritten kurzen, doch dafür umso intensiveren Blick. Ich schwitzte. In dem Blick sah ich mein Gesicht gespiegelt, das heute Morgen so aussah wie an zu vielen anderen Morgen. Er gab mir einen Informationszettel.

Zu Hause stieß ich mit dessen Hilfe auf das Angebot »KT – Kontrolliertes Trinken. Mehr Genuss, mehr Freiheit, mehr Sicherheit.« Mit dem Slogan »Es gibt mehr als Abstinenz« wirbt der von den Krankenkassen bezuschusste Gesundheitskurs um Trunkenbolde diesseits jeder Hoffnung, die nach Schleichwegen um das leidige Aufhören herum suchen. Also um die meisten. Um mich. Noch am selben Tag buchte ich online den Kurs bei Frau Dr. Parder-Wedde.

»Das ist eine großartige Geschichte.« Parder-Wedde wendet sich an die anderen Teilnehmer: »Finden Sie nicht auch?« Sie nicken wie ferngesteuert. Solange kein Alkohol im Spiel ist, will keine rechte Stimmung aufkommen.

Und noch schlimmer wird es, als die Berufsspielverderberin lächelnd zur Disposition stellt: »Was könnte ich anstelle des Trinkens tun?« Hilfloses Schulterzucken in der Runde, Nasenbohren. Wie »anstelle des Trinkens«? Es hieß doch »kontrolliert« und nicht »anstelle«. Und für die Kontrolle hat man schließlich dieses dämlich grinsende Honigkuchenpferd da vorn bezahlt. Die blöde Sau. Die einen sind kurz vorm Ausrasten, die anderen kurz vorm Einschlafen. Wie Alkis halt so sind.

Doch zum Glück erfolgt ein rascher Themenwechsel, hin zum »gemeinsamen Erarbeiten von Wochentrinkzielen«. Sie fragt in die Runde: »Was könnten denn das für Ziele sein?« Heißa, nun sprudeln aber die Vorschläge. Wer gerade noch wie leblos in seinem Stuhl hing, schnipst nun eifrig mit den Fingern, um sich einzubringen: besoffen sein, Flasche leer, Kasten leer, hartes Erbrechen, Erarbeitung eines zweistelligen Europfandbetrags bei der Leergutannahme. Die Diplompsychologin ist begeistert von der regen Mitarbeit.

Und das Schöne ist: Wer das Pensum nicht schafft, muss dennoch nicht nachtrinken. Denn im Gegensatz zum Aufhören heißt das KT ein Scheitern ausdrücklich willkommen: »Eigene Ziele formulieren und … umsetzen, mit den Konsequenzen, Risiken, Misserfolgen und Fortschritten gelassen umgehen …«, steht bereits in der Kursbeschreibung. Wenn der Kasten nicht geschafft wird, versucht man es eben in der nächsten Woche aufs Neue oder erarbeitet sich ein anderes Ziel, das für den Anfang realistischer gesteckt erscheint. Das kann ein schwerer Kater sein oder eine nachts vom Sturz im Schlafzimmer aufgeschlagene Stirn – der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt.

Ein elementarer Teil der Methode liegt überdies darin, dass der Süchtige lernt, das vom Alkoholmissbrauch quasi ausgeleierte Belohnungszentrum zu stimulieren. Laut Leitfaden »gehören dazu effektive Tipps und Übungen, um in gute Stimmung zu kommen mit körpereigenen Drogen«. Parder-Wedde bittet um Beispiele. Die meisten nennen den Restalkohol vom Vorabend. Zusammen mit dem effektiven Tipp: Je gründlicher man da vorgetankt hat, desto besser auch die Stimmung. »Wie könnte ich mir täglich eine Freude machen?«, fasst die Chefin die Aufgabenstellung zusammen, und unsere Antwort ertönt stolz im Chor: »Kontrolliert trinken!«

Von draußen dringt Lärm durch das offene Fenster herein. Auf einer Bank im Hof lassen Saufbrüder krakeelend Pappschachteln mit Rotwein kreisen, Hunde bellen. Das muss der postpräventive Gesundheitskurs »Unkontrolliertes Trinken« (UkT) sein. Fast hätte ich ja den belegt, denn nicht zuletzt ist der umsonst, während wir nach Zuzahlung noch immer dreihundert Öcken pro Nase latzen müssen. Ein wenig neidisch blicke ich hinunter zu den fröhlich grölenden Teilnehmern. Sie wirken so unbeschwert, so frei, so anarchisch. Ich verspüre nicht übel Lust, mir nach dem Ende der heutigen Sitzung den dort entstandenen Ballast in geselliger Runde von der Seele zu spülen. Vielleicht frage ich Anita, ob sie mitkommt.

Der Mann in der Andropause: Junge Menschen

Spätestens seit Eintritt des Vorsiechenalters verstehe ich die Jugendlichen gar nicht mehr. Also alle unter 45-Jährigen. Sie sind so anders. Schon wegen Kleinigkeiten reizen sie mich zur Weißglut. Das sind dann stets die Momente, in denen ich sie gerne mal scheinheilig »um ihr Wohlergehen besorgt« anspreche: »Warum hast du eine Wollmütze auf? Es ist doch warm. Warum trägst du eine Sonnenbrille? Es ist doch dunkel. Warum fährst du mit Kopfhörern Rad? Es ist doch gefährlich.«

Ihr Gehabe nervt mich kolossal. Die ständig eingestreuten lächerlichen Englischfetzen, obwohl ihre Sprachkenntnisse einer seriösen Qualitätsprüfung oft gar nicht standhalten, srsly. Ihre Unfähigkeit, auf Mails zu antworten, geschweige denn die von mir sauber aufgelisteten Punkte nacheinander abzuhaken – immer lesen sie nur die erste Zeile, dann wird die Konzentration auch schon vom nächsten Device absorbiert. Ihre Angewohnheit, eine Nachricht mit einem schlichten »hey« ohne weitere Anrede zu beginnen und mit einem Lach-Smiley zu beenden. Das ist weder höflich noch lustig. Und was schon per se nicht lustig ist, wird es auch nicht, indem man ein Grinsezeichen dahintersetzt, word!

Im nächsten Moment könnte ich sie jedoch schon wieder knuddeln. Schließlich waren wir selbst mal jung und haben ganz verrückte Sachen gemacht. Ich hab mal einen Apfel geklaut, der über den Zaun hing. Und einmal ist ein Schneeball in der Schule an der Tafel gelandet, kaum einen Meter neben dem Lehrer. Der war zwar nicht von mir, aber was da hätte passieren können: Nicht auszudenken! Außerdem sind die Jungen heute oft so schlau und freundlich – das findet übrigens auch Zbigniew, mein Urologe: »Jun-ge Menschen«, sagt er voller Liebe und spricht das N und das G dabei wie immer getrennt aus. »Jun-ge Menschen sind so stark und so frisch wie ihr Harnstrahl.«

Er hat ja so recht. Ihre unfassbar niedliche Arglosigkeit, die sich darin manifestiert, eben nicht allem Fremden präventiv mit Ablehnung zu begegnen, rührt mich im Innersten. Sie sind oft auch echt engagiert, während ich bloß schlau labere. Und besser als meines ist ihr Englisch allemal – etwas anderes behaupte ich ja nur aus Missgunst.

Sie können überhaupt ganz viel: Komputer und Umwelt und Schmartfon und so. Und sie beschämen mich mit ihrer offenherzigen Gelassenheit mir gegenüber. So gehen sie einfach darüber hinweg, dass ich schon über dreißig Jahre vor meinem Tod täglich böser werde und das nicht zuletzt an ihnen auslebe. Als ob sie ihn nicht mitbekämen, lassen sie den passiv-aggressiven Unterton meiner Warum-Fragen einfach an ihren, mit dem Blut zahlloser Social-Media-Trolle perfekt imprägnierten, Gemütern abperlen.

Ehrlich besorgt – denn diese beißende Dauerironie, die das gesellschaftliche Klima auf dem Globus komplett zu vergiften droht, ist ihnen fremd – wenden sie sich mir zu: »Sie sind nice. Aber irgendwas nagt hölle in Ihnen. Wollen Sie nicht mal zum Doc gehen? Srsly :)«

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