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6

Sie hießen Marten und bewirtschafteten den Sophienhof, der Luftlinie kaum mehr als einen Kilometer vom Tatort entfernt lag. Er hieß Onno und seine Frau Rieke. Trevisan schätzte sie nahe siebzig. Sie waren über das erneute Erscheinen der Polizei etwas verwundert, hatten sie doch bereits den Kollegen, die am frühen Morgen bei ihnen gewesen waren, erklärt, dass sie niemanden gesehen, geschweige denn eine verdächtige Wahrnehmung gemacht hätten. Beide hätten bis acht Uhr geschlafen und seien erst durch die Polizei wach geworden. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, was auf dem Jakobshof geschehen war, und die Betroffenheit der Martens war unübersehbar. Sie baten Trevisan und seine Kollegin Lisa Bohm in ihre Stube und boten ihnen Platz an.

»Einen Tee, wenn ich fragen darf?«

Lisa schüttelte den Kopf, doch Trevisan stimmte zu, weil er genau wusste, wie man mit älteren Zeugen ins Gespräch kommen konnte und genau das hatte er vor. Denn wenn jemand etwas berichten konnte, das man bei einer Routinebefragung nicht erfuhr, dann war es meist die direkte Nachbarschaft, und das waren die Martens.

Während Rieke Marten in die Küche davoneilte, stopfte sich Onno eine Pfeife. »Das ist furchtbar, was da passiert ist«, nuschelte er. »Diese Welt wird immer grausamer.«

»Sie wohnen hier alleine?«

Er nickte, während er seine Pfeife anzündete. »Mein Sohn ist bei der Marine in Wilhelmshaven. Kommt nur alle paar Wochen. Jetzt kreuzt er mit seiner Fregatte im Mittelmeer, wegen der Flüchtlinge, kommt erst im Winter wieder.«

»Dann kümmern Sie sich alleine um den Hof?«

Der alte Mann zog an seiner Pfeife und blies den Rauch wie eine Lokomotive in die Luft. »Na, ein paar Hühner und ein paar Schweine. Kühe haben wir schon lange nicht mehr. Windräder stehen auf meinem Grund, war Peters Idee, das mit dem Windpark.«

»Und das läuft?«

»Na, bessert die schmale Rente ein wenig auf.«

Rieke Marten kehrte mit einer Kanne Tee und mehreren Tassen auf einem Tablett aus der Küche zurück. Sie nahm Onnos Streichhölzer und zündete die Kerze im Stövchen an, ehe sie die blauviolett geblümte Kanne darauf platzierte. »Das ist eine schlimme Sache mit den Habichs und auch die Dörte, das kann man gar nicht fassen.«

»Kannten Sie die Habichs näher?«

»Na, näher … näher nicht, wir sind Nachbarn. War ein komischer Kauz, der Alte«, seufzte Onno Marten. »Die kamen von drüben. Frauke kennen wir gut, war ’ne lütte Deern und spielte manchmal mit Peter, unseren Söhn. War tragisch, als Hinrich nicht mehr wiederkam. Ist auf See geblieben. War ein Unfall mit dem Kutter. Ging über Bord und ward nie mehr gesehen. Tja, was sich die See holt, dat gibt se nie mehr her.«

»Wie hat Sie ihren Mann eigentlich kennengelernt?«

»Rolf, den Habich?«, fragte Rieke und setzte sich, nachdem sie den Tee eingeschenkt hatte. »Die Lüü sagen, durch den Computer, da kann man andere Leute kennenlernen. War eine harte Zeit, das mit Hinrich. Der Hof, die Kühe und dann auch noch Dörte, das war ja auch nicht immer leicht. Hat lange gedauert, bis Frauke einen fand, der auch was vom Wirtschaften verstand.«

»Gab es in der Zeit auch andere Männer?«, fragte Trevisan.

Rieke schaute ihren Mann an, schließlich schüttelten beide den Kopf. »Nichts Ernstes«, sagte er, »einmal war da einer aus dem Süden, ich glaube, das war ein Schweizer. Drei Monate, dann hatte er die Nase voll, ist einfach weggelaufen und tauchte nie wieder auf.«

»Wie lange lebte Frauke alleine?«

»Ein paar Jahre werden es wohl gewesen sein.«

»Und dann kam Rolf Habich?«

»Ja, wurde auch Zeit. Der Hof, das hat nicht funktioniert. Sie war alleine und das Kind war keine Hilfe. Trieb sich herum, das Luder. Trug immer kurze Röcke und war grell geschminkt, wie ’ne Hafennutte.«

»Onno!«, maßregelte Rieke ihren Mann.

»Wir haben zusammen geholfen«, fuhr er fort. »Aber ging auf Dauer nicht. Ich habe ihr geraten, dass sie verkaufen soll, weg mit den Rindviechern und so, wie wir, da waren noch alle verrückt nach Baugrund für die großen Ventilatoren. Aber Frauke wollte nichts davon wissen. Sie hat weitergeschuftet und dann irgendwie Rolf kennengelernt.«

»Über das Internet.«

»Ja, wie sonst, wenn du Deerten hast, dann geiht dat nich, das du rauskannst, die wollen freten und Milch geben sie auch Tag für Tag.«

»Also war Rolf Habich eine Internet-Bekanntschaft?«

Onno nickte. »Leev war dat nich.«

»Also mehr eine Zweckheirat.«

Rieke nickte. »Von Liebe kann man nicht leben. Rolf war Bauer, früher mal bei den Russen, drüben. Er kannte sich aus mit dem Vieh und Frauke war nicht die schlechteste Partie. Nur Dörte, die war dagegen. Ist dann auch verschwunden. Auf die Inseln, arbeitete in einem Hotel. Zimmermagd und so.«

»Auf Nordeney, hörte ich. Aber jetzt war sie da.«

Onno nickte. »Kam immer mal wieder für ein paar Tage. Jetzt war sie schon zwei Wochen da. Man hört, das Hotel, in dem sie arbeitet, ist bankrott.«

»Ah … Wissen Sie, wo Dörte gearbeitet hat?«

Onno blickte seine Gattin fragend an.

»Dat hieß Seestern oder so ähnlich, hat mir Frauke mal erzählt.«

Trevisan nippte an seinem Tee. »Hatte Dörte einen Freund oder gab es mal jemanden, mit dem sie zusammen war?«

»Sie meinen … jemand, der so etwas tut?«, fragte Rieke.

»Ja, so meine ich das«, bestätigte Trevisan.

Rieke Marten schüttelte den Kopf. »Dörte war ’ne lütte Deern, als sie ihren Vater verlor. Junge Lüü sind in diesem Alter, wie soll ich sagen, steenpöttig. Deerns meist noch schlimmer als Pöökse. Sie hat sich rumgetrieben und nicht auf Frauke gehört. Frauke meinte, dass ihr Dörte beim Hof hilft, aber die dachte gar nicht daran. War wohl die Pubertät. Als Frauke dann mit Rolf zusammenkam, ist sie abgehauen, also nicht weggelaufen, das meine ich nicht. Aber sie wollte nicht zu Hause wohnen bleiben. Frauke hatte ihr nach der Schule einen Ausbildungsplatz als Altenpflegerin in Wittmund besorgt, doch da hat sie hingeschmissen. Sie meinte, das wäre nichts für sie. Die Stelle auf Norderney, da hat sie sich selbst beworben. Frauke war zuerst nicht damit einverstanden, aber schließlich meinte sie, dass Dörte ruhig versuchen sollte, auf eigenen Füßen zu stehen. Kurz nach der Heirat von Frauke ist sie ausgezogen. Anfangs kam sie selten, aber in den letzten Jahren war sie immer für ein paar Tage da. Rolf war gar nicht so schlimm, aber der Grootvadder, dat war nen olt Dodenvagel. Also ob Dörte auf Norderney jemand kennengelernt hat, das … dat weet ick nich.«

»Und Rolf Habich, was war er für ein Mensch?«

Onno zuckte mit der Schulter. »Anfangs redete er nicht viel, aber das … das änderte sich mit der Zeit, war ganz püük, der Keerl. Hat uns ab und zu geholfen, mit dem Trecker, wenn zu mähen war.«

»Kann es sein, dass er Feinde hatte?«

»Fiend?«, wiederholte Onno Marten. »Nee, dat glov ick nich. War ein angenehmer Mensch, wenn man ihn näher kannte. Sein Vater war da anders, wusste alles besser und war dauernd am Dibbern, dat passte nich, dat war mies. Ick ging em aus em Weg.«

»Ja, der Alte, dat war keen Feiner«, bestätigte Rieke.

»Frauke kannten Sie schon seit ihrer Kindheit?«

Rieke nickte. »Ja, ist da aufgewachsen und geblieben, hat immer auf dem Hof mitgearbeitet. Ihre Mutter war oft krank und gebrechlich. Frauke hat gekocht, geputzt und sich auch noch um die Tiere gekümmert. Hinrich war aus Hohenkirchen. Hat immer die Milch geholt mit seinem Laster, so kamen sie zusammen.«

»Und wie war das mit seinem Unfall?«

»Half dem alten Grotje auf dem Kutter, fuhren von Harlingersiel raus auf Krabben«, erzählte Onno. »Hat sich da was zuverdient, konnte ja gut anpacken, der Hinrich. War stürmisch an dem Tag, aber Grotje meinte, dat Schietwetter wird vorbigahn, hat sich getäuscht, der Alte. War vor Mellum am Roten Sand, een himmelhogen Duenung, kam ’ne Bülgen querab und Hinrich ging ins Fohrwater, musst versupen, de Sünner.«

»Sie haben ihn nicht mehr gefunden«, fügte Rieke hinzu. »War ein Unfall, sein Haken war lädiert und hat ihn nicht gehalten.«

»Haken?«, fragte Trevisan.

»Bei Sturm, die Sturmleine, damit man nicht über Bord geht.«

Trevisan griff erneut zur Teetasse. Während seine junge Kollegin nur nippte, nahm er einen kräftigen Schluck. »Warum ist der Skipper bei dem Sturm nicht in den Hafen zurückgekehrt?«

Onno runzelte die Stirn. »Dat ist nich einfach, bei Schietwetter in den Haven inlopen. Wollte abwettern beim Roten Sand.«

Trevisan verstand, was Onno damit meinte. Manchmal war es besser, auf der See zu bleiben, das Schiff richtig zu positionieren und den Sturm einfach abzuwarten. »Gab es damals eine Untersuchung?«

Rieke nickte. »Die Küstenwache ist gekommen, war ein Unfall, der alte Grotje konnte da nichts für. Hat aber nichts genutzt, der Gute ist drei Wochen später gestorben, Herzinfarkt.«

Trevisan stellte die Tasse ab. »Tja, ich glaube auch nicht, dass diese Geschichte etwas mit den Morden auf dem Jakobs­hof zu tun hat. Könnte es sein, dass der alte Mann, Rolf Habichs Vater, sich mit jemandem aus der Gegend überworfen hat?«

Onno lachte und schüttelte den Kopf. »Den ollen Gnadder­kopp nahm eh niemand für voll.«

»Haben Sie in den letzten Tagen jemanden beobachtet, der sich für den Jakobshof interessiert und hier herumschlich, einen fremden Wagen, einen Radfahrer oder einen Touristen?«

Onno schüttelte den Kopf. »Nee, hier war niemand, alles wie immer.«

Trevisans Teetasse war leer und Rieke wollte noch einmal nachschenken, doch er lehnte ab und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war kurz nach vier. »Tja, es wird Zeit«, sagte er zu seiner Kollegin und erhob sich. »Danke, Sie haben uns sehr geholfen.«

 

»Keine Ursache«, antwortete Rieke Marten. »Nur, müssen wir uns fürchten, dass der Bekloppte noch hier rumläuft?«

Trevisan lächelte. »Nein, das glaube ich nicht. Wir glauben, dass der Täter gezielt den Jakobshof aufsuchte. Aber trotzdem ist es ratsam, abzuschließen.«

Während Onno auf seinem Sessel sitzen blieb und genüsslich an seiner Pfeife zog, führte Rieke Marten ihre Gäste hinaus. Auf der Schwelle zum Flur wandte Trevisan sich noch einmal um. »Ach – hat Rolf Habich Ihnen erzählt, woher er kommt?«

»Hat er wohl«, bestätigte Onno. »Irgendwo in Sachsen, hab es aber vergessen.«

»Redete er nicht dauernd vom Erzgebirge?«, fragte Rieke.

»Kann sein.«

Trevisan bedankte sich noch einmal für den Tee und verließ zusammen mit Lisa Bohm das Haus.

»Dafür, dass sie eigentlich nicht viel über ihre Nachbarn wissen, haben sie eine ganze Menge über sie erzählt«, bemerkte Lisa, als sie auf dem Beifahrersitz des Dienstwagens Platz nahm.

»Ja, so etwas erfährt man nur, wenn man sich Zeit zum Plaudern nimmt«, bestätigte Trevisan. »Schade nur, dass sie nichts im Vorfeld beobachtet haben, das uns weiterhilft. Aber der Schlüssel zur Lösung des Falles liegt eindeutig im persönlichen Bereich der Opfer.«

»Was tun wir als Nächstes?«

Trevisan startete den Wagen. »Wir haben vier Opfer, jedes kann Auslöser der Tat gewesen sein. Eifersucht und verschmähte Liebe, Neid, abgrundtiefer Hass aus irgendeinem Grund.«

»Sie meinen die Tochter?«

»Ich bin übrigens Martin«, sagte er. »In meinem Team sprechen wir uns mit Vornamen an, schließlich müssen wir gut zusammenarbeiten und ich finde, die lockere Anrede trägt dazu bei.«

»Lisa«, entgegnete die junge Kollegin mit einem Lächeln.

»Also, Lisa, was schlägst du vor?«

Lisa hakte den Sicherheitsgurt ein. »Die Martens haben es schon gesagt, wenn wir mehr über das Mädchen erfahren wollen, dann müssen wir nach Norderney.«

Trevisan nickte. »Ja, aber zuerst fahren wir zurück auf die Dienststelle, die Verstärkung ist da. Monika hat mir eine SMS geschickt.«

7

Zehn Kolleginnen und Kollegen hatte Thorke Oselich in der Eile zusammengetrommelt. Trevisan war überrascht, als er zusammen mit Lisa Bohm den Besprechungsraum im zweiten Stock des Dienstgebäudes betrat. Monika Sander stand wie eine Lehrerin an der Stirnseite vor dem langen Tisch, wo an einer Pinnwand inzwischen Landkarten des Bezirks Skizzen und Tatortfotografien angeheftet waren, und erklärte den Anwesenden, was in den heutigen Morgenstunden auf dem Jakobshof unweit der Küste geschehen war.

»Oh, hallo, Martin«, sagte sie verlegen. »Ich habe schon mal angefangen, damit alle auf dem gleichen Stand sind. Ich hoffe, das ist für dich okay. Ich wollte dir nicht vorgreifen.«

Er lächelte. Mit Monika hatte er lange Jahre zusammengearbeitet und damals war daraus etwas wie eine Freundschaft entstanden. Jeder wusste, dass er sich auf den anderen verlassen konnte, doch die lange Zeit der Abwesenheit hatte Spuren hinterlassen und Monika schien unsicher, wie sie mit seiner Rückkehr auf die Dienststelle umgehen sollte.

Trevisan trat an ihre Seite und tätschelte freundschaftlich ihre Schulter. »Monika, ich bin immer noch der gleiche Kerl, der damals weggegangen ist«, flüsterte er ihr zu. »Und solltest du feststellen, dass ich mich zum Nachteil verändert habe, dann sag es mir bitte.«

Sie nickte. Während sich Trevisan einen Platz am Tisch suchte, fuhr Monika mit der Einweisung der Kolleginnen und Kollegen fort. Zehn Minuten später kam sie zum Ende und erteilte Trevisan das Wort.

»Danke, Monika.« Er erhob sich und trat vor die Pinnwand. »Ich bin Martin Trevisan, heute ist mein erster Arbeitstag auf dieser Dienststelle und offenbar geht es schon gut los.«

Alle schmunzelten.

»Wir bilden zusammen die Sonderkommission Jakobshof und wir haben viel zu tun, denn wir müssen detailliert den Lebensweg der Mordopfer nachvollziehen«, erklärte er. »Irgendwo werden wir, da bin ich mir sicher, auf eine Verbindung zwischen dem Täter und den Opfern stoßen. Allerdings ist das nicht ganz so einfach, denn nur die weiblichen Opfer stammen von hier. Die beiden Männer lebten zuvor in der ehemaligen DDR und sind erst vor fünf Jahren hier in die Gegend gezogen, was uns die Sache erheblich erschwert.«

»Raubmord können wir ausschließen?«, fragte eine junge uniformierte Kollegin, die zum hiesigen Revier gehörte.

Trevisan zeigte auf die Pinnwand. »Definitiv ausschließen können wir leider nichts, aber sagen wir, es gibt eine deutliche Tendenz. Fest steht, es wurde augenscheinlich nichts geraubt und auch nichts entsprechend durchsucht. Die Vorbereitung des Täters deutet eher nicht in diese Richtung. Wir werden uns aufteilen müssen. Eine Gruppe wird sich intensiv der Nachbarschaft, den örtlichen Behörden und den städtischen Einrichtungen widmen, den Vereinen, den Kirchen und der Gemeindeverwaltung. Die andere Gruppe wird dem Lebensweg der Opfer vom Todestag bis zur Geburt folgen. Monika, ich hätte gerne, dass du diese Gruppen von hier aus koordinierst und die Erkenntnisse entsprechend zusammenführst. Eike widmet sich zusammen mit Verena der Netzrecherche, Internet, Facebook, Communitys – eben alle Aktivitäten im Web, soweit diese nachvollziehbar sind.« Es klopfte an der Tür. »Herein!«

Paul Krog von der Spurensicherung betrat den Raum. »Wir sind draußen am Tatort und dem Fundort der Tatwaffen so weit fertig.«

»Und die Computer?«, fragte Trevisan.

»Es gab einen PC im Arbeitszimmer und den Laptop der Tochter. Wir haben alles eingepackt und bringen es der IT-Abteilung zur Auswertung.«

»Alles klar, dann suchen Sie sich einen Platz, Kollege.«

»Aber ich … Wir würden uns jetzt auf den Weg zurück …«

»Nach Oldenburg?«

»Klar.«

Trevisan schüttelte den Kopf. »Ich halte nichts von räumlicher Trennung. Am Ende kriegen wir von euch dann einen Bericht und das war’s … Nein. Ich denke, es ist viel besser, wenn jemand von der Spurensicherung direkt der Sonderkommission angehört, kein Telefonat kann ein persönliches Gespräch ersetzen. Außerdem ist es denkbar, dass wir hin und wieder Ihre Hilfe benötigen, da wäre ein Team vor Ort schon eine Bereicherung, finden Sie nicht auch?«

»Das ist aber so nicht vorgesehen«, entgegnete Krog. »Wir sind fertig hier und machen uns auf unserer Dienststelle an die Auswertung, das ist der normale Weg. Der Rest folgt schriftlich.«

Trevisan atmete tief ein. Von einer solchen Regelung hielt er nicht viel, denn Polizeiarbeit ließ sich nicht auf das Pinseln von Berichten und das Führen von Telefonaten reduzieren. Da sie nicht allein waren, vermied er jedoch eine Auseinandersetzung mit dem jungen Kollegen aus Oldenburg, der ihm seit der ersten Begegnung unsympathisch war. »Okay, dann gute Heimreise erst einmal. Den Rest kläre ich mit Ihrer Dienststelle.«

Krog nickte stumm und wandte sich um. Trevisan wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Tja, wir hatten eine Reform, schon vergessen?«, seufzte Monika. »Wilhelmshaven ist jetzt nur noch ein kleiner und unbedeutender Ableger vom großen Oldenburg. Wer was werden will, der muss in die Zentrale.«

»Dann sind wir mal froh, dass aus uns schon was geworden ist«, scherzte Trevisan.

Sie waren noch eine ganze Stunde damit beschäftigt, die Teams einzuteilen und die Aufgaben zuzuordnen. Trevisan war froh, dass Monika ohne Murren die Koordination übernahm, denn er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Er selbst nahm sich vor, zusammen mit Lisa Bohm das Leben der männlichen Mordopfer zu durchleuchten, wobei eine Zusammenarbeit mit den Kollegen aus Sachsen wohl unvermeidbar war. Denn wie Monika inzwischen festgestellt hatte, waren Christian und Rolf Habich vor fünf Jahren aus einer kleinen Gemeinde namens Jöhstadt nahe der tschechischen Grenze ins Wangerland gekommen.

»Jöhstadt«, wiederholte Trevisan, als er sich mit Monika auf dem Flur unterhielt. »Habe ich noch nie gehört, wo liegt das?

»Das ist eine kleine Stadt im Erzgebirge, das Polizeirevier von Annaberg-Buchholz ist dafür zuständig.«

»Annaberg habe ich schon mal gehört.«

»Das liegt im Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion Chemnitz, etwa vierzig Kilometer südlich davon.«

Trevisan kratzte sich am Kinn. »Gut, da rufe ich morgen an. Was wir noch tun könnten, wäre eine Erkenntnisanfrage an alle Landeskriminalämter und das BKA, vielleicht gibt es unaufgeklärte Fälle mit ähnlichem Modus operandi.«

»Gute Idee, mache ich gleich, außerdem müssen wir die Staatsanwaltschaft noch informieren. Ich habe schon mal etwas zusammengeschrieben, du kannst es dir ja anschauen.«

Thorke Oselich trat durch die Schwingtür. »Hallo, Herr Trevisan, auf ein Wort.«

Trevisan entschuldigte sich bei Monika und führte die Direktorin in sein Büro, in dem noch immer seine Kartons mit den persönlichen Utensilien auf dem leeren Schreibtisch standen. Zum Auspacken war er noch nicht gekommen.

»Die Presse macht uns die Hölle heiß«, seufzte Thorke Oselich. »Zuerst waren es nur der Wangerlandbote und die Wilhelmshavener Nachrichten, aber jetzt kommen auch noch Anfragen von Bild und von RTL, die wollen wissen, was da passiert ist.«

Trevisan zuckte mit der Schulter. »Wir schreiben den üblichen Pressebericht und verweisen an die Pressestelle in Oldenburg.«

»Ich fürchte, das wird nicht reichen«, entgegnete die Direktorin. »Der Präsident hat auch schon angerufen und Hamann von der Pressestelle meint, das wäre alleine unsere Sache, er unterstützt uns, aber die Pressekonferenz wäre unsere Angelegenheit. Überdies sitzt mir Oberstaatsanwalt Lüderboom im Nacken, der ist politisch engagiert, das ist nicht so einfach.«

»Politisch, wie soll ich das verstehen?«

»Der kandidiert für den Landtag im nächsten Jahr und will unbedingt Karriere machen, Da kommt ihm ein solcher Fall gerade recht, verstehen Sie.«

»Ja, ich verstehe. Vier Menschen sind heute bestialisch ermordet worden und das soll nicht umsonst gewesen sein. So etwas kann man nutzen, wenn es weiterhilft.«

Thorke Oselich zuckte die Schultern. »Tja, so ist es eben, aber Lüderboom ist eigentlich ganz brauchbar. Hamann schlägt eine Pressekonferenz morgen früh um elf Uhr vor. Sie, ich, Lüderboom und er. Wir sollten uns genau abstimmen, was wir herausgeben können.«

»Okay, dann treffen wir uns morgen um zehn zur Besprechung, schlage ich vor.«

Sie nickte erleichtert. »Zehn Uhr, ich gebe Lüderboom Bescheid und hoffe, dass Ihnen die zusätzlichen Kräfte ausreichen, mehr können wir derzeit nicht abstellen. Wir sind nur eine kleine Dienststelle, ansonsten müsste ich Oldenburg um Unterstützung ersuchen.«

»Danke, ich denke, wir kommen klar«, entgegnete Trevisan. »Eine kleine Sache wäre da allerdings noch. Aufgrund meiner Erfahrung kann ich sagen, dass es Sinn macht, ein Team der Spurensicherung in die Soko zu integrieren. In der Vergangenheit hatten wir mehrfach Bedarf an Spezialisten und wenn ich dann jedes Mal warten muss, dass jemand aus Oldenburg hier heraufkommt, dann ist das … sagen wir: kontraproduktiv.«

Thorke Oselich fuhr sich durch ihre langen blonden Haare. »Uns ist die volle Unterstützung zugesichert, ich denke, da kann ich etwas für Sie tun.«

An seinem ersten Arbeitstag auf der neuen Dienststelle wurde es spät. Nach dem Bericht an die Staatsanwaltschaft und der Erkenntnisanfrage an das BKA und die anderen Polizeidienststellen verabschiedete sich Trevisan kurz nach zehn Uhr von Monika Sander. Eine halbe Stunde später traf er müde und ausgelaugt auf dem Peerenhof bei Horumersiel ein. Im Atelier brannte noch Licht. Lea war mit einer neuen Skulptur beschäftigt, eine Auftragsarbeit für eine Kirche in Aurich.

»Na, mein Großer«, empfing sie ihn mit farbverschmierten Händen und hauchte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. »Dir scheint es auf deiner neuen Dienststelle so gut zu gefallen, dass du gar nicht mehr nach Hause kommen willst.«

Trevisan erzählte ihr von dem Mord an den Bewohnern des Jakobshofes und wies auf die Tür. »Ich fände es gut, wenn du künftig abschließen würdest.«

»Oh, macht er sich Sorgen um mich«, scherzte Lea und wies auf das abstrakte Gebilde. »Wie gefällt dir übriges Lambertus, ist er nicht schön geworden?«

»Wer ist Lambertus?«

»Der Schutzheilige der Lambertikirche.«

»Oh«, brummte Trevisan. »Hätte ich fast nicht wiedererkannt. Bist du schon fertig?«

 

»In einer halben Stunde.«

»Dann gehe ich jetzt noch kurz mit dem Hund raus und anschließend sollten wir ein Glas Wein zusammen trinken, schließlich bin ich wieder zu Hause, das ist doch ein Grund zum Feiern.«

*

Polizeikommissarin Ohlstedt bremste den Streifenwagen ab und fuhr an den Straßenrand. Ihr Kollege, der auf dem Beifahrersitz gedöst hatte, erwachte und wischte sich die Müdigkeit aus den Augen. In der Dunkelheit sah er sich um.

»Was ist los, wo sind wir?«, fragte er benommen.

»In Hohenkirchen an der Kläranlage«, entgegnete die junge Kollegin.

Er richtete sich auf. »Was ist, weshalb hältst du?«

»Da liegt was.« Sie griff nach ihrer Taschenlampe.

Im Scheinwerferlicht des Streifenwagens erkannte er einen Schutthaufen, der mitten auf einem geschotterten Platz abseits des Feldweges lag. »Warte!« Auch er griff nach seiner Taschenlampe.

Gemeinsam verließen sie den Streifenwagen und gingen auf den Schutthaufen zu. Im Lichtkegel der Taschenlampe reflektierte ein gelbes Licht.

»Das ist ein Fahrrad«, sagte die Kollegin. Hinter dem Schutt vor einem Gebüsch zwischen den angrenzenden Feldern lag ein rotes Damenrad.

»Du hast gute Augen«, lobte der Kollege die junge Beamtin.

»Ich habe es gesehen, als ich um die Kurve gefahren bin.«

»Wenn das nicht das gesuchte Rad dieses Mörders ist«, murmelte der Polizist. Er untersuchte es und fand am unteren Teil des Rahmens eine Nummer. Er vermied es, das Rad zu berühren. »0335572, würde ich sagen.«

»Oder 75 am Ende«, fügte seine Kollegin hinzu.

»Warte kurz, ich frage die Datenstation.« Er ging zurück zum Streifenwagen und griff zum Funkhörer. Einen Augenblick später beugte er sich aus dem Wagen. »Was ist es für eine Marke?«, rief er ihr zu.

»Winora, Domingo, sechsundzwanzig Zoll und eine Ketten­schaltung von Shimano.«

Der Kollege zog sich in den Streifenwagen zurück. Nach kurzer Zeit tauchte er wieder auf. »Bingo. Das Rad wurde vorgestern in Jever gestohlen. Würde mich nicht wundern, wenn es dem Mörder vom Jakobshof gehört.«

»Was machen wir nun?«

»Wir sollen hier warten. Sie schicken jemanden vom Kriminaldauerdienst und einen Bus.«

Es dauerte beinahe eine Stunde, bis die Kollegen eintrafen. Wortlos musterten sie das Fahrrad. Als kurz darauf ein VW-Bus eintraf, beratschlagten sie, was zu tun war.

»Wir nehmen es einfach mit auf die Dienststelle«, schlug einer vor.

»Das wird den Leuten von der Soko gar nicht gefallen.«

»Wieso?«

»Hier könnten überall Spuren sein, auch das Fahrrad ist ein Spurenträger.«

»Was willst du tun?«

»Ich rede mit dem Schichtführer.« Der Kollege vom KDD zog sein Handy hervor. Er ging ein Stück abseits, ehe er nach kurzer Zeit wieder auftauchte. »Großräumig abriegeln und nichts verändern. Die Spurensicherung kommt.«

»Aus Oldenburg?«

»Ja, die brauchen etwa zwei Stunden, bis sie hier sind.«