Kalteiche

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8

Freitag

Als Trevisan kurz nach acht Uhr auf die Dienstselle kam, saß Monika Sander bereits am Schreibtisch.

»Guten Morgen, Martin. Eine Streife hat in der Nacht ein Fahrrad gefunden. Gerade mal drei Kilometer vom Tatort entfernt. Es wurde vor drei Tagen in Jever vor einem Super­markt gestohlen und könnte vom Täter benutzt worden sein.«

»Wo ist das Rad jetzt?«

»Unten in der Garage. Dein Lieblingskollege von der Spuren­sicherung ist da und kümmert sich darum.«

»Krog?«

Monika lächelte. »Sie haben ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt. Er bleibt jetzt übrigens hier, zumindest für eine Woche, hat er erklärt. Er hält es für besser, wegen der räumlichen Nähe zum Tatort und so, du verstehst.«

»Ah ja, interessant. Gibt es sonst noch was?«

»Ja, da liegt eine Bushaltestelle in Hohenkirchen, nur ein paar hundert Meter entfernt. Ich habe mit dem Verkehrsverbund Ems Jade telefoniert. Die fahren die Linie dreimal am Tag. Ich habe den Namen des Fahrers der Mittagstour. Er ist jetzt erst einmal unterwegs und meldet sich bei uns, sobald seine Tour beendet ist.«

»Gut gemacht, Monika. Wohin fährt der Bus von Hohenkirchen aus?«

»Der fährt von Wilhelmshaven über Jever, Carolinensiel, Wittmund und Aurich hinunter nach Emden.«

Trevisan versuchte sich den Weg bildlich vorzustellen. »Dann könnte der Kerl jetzt überall in der Gegend sein.«

»Ja, das ist wohl wahr. Lisa ist übrigens mit Eike unterwegs. Sie überprüfen da etwas, auf das Eike im Internet gestoßen ist. Und außerdem hat die Gerichtsmedizin schon kurz vor acht angerufen. Die Obduktion der Leichen ist für heute Mittag vorgesehen. Dreizehn Uhr.«

»Gut, das lässt sich einrichten. Die Pressekonferenz wird wohl bis dahin zu Ende sein. Sind die Teams schon unterwegs?«

»Drei Teams klappern die Nachbarschaft ab und ein Team ist unterwegs nach Norderney zu diesem Hotel Seestern.«

»Wen hast du geschickt?«

»Lentje und Olaf von der Fahndung.«

»So wie die Martens gestern andeuteten, könnte die junge Frau ein klein wenig durchtrieben gewesen sein. Da wäre es gut, wenn man sich ihr Leben mal ein klein wenig näher betrachtet.«

»Da kann ich dich beruhigen, Lentje Kaplani ist genau die Richtige dafür.«

»Schön, dann gehe ich mal in mein Büro, vielleicht komme ich heute dazu, meine Habseligkeiten auszupacken.«

»Glaube ich nicht, Thorke Oselich will dich sehen. Sie ist ganz schön nervös wegen der Pressekonferenz.«

»Ach ja«, seufzte Trevisan. »Dann gehe ich mal zu ihr und versuche sie zu beruhigen.«

Er ließ sein Zimmer links liegen und klopfte an die Bürotür der Direktorin.

»Ach, gut, dass Sie da sind, Herr Trevisan, wir sollten besprechen, was wir heute den Journalisten alles sagen.« Sie war sichtlich erleichtert, dass er endlich aufgetaucht war.

»Sollten wir nicht auf den Staatsanwalt warten?«

»Ich möchte mich gerne zuvor mit Ihnen beraten, bevor wir da unterschiedlich auftreten. Wissen Sie, Kollege Trevisan, all zu oft kommt so etwas bei uns nicht vor.«

Trevisan nahm auf dem ihm zugewiesenen Stuhl Platz. Thorke Oselich sah ein klein wenig übernächtigt aus, was ihr überhaupt nicht gut zu Gesicht stand. Wahrscheinlich hatte sie vor lauter Aufregung die halbe Nacht nicht geschlafen. Sie wollte sich das allerdings in keiner Weise anmerken lassen.

Sie entspannte sich erst, als Trevisan ihr durch die Blume Entlastung anbot. »Ich denke, ich sollte als Sachbearbeiter mit der Presse sprechen, denn wir dürfen nicht zu viel preisgeben und müssen eine deutliche Grenze ziehen.«

»Ja, ja … Das … finde ich auch«, erklärte die Direktorin, sichtlich erleichtert.

»Ich will natürlich niemandem die Show stehlen und der Staatsanwalt wird sicherlich auch ein paar Worte zu sagen haben, aber grundsätzlich halte ich das für den gangbaren Weg, bevor Fragen auftauchen, auf die wir keine Antworten geben können.«

»Ja, da haben Sie recht, Kollege Trevisan«, bestätigte die Frau eifrig. »Außerdem ist es an der Zeit, ich denke, und so halte ich es mit allen Mitarbeitern, wir sollten einen offenen Umgang miteinander pflegen. Deswegen bevorzuge ich das Du und die Vornamen, natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich bin Thorke.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Er ergriff sie. »Martin.«

»Gut, dann ist das ja geklärt. Gibt es Neuigkeiten, ich meine, außer dem Fund des Fahrrades?«

Trevisan lächelte. »Krog von der Spusi hat beschlossen, ein paar Tage hierzubleiben.«

*

Lentje Kaplani war eine wunderschöne Frau mit langen, seidigen pechschwarzen Haaren, die im Wind der wilden See hin und her schwangen. Sie war die Tochter eines iranischen Vaters und einer friesischen Mutter, eine Mischung aus Schönheit und Intelligenz, wie sie selbst immer zu sagen pflegte, und arbeitete seit fünf Jahren bei der Kriminalpolizei in Wilhelmshaven. Ihre vorwiegende Aufgabe waren Kapitaldelikte im sexuellen Bereich wie Vergewaltigungen, sexuelle Nötigungen und Kinderpornographie. Doch diesmal war sie Teil einer Sonderkommission, die den brutalen Mord an einer ganzen Familie aufzuklären hatte. Sie hatte sich akribisch in den Fall eingelesen, denn sie spielte zwar schon lange mit dem Gedanken, ihren Fachbereich zu wechseln, bislang hatte sich aber noch nicht die Möglichkeit ergeben und zu Bloom, Trevisans Vorgänger, hatte sie kein allzu gutes Verhältnis gehabt. Trevisan war eine neue Chance für sie, außerdem eilte ihm ein ausgezeichneter Ruf voraus.

Nachdem die Frisia-Fähre im Hafen von Norderney angelegt hatte, fuhren sie in den Nordteil der Insel, wo sich unweit der Marienhöhe das Hotel Seestern befand. Ein mehrstöckiger weißer Bau mit mehreren Flügeln, der an ein englisches Landhaus erinnerte.

»Dann wollen wir mal!«, sagte Olaf Schönborn, Lentjes Kollege, als er den Dienstwagen auf dem Parkstreifen direkt vor dem Hotel parkte.

An der Rezeption zeigten sie der jungen Frau hinter dem Empfang ihre Dienstausweise. »Wir würden gerne mit dem Geschäftsführer sprechen.«

Die junge Frau reagierte ein klein wenig erschrocken. »Ist es wegen Gavin?«

»Gavin?«, wiederholte Lentje fragend.

»Ja, Gavin Eriksdorf, aber der arbeitet nicht mehr hier.«

»Ja, unter anderem«, entgegnete Lentje, während Olaf ihr einen fragenden Blick zuwarf. »Sie sind später noch hier?«

Die junge Angestellte nickte. »Ich habe gegen zwölf Pause.«

»Alles klar, kann sein, dass wir auch noch mit Ihnen sprechen müssen.«

Ein paar Minuten später wurden Lentje und Olaf so diskret wie möglich in das Büro der Geschäftsleitung geführt. Mia Bröder, Geschäftsführung, stand auf dem Türschild des geräumigen Büros im Erdgeschoss. Einen herrlichen Ausblick auf die Nordsee und den Strand gab es von diesem Zimmer aus. Mia Bröder war eine Frau mittleren Alters mit streng zurückgekämmten Haaren, die zu einem Dutt zusammengesteckt waren. Sie trug ein perfekt sitzendes blaues Kostüm und wirkte auf Lentje wie die Gouvernante eines blaublütigen Herrschaftssitzes.

»Die Polizei«, sagte die Frau erstaunt, nachdem Lentje sich vorstellt hatte. »Wir haben doch schon alles angegeben.«

»Wir sind wegen Dörte Henner hier.«

»Dörte, was ist mit ihr?« Die Geschäftsführerin bot den beiden Polizisten Platz an.

»Es tut mir leid, Dörte Henner ist tot«, entgegnete Lentje. »Sie wurde umgebracht.«

»Von Eriksdorf?«

»Was ist mit Eriksdorf?«

»Na, wegen ihm hat doch der ganze Schlammassel hier angefangen. Wir sind ein gutes Hotel und haben einhundert­achtzig Betten. Die Leute kommen gerne zu uns, aber dass die Polizei bei uns ein- und ausgeht, das ist unmöglich. Unsere Gäste wollen sich erholen und abschalten, sie wollen keine Spürhunde hier herumlaufen sehen.«

Lentje warf ihrem Kollegen einen vielsagenden Blick zu. »Vielleicht sollten Sie uns das einmal von Anfang an erklären.«

»Also gut«, seufzte die Frau und strich sich ihren Rock zurecht. »Eriksdorf war bei uns angestellt. In der Küche. Vor etwa einem Monat tauchten dann Ihre Kollegen bei uns auf. Eriksdorf wurde in Holland festgenommen, wegen Rauschgiftschmuggel, aber er ist dort entkommen, deswegen haben Ihre Kollegen ihn hier gesucht. Sie haben alles auf den Kopf gestellt. Sie glauben gar nicht, wie peinlich uns das war. Wir können nichts für unsere Angestellten. Und dann auch noch dieses Rauschgift bei uns im Haus.«

Lentje horchte auf. »Rauschgift, hier im Hotel?«

»Ja, sie haben es in Dörtes Zimmer gefunden. Das war ein ganzes Paket. Am… Am… Amph…«

»Amphetamin!«

»Ja, genau.«

Lentje zückte ihren Notizblock. »Wie haben Sie reagiert?«

Mia Bröder fasste sich an die Nase. »Ich habe Dörte natürlich zur Rede gestellt, aber sie wollte nichts davon wissen. Ich habe sie selbstverständlich sofort hinausgeworfen. So etwas geht nicht.«

»Wieso wurde das Rauschgift bei ihr im Zimmer gefunden, wenn doch Eriksdorf verdächtigt wird?«, mischte sich Olaf Schönborn ein.

»Na, sie und Eriksdorf waren doch zusammen«, entgegnete Frau Bröder. »Da kann sie mir doch nicht einfach frech ins Gesicht lügen. Natürlich wusste sie Bescheid.«

»Wann war das?«, fragte Lentje.

»Vor vierzehn Tagen, etwa.«

»Und wie hießen unsere Kollegen, die hier bei Ihnen waren?«

Mia Bröder öffnete die Schublade ihres Schreibtisches und kramte darin, ehe sie eine Visitenkarte hervorzog. »Kriminal­hauptkommissar Maier, Landeskriminalamt Hannover, Dezernat 3.« Sie reichte Lentje die Visitenkarte, die die Daten darauf in ihrem Block notierte. »Ich weiß ja, dass Sie nichts dafür können und nur Ihre Arbeit machen. Aber ich versuche hier ein Hotel zu führen und das alleine ist schon schwierig genug.«

 

»Das war ein ganzes Paket mit Rauschgift?«, fragte Lentje.

Mia Bröder nickte eifrig. »Ja, Ihr Kollege meinte, das kostet zwanzigtausend Euro, das Giftzeugs.«

Lentje runzelte die Stirn. »Er hat Dörte nicht festgenommen?«

»Sie musste mit aufs Festland, aber am Abend war sie wieder hier. Sie sagte, sie hätte nichts damit zu tun, aber das nehme ich ihr nicht ab. Die hat genau gewusst, was ihr sauberer Freund treibt. Ständig ist sie in neuen Klamotten herumgelaufen. Ich weiß, was so etwas kostet. Von dem Gehalt, das sie hier verdiente, konnte sie sich das nicht leisten. Um Gottes willen, nicht, dass wir schlecht bezahlen, aber das war lauter so Designerzeugs, da kostet alleine schon eine Jeans dreihundert Euro. Ich weiß das von meiner Tochter, die hat manchmal auch so komische Ideen. Sie sagt, das ist von Posen oder so ähnlich, irgendein wirrer Schneider, der es mit der Schere zu bunt treibt.«

Olaf warf der Geschäftsführerin einen fragenden Blick zu. »Und dann ist Dörte abgereist?«

Die Frau nickte. »Ja, das ist sie, sie hat geheult, aber das waren bestimmt nur Krokodilstränen. Haben Sie Eriksdorf schon gefasst?«

Lentje schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht, ich dachte, Sie könnten uns weiterhelfen.«

»Ich? Wieso ich? Na ja, wenn er hier in der Saison arbeitete, dann hat er hier gewohnt, im Gästehaus B, so wie alle Angestellten vom Festland, aber eigentlich kommt er aus Emden. Hat er Dörte etwas angetan?«

Olaf winkte ab. »Das wissen wir noch nicht. Wann war er das letzte Mal hier?«

»Vor vier Wochen, dann hatte er eine Woche Urlaub, da ist er nach Rotterdam gefahren und da haben ihn Ihre holländischen Kollegen erwischt, als er das Zeugs im Hafen kaufen wollte. Er ist geflüchtet, wurde uns gesagt.«

»Und seitdem haben Sie ihn nicht mehr gesehen?«

»Richtig.«

»Gut, wenn er auftaucht …«

»Ja, dann soll ich anrufen, das hat mir Ihr Kollege bereits gesagt.«

Nachdem Lentje und Olaf das Zimmer der Geschäftsführerin verlassen hatte, ging Lentje noch einmal auf die junge Frau hinter dem Tresen zu und wartete, bis sie einen Kunden abgefertigt hatte. »Sie wissen über Dörte und Eriksdorf Bescheid?«

»Dass sie zusammen waren, meinen Sie?«

»Kannten Sie Dörte gut?«

»Tja, was man so kennen nennt unter Kollegen. Weshalb fragen Sie?«

»Dörte ist tot, sie wurde umgebracht, gestern im Haus ihrer Eltern.«

Erschrocken schlug die junge Frau die Hände vor das Gesicht. »Das ist ja furchtbar, hat Gavin etwas damit zu tun?«

»Das frage ich Sie.«

Die junge Angestellte blickte zu Boden. Sie wirkte erschüttert. »Nein, das glaube ich nicht, Gavin ist … Ich … Dörte ist an allem schuld. Sie ist eine Hexe. Einmal hat sie gesagt, dass sie nicht ewig den Leuten hinterherräumen will, dass sie eines Tages diejenige sein wird, die sich von vorne bis hinten bedienen lässt. Sie hat Gavin nur ausgenutzt. Er war … Er hat … Er war ein anständiger Kerl.«

»Was macht Sie so sicher?«

»Ich … ich war … Sie … Dieses falsche Luder … Sie hat …«

»Sie waren zuerst mit Gavin zusammen, richtig?«, fiel ihr Lentje ins Wort.

Eine Träne kullerte über die Wange des Mädchens. »Ja«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Sie hat ihn mir ausgespannt. Erst dann hat es mit den Drogen angefangen. Sie hat ihn dazu gebracht. Sie hat ihn bestimmt auch nach Holland geschickt, um Nachschub zu kaufen.«

»Das wissen Sie oder das glauben Sie?«

»Ich weiß es«, entgegnete die Angestellte bestimmt.

»Dann wussten Sie auch von dem Drogenhandel?«

»Nein, ich meine natürlich, ich weiß es, weil ich Gavin kenne.«

»Haben Sie noch Kontakt zu ihm?«

Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. Irina stand auf dem Namensschild auf ihrer Jacke.

»Könnte es sein, dass Gavin Dörte umgebracht hat?«

»Auf keinen Fall!«, zischte Irina resolut.

»Also gut«, entgegnete Lentje sanftmütig und reichte ihr eine Visitenkarte. »Zumindest steht er unter Verdacht. Und hier geht es nicht mehr um ein paar Gramm Rauschgift, sondern um Mord. Mit jedem Tag, an dem er auf der Flucht ist und sich vor der Polizei versteckt, wird es nur schlimmer. Sagen Sie ihm das, falls er sich zufällig bei Ihnen melden sollte. Er kann mich anrufen, egal ob Tag oder Nacht.«

Ein Hotelgast kam auf das Empfangspult zu.

Irina wischte sich die Tränen von der Wange. »Ich muss … arbeiten.«

»Dann tun Sie das, und vergessen Sie nicht, er soll sich bei uns melden, bevor es für ihn zu spät ist.«

Mit gespieltem Lächeln widmete sich Irina wieder dem Hotelgast, während Lentje zu ihrem Kollegen ging.

»Was hältst du davon?«, fragte Olaf.

»Stoff im Wert von zwanzigtausend Euro, das ist kein Pappenstiel. Das könnte durchaus ein Motiv für einen Mord sein.«

»Ja, das glaube ich auch. Wir sollten mit diesem Maier vom LKA reden, bevor wir Trevisan informieren.«

9

Um sieben Uhr war er losgefahren. Es war ein trockener Tag und er war gut vorangekommen, bis ihn ein Unfall auf der A3 bei Rösrath ausgebremst hatte. Drei Lastwagen und ein Personenwagen waren ineinandergekracht, der Rettungshubschrauber war gelandet und die Strecke für beinahe zwei Stunden total gesperrt. Anschließend wurde der Verkehr einspurig an den Unfallfahrzeugen vorbeigeleitet. Ihn fröstelte, als er an dem vollkommen zerbeulten Wrack des Personenkraftwagens vorbeifuhr. Auf den ersten Blick war nicht mehr zu erkennen, um welche Marke es sich gehandelt hatte. Johannes Leußner bezweifelte, dass noch jemand lebend herausgekommen war.

Beinahe vier Stunden verlor er durch den Stau und kurz vor der deutschen Grenze bei Basel ging es gerade so weiter. Sieben Kilometer Stau in Höhe von Neuenburg meldete der Sprecher im Radio. Gut, es war Freitag, das Wochenende in Sicht und der Verkehr nahm an diesem Tag erfahrungsgemäß zu, denn viele Menschen nutzten die freien Tage, um nach Hause zu fahren oder irgendwo auszuspannen. Es war kurz nach zehn Uhr in der Nacht, als er die Grenze passierte und seinen Laster auf einen Parkplatz kurz hinter Basel manövrierte. Über zwanzig Lastwagen parkten bereits dort, um das nächtliche Fahrverbot abzuwarten.

Er packte seine Vesperbox aus und kramte aus dem Handschuhfach einen Umschlag hervor. Nachdem er sich seiner Schuhe entledigt hatte, zog er sich in die Schlafkabine zurück und nahm die Fotos aus dem Umschlag. Es waren Bilder seiner Yacht, die er im letzten Jahr gekauft hatte und mit der er im Frühjahr eine längere Tour über die Nordsee bis hoch nach Irland plante. Jenny war ein Kajütboot vom Typ Condor, hergestellt von der Rosenheimer Klepperwerft, das er zu einem günstigen Preis vom Yachtclub in Greetsiel erstanden hatte und dessen Renovierung er in den letzten Monaten seine gesamte Freizeit gewidmet hatte. Blau hatte er den schlanken Bootskörper gestrichen, blau und weiß, die Farben des Meeres.

Obwohl er im tiefsten Binnenland, mitten zwischen Wäldern, Hügel und Tälern, aufgewachsen war, hatte es ihn schon seit frühester Kindheit ans Meer gezogen. Früher war es die Ostsee gewesen, wo er mit der Familie oder im Freizeitheim der FDJ auf Rügen seine Ferien verbracht hatte, und nachdem der Staat zerfallen war und die grenzenlose Freiheit Einzug ins Land gehalten hatte, waren es die Kreuzfahrten, die ihn faszinierten. Ob Bergen, Trondheim, Oslo, ob Reykjavik, Paamiut oder die Arktis, ob die Barentssee oder Spitzbergen, keine Strecke war ihm zu weit, wenn er die Dünung des Meeres spürte. Er war alleine, unabhängig, verdiente gut, weil er sich für nichts zu schade war, schruppte Überstunden, sprang ein, wenn Not am Mann war, und sparte jeden Cent, um sich seinen Traum vom eigenen Boot zu erfüllen. Und im letzten Jahr war es dann so weit gewesen, er hatte genau das Boot gefunden, das zu ihm passte. Nicht zu groß, nicht zu klein, gut zu bedienen und motorisiert, wenn ihn einmal der Wind im Stich lassen sollte.

Er blätterte sich durch die Fotos und betrachtete sie lange und eingehend. Er konnte es überhaupt nicht erwarten, dass endlich der Frühling kam und er an Bord seiner Jenny wieder über das Wasser der Nordsee gleiten konnte. Der aufgesparte Urlaub und die Überstunden, alles in allem zwei Monate, würde er nutzen. Die Einsamkeit war er gewohnt, es war nichts anderes als auf dem LKW. Es schaukelte vielleicht ein klein wenig mehr, war gefährlicher, denn das Wetter im hohen Norden neigte dazu, oft stürmisch und wenig freundlich daherzukommen, doch es bedeutete grenzenlose Freiheit und Abenteuer.

Er schob die Bilder zurück in den Umschlag, schüttelte sein Kissen auf und löschte das Licht. Die lange Fahrt und die vielen Staus hatten ihn müde gemacht. Morgen in aller Frühe würde er aufbrechen. Von Basel bis nach Turin würde er noch gut sechs Stunden brauchen und bis zwölf Uhr musste er die Schweiz verlassen haben, um nicht noch eine weitere Pause einlegen zu müssen. Wenn er endlich in Italien war, dann hatte er freie Fahrt. Nach dem großen Sankt-Bernhard-Tunnel und wenn der das Aostatal hinter sich gelassen hatte, war es nur noch ein Katzensprung. Die Firma, bei der er abladen sollte, kannte er gut. Schon das achte Mal fuhr er diese Route, deshalb wusste er, dass der alte Luigi auf ihn warten würde, auch wenn es die eine oder andere Verzögerung gab.

Er dachte an Jenny, die in Norden in einem Schuppen stand und auf ihn wartete, als seine Augen schwerer und schwerer wurden.

*

Trevisan saß in seinem Büro und blickte aus dem Fenster, an dem kleine Wassertropfen herabrannen. Es hatte zu regnen begonnen und eine frische Brise wehte über die See in das Landesinnere. Vor sich hatte er eine Akte ausgebreitet. Monika Sander hatte über das Gemeindeamt von Jöhstadt alles besorgt, was über Christan Habich und seinen Sohn Rolf in Erfahrung zu bringen war. Auch das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde hatte sie nicht vergessen, in dem ein reichhaltiger Fundus von alten Akten aus der DDR schlummerte. Gerichtsakten, Strafvollzugsakten, aber auch Akten des Ministeriums für Nationale Verteidigung, für Volksbildung oder auch die eine oder andere Akte des Verteidigungsministeriums.

Christian Habich war im Jahr 1936 in Jöhstadt geboren worden. Über seine Kindheit und die Jugend, die in den ersten zehn Jahren mitten in den Wirren des Zweiten Weltkrieges lag, war nur wenig bekannt. Erst im Jahr 1952 tauchte sein Name das erste Mal in den Akten auf. Als Sechzehnjähriger wurde er zum Unterführer in der Freien Deutschen Jugend des Verwaltungsbezirks von Karl-Marx-Stadt gewählt und drei Jahre später absolvierte er bei der neu gegründeten Nationalen Volksarmee die Unteroffiziersschule in Weißkießel, um anschließend bei der 4. Motorisierten Schützen Division in Erfurt zu dienen. Aus dem Jahr 1972 stammte ein Eintrag aus den Akten der SED, in dem Christan Habich als Sprecher der LPG Merxleben tituliert wurde, dem für die herausragenden Leistungen in der Ernteschlacht zum Wohle des Sozialistischen Vaterlandes der Junkerorden von Landwirtschaftsminister Georg Ewald persönlich verliehen wurde.

In den nachfolgenden Jahren tauchte Habichs Name immer mal wieder in Verbindung mit der Landwirtschaft der DDR auf, bis er im Jahr 1979 auf dem Volkseigenen Gut Birkenhof in der Nähe seines Geburtsortes die Funktion des Produktions­leiters übernahm. Einer der wenigen größeren Gutshöfe auf dem Staatsgebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, der nicht der Eingliederung in eine LPG zum Opfer gefallen war und als unabhängiger Betrieb für Pflanzen- und Viehzucht erhalten blieb. Zum damaligen Zeitpunkt lebten und arbeiteten neben den Habichs – Christian Habich war inzwischen verheiratet und sein Sohn Rolf und seine Tochter Gabriele bereits geboren – noch weitere zwei Familien auf dem Areal des VEG, so die offizielle Abkürzung in der damaligen Zeit.

Wiederum klaffte eine Lücke von beinahe zehn Jahren in den Aufzeichnungen. Dem nächsten Eintrag lag ein eher trauriger Anlass zugrunde. Habichs Tochter Gabriele verunglückte im zarten Alter von zwölf Jahren bei Erntearbeiten im Gewann Kalteiche tödlich. Drei weitere Male wurde er in den alten DDR-Akten namentlich erwähnt, denn offensichtlich erwirtschaftete das von ihm geführte Volkseigene Gehöft durchaus erfolgreiche Quoten. So wurden ihm mehrfach Urkunden, Leistungsabzeichen und Auszeichnungen überreicht, unter anderem im Jahr 1983 die Ehrennadel für herausragende Verdienste im sozialistischen Bildungswesen und zuletzt 1985 die Silbermedaille als Sieger der Sozialistischen Landwirtschaft. Zwei Jahre nach der Wende starb seine Ehefrau und er zog zusammen mit seinem Sohn vom Birkenhof nach Jöhstadt um, wo er bis zu seiner Übersiedlung in den Westen lebte.

 

Trevisan blickte erneut aus dem Fenster in den verregneten Tag. Vor seinen Augen tauchte noch einmal der Jakobshof auf. Er erhob sich und warf einen Blick hinaus in den Flur, doch von Monika war weit und breit nichts zu sehen. Er kehrte auf seinen Stuhl zurück und nahm den nächsten Ordner aus dem Postkorb. Er schlug ihn auf und las.

Rolf Habich, 1962 in Annaberg in einem Krankenhaus geboren, besuchte die Grundschule in Erfurt und wechselte dann, vermutlich bedingt durch das Berufsleben seines Vaters­, an die Polytechnische Oberschule nach Langensalza, und später an die Erweitere Oberschule, wo er 1979 seinen Abschluss machte und anschließend an der Technischen Hochschule in Mittweida Agrarwissenschaften und Maschinen­kunde studierte. Er kehrte 1982 auf den Birkenhof zurück und übernahm dort die Wartung des Maschinenparks. Auch er wurde in einigen Urkunden und Anerkennungen erwähnt und erhielt im Jahr 1987 die Auszeichnung Maschinenwart, als Unterkategorie des Kampfordens für das sozialistische Vaterland. Er war, ebenso wie sein Vater, langjähriges Partei­mitglied der SED und sogar zeitweise Vorsitzender des Verbandes für Jungjunker des Sozialismus im Erzgebirge. Laut den Aufzeichnungen war er nie verheiratet gewesen. Rolf Habich war nach der Wende arbeitslos gemeldet, bis er eine Anstellung bei einem Sägewerk nahe Königswalde fand. Dort arbeitete er bis zu seiner Heirat und seinem Umzug in das Wangerland. Polizeilich waren weder er noch sein Vater in Erscheinung getreten.

»Steht etwas Interessantes in den Akten?«, fragte Monika, die mit zwei dampfenden Kaffeetasse in der Tür stand.

Trevisan schlug den Aktendeckel zu und schüttelte den Kopf. »Nichts, was auf den ersten Blick interessant genug erscheint, um als Motiv für diesen Mord in Frage zu kommen.«

Sie reichte ihm eine Tasse. »Es ist wirklich schön, dass du wieder hier bist.«

Trevisan nickte und schaute hinüber zum Fenster. »Auch wenn das Wetter hier oben manchmal die kalte Schulter zeigt, bin ich froh, wieder hier zu sein. Hannover war … wie soll ich sagen … war mir viel zu hektisch, und Oldenburg ist eben auch nur eine Stadt wie viele, ich habe mich die ganzen Jahre über immer wie auf dem Sprung gefühlt. Erst als Lea und ich den Hof kauften und wir wieder hierher kamen, hatte ich das Gefühl, zu Hause zu sein.«

»Was glaubst du, hinter wem war der Mörder her?«

Er hielt die Akte in die Höhe. »Ich hatte gehofft, hier drinnen etwas zu finden. So etwas wie Stasispitzelei oder Hochverrat, aber offenbar war der alte Habich ein ganz passabler Landwirt. Über seinen Sohn gibt es nur wenige Informationen. Sie waren beide treue Mitglieder in der SED, aber das waren damals wohl alle, wenn man was erreichen wollte.«

»Ich habe noch eine Anfrage beim BStU laufen, aber das dauert eine Weile«, entgegnete Monika.

»BStU?«

»Früher mal Gauck-Behörde. Die Bearbeitungszeit beträgt sieben bis vierzehn Tage, vorher werden wir nichts erfahren, wenn es dort überhaupt eine Akte über die Habichs gibt.«

»Notfalls müssen wir eben eine Dienstreise machen«, entgegnete Trevisan.

Sie zog sich einen Stuhl heran. »Der Birkenhof ist übrigens 1996 in Flammen aufgegangen.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe die Kollegen vom Polizeirevier in Annaberg angerufen.«

»Vier Jahre, nachdem die Habichs den Hof verlassen haben«, murmelte Trevisan nachdenklich. »Konnten die Kollegen Näheres dazu sagen?«

Monika Sander zuckte mit der Schulter. »Offenbar stand der Hof leer, man nimmt an, dass es sich um fahrlässige Brandstiftung handelte und ein Penner dort übernachtet hat, dem wohl ein Missgeschick passiert ist. Auf alle Fälle fand man eine Petroleumlampe, von der wohl das Feuer ausging. Alles ist niedergebrannt. Vier Häuser, drei Hallen und eine große Scheune.«

»Gibt es dort keine Feuerwehr?«

»Der Kollege aus Annaberg sagte, dass das Gehöft mitten in der Wildnis in einem Tal lag, beinahe drei Kilometer von Jöhstadt entfernt. Der Brand muss in den frühen Morgenstunden ausgebrochen sein, deshalb wurde er erst bemerkt, als es bereits zu spät war. Bis die Feuerwehr ausrückte, war alles bis auf die Grundmauern niedergebrannt.«

»So, so, Brandstiftung, sagst du«, wiederholte Trevisan nachdenklich.

»So steht es im Bericht der Annaberger Kollegen.«

»Warum stand das Gehöft leer? Ich meine, da lebten doch Menschen. Drei Familien sollen es gewesen sein. Hat er darüber auch etwas gesagt?«

Monika nickte. »Da gab es offenbar Ärger mit den Besitzrechten. Jemand aus dem Westen hat es zurückgefordert. Es war einmal Privatbesitz und wurde zu DDR-Zeiten zwangsenteignet. Nach der Wende gab es eine Rückforderungswelle von zwangsenteignetem Staatsbesitz in der ehemaligen DDR, und nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sah es für die Kläger gar nicht schlecht aus. Möglicherweise war das der Grund dafür, weshalb das Gut aufgegeben wurde.«

»Konnte der Kollege auch etwas über die Habichs berichten?«

Sie erhob sich und schüttelte den Kopf. »Leider nein, er kannte sie nicht einmal.«

»Dieses Jöhstadt, gibt es dort eine Polizeidienststelle, eine Station oder einen Posten?«

»Fehlanzeige. Das ist eine Kleinstadt. Zweitausend Einwohner mit allen Gemeinden. Tendenz fallend, Annaberg ist dafür zuständig.«

Auf dem Flur waren eilige Schritte zu hören. Trevisan schaute auf, als jemand klopfte. Thorke Oselich stand im Türrahmen. »Es ist so weit, der Staatsanwalt ist da.«

Trevisan blickte auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach zehn und draußen hatte der Himmel alle seine Schleusen geöffnet.

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