Verschollen in Ostfriesland

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5

Basdorf, Accumer Weg

Sie hatten sich wie vereinbart pünktlich um 9 Uhr auf der Dienststelle getroffen und ausgetauscht. Nach der kurzen Besprechung waren sie nach Basdorf gefahren, um das Haus des Bürgermeisters zu durchsuchen. Drei Kollegen der Spurensicherung widmeten sich unterdessen dem Büro im Rathaus von Deichhagen.

Janson von der Vermisstenstelle in Aurich war vor Tagen bereits dort gewesen, doch seine Nachschau war oberflächlich und hatte dem Bürgermeister selbst gegolten. Seit dessen Boot führerlos vor Baltrum aufgetaucht war, musste Trevisan von anderen Voraussetzungen ausgehen. Von einem geplanten Verschwinden, einem Unfall oder gar Mord an Enno Ollmert, alles war möglich. Trevisan und seine Crew mussten gründlich vorgehen und nach Hinweisen suchen, die eine der Thesen untermauerte oder zumindest dazu führte, eine Möglichkeit sicher auszuschließen.

Janson hatte damals das Türschloss aufbrechen müssen und es anschließend durch ein anderes ersetzt. Die dazugehörigen Schlüssel hatte er an Trevisan übergeben.

Das Haus lag am Ende des Dorfes in einem Neubaugebiet unmittelbar vor den weitläufigen Wiesen und Feldern. Es war ein modernes Dreigiebelhaus mit üppigen Glasfronten und sah neu aus. Die weiß getünchte Fassade war durch blaue Umrahmungen der Fenster aufgelockert und das Grundstück um das Haus mit Rasen und jungen Büschen und Sträuchern bepflanzt. Eine Mauer oder einen Zaun gab es nicht. Schmale, graue Rabatten grenzten das Grundstück zur Straße und zur Nachbarschaft ab.

Die Innenjalousien waren herabgelassen, so wie es auch in Jansons Akte beschrieben war, was dafür sprach, dass Ollmert das Haus vor seinem Verlassen entsprechend gesichert hatte. Ein kontrollierter und geplanter Aufbruch, dachte Trevisan, als er vor der blauen Eingangstür mit den beiden Dreiecksfenstern stand und das Schloss öffnete. Im Haus selbst war alles ordentlich und sauber hinterlassen worden. Trevisan blickte sich um. So ähnlich sieht es aus, wenn jemand für ein paar Tage wegfährt. Allerdings hatte er erwartet, dass ein Bürgermeister innerhalb einer Woche mehr Post erhielt, doch auch so etwas ließ sich heutzutage steuern.

Monika, Lentje und Lisa sowie Krog und drei seiner Spurensicherungsexperten folgten ihm ins Haus. Eike war auf der Dienststelle geblieben, um weitere Details über Enno Ollmert herauszufinden und noch einmal mit dem Provider von Ollmerts Handy zu sprechen. Aber auch, um die Liste der Namen zu überprüfen, die Monika und Trevisan von der Chefsekretärin erhalten hatten. Möglicherweise ergab sich daraus ein konkreter Ermittlungsansatz.

Trevisan ging über den Flur, der mit grauen Marmorplatten ausgelegt war, und betrat das Wohnzimmer. Ollmert bevorzugte eindeutig die nüchterne Moderne. Abstrakte Gemälde verzierten die weißen Wände, und eine Designer-Sitzkombination, in schwarzem Leder gehalten, stand inmitten des Raumes, davor ein niedriger Glastisch. An einer Wand stand eine Vitrine, an der Stirnseite prangte ein riesiger Fernseher an der Wand. Darunter stand ein Lowboard in weißem Lack gehalten. Ein Highboard in der Ecke vervollständigte das Mobiliar im geräumigen, mit hellem Parkett ausgelegten Wohnzimmer. Die Stereoanlage von Bang und Olufson nebst den teuren Lautsprechern, die in den Ecken standen, waren sicherlich nicht billig gewesen. Auch das Mobiliar erschien hochwertig und teuer.

»Was verdient so ein Bürgermeister?«, fragte Lisa, als sie neben Trevisan stehen blieb und das Fernsehgerät bewunderte.

»Der ist in der Gehaltsklasse B eingestuft, soweit ich weiß«, antwortete Trevisan. »Also mehr als ein Polizeidirektor.«

Lisa nickte überrascht und verschwand im Flur. Trevisan schaute sich die Fotos auf dem Highboard genauer an. Drei Bilder gab es dort zu sehen: Ollmert neben seinem Porsche, Ollmert am Ruder seines Bootes und Ollmert vor dem Eiffelturm. Weitere Fotos gab es nicht, offenbar hielt sich der Kreis seiner Freunde und Bekannten in Grenzen.

Trevisan öffnete die Schränke. Dort fand er vorwiegend Bedienungsanleitungen für die technischen Geräte, außerdem ein hochwertiges »Bresser«-Fernglas und in einem Fach im Highboard mehrere Armbanduhren und Herrenschmuck.

»Ausgeraubt hat ihn niemand«, murmelte Trevisan.

»Was hast du gesagt?«, fragte Monika, die das Zimmer betreten hatte, ohne dass es Trevisan bemerkt hatte.

»Ach nichts. Habt ihr was gefunden?«

Monika schüttelte den Kopf. »Krog ist in seinem Arbeitszimmer, da gibt es einige persönliche Unterlagen. Post liegt auf dem Schreibtisch. Ich habe seinen Pass im Schlafzimmer gefunden, ansonsten nur ein paar Tabletten und Medikamente. Einige Schrankfächer sind leer, bei den Anzügen ist noch viel Luft, da könnte einiges fehlen, außerdem fand ich zwei Kofferschutzhüllen, die in den Kleiderschrank geworfen waren. Es müssen ein großer und ein kleiner Koffer gewesen sein.«

»Alles klar. Wenn du fertig bist, nimm Lisa mit und frag in der Nachbarschaft. Vielleicht hat da einer was gesehen.«

Monika nickte und wandte sich um.

»Fangt am besten mit Frau Anderson gegenüber an, sie ist die Letzte, die Ollmert im Garten gesehen hat, er hat ihr noch gewunken«, rief ihr Trevisan nach.

Noch bevor Monika die Tür erreicht hatte, war der melodische Dreiklang der Türglocke zu hören. Monika öffnete. Eine kleine, schmächtige Frau in einem dunklen, hochgeschlossenen, gestreiften Kleid und einem beigefarbenen Kopftuch stand vor der Tür und schaute Monika mit großen Augen an. In der Hand hielt sie einen Schlüsselbund.

»Wo Herr Ollmert?«, fragte sie in gebrochenem Deutsch.

»Wer sind Sie?«, fragte Monika.

Die Frau hob den Schlüsselbund in die Höhe. »Nicht mehr passen, Schlüssel, wo Herr Ollmert, ich muss sprechen.«

Monika fasste in ihre Hosentasche und zog ihren Dienstausweis hervor. »Wir sind hier, weil Herr Ollmert verschwunden ist. Und Sie sagen mir bitte, was Sie hier wollen!«

Die Frau stemmte ihre Arme in die Hüfte. »Ich putzen, Herr Ollmert, schon lange, drei Jahre putzen hier, wo Herr Ollmert?«

»Martin, kommst du mal!«, rief Monika in den Flur. Trevisan kam aus dem Wohnzimmer. Monika wies mit dem Kopf in Richtung der Frau. »Sie sagt, sie putzt hier.«

Trevisan zuckte mit der Schulter. »Von einer Putzfrau weiß ich nichts.«

»Jetzt weißt du es, ich geh rüber zu Frau Anderson«, entgegnete Monika und ging an der Frau vorbei.

Trevisan zeigte seinen Dienstausweis. »Sie putzen hier?«

»Ja, putzen, wo Herr Ollmert?«

»Herr Ollmert ist verschwunden«, entgegnete Trevisan. »Wir sind von der Polizei und suchen nach ihm.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nix verschwunden, machen Urlaub.«

Trevisan bat die Frau ins Haus. Er führte sie ins Wohnzimmer und bot ihr Platz an. Sie hieß Enisa Yilmaz, wohnte am anderen Ende von Basdorf und putzte seit drei Jahren für den Bürgermeister. Sie wusste, dass Ollmert vor einer Woche in Urlaub gefahren war, und hatte ihm sogar beim Kofferpacken geholfen. Er hatte ihr erzählt, dass er in den Süden nach Italien fahren und ausspannen wolle.

»Wie groß waren die Koffer?«, fragte Trevisan, um abschätzen zu können, wie viel Kleidung Ollmert auf seine Reise mitgenommen hatte.

Sie zeichnete ein großes Quadrat in die Luft und anschließend ein um die Hälfte kleineres.

»Was nahm er mit auf seine Reise?«

Die Frau zuckte mit der Schulter. »War Anzug, ganz feine, drei oder vier, war kurze Hosen, Shirt und Unterwäsche, was man braucht bei baden gehen in warme Tage.«

»Hat er auch gesagt, wann er zurückkommt?«, fragte Trevisan.

»Er gesagt, eine Woche bleiben, dann wiederkommen. Müssen da sein jetzt heute.«

»Wie oft putzen Sie bei ihm?«

Die Frau wiegte den Kopf hin und her. »Ich putzen einmal Woche immer Donnerstag, dann manchmal er anrufen und fragen putzen. Ich kommen, wenn ist Zeit.«

»Haben Sie am letzten Donnerstag geputzt?«

»Ich putzen und legen Post in Zimmer oben.«

Trevisan warf einen Blick durch die offene Wohnungstür in den Flur. »Moment«, sagte er, ehe er zum Briefkasten ging, an dem der Schlüssel steckte, und ihn öffnete. Es waren mehrere Briefe darin, aber keine Werbung und keine Zeitung. Bevor er zurück ins Wohnzimmer ging, warf er einen Blick nach draußen. Auf dem Briefkasten klebte ein weißer Aufkleber mit roter Schrift. »Keine Werbung einwerfen!«, stand darauf geschrieben. Wahrscheinlich war das der Grund, dass es keine Werbeprospekte gab. Als er zurück ins Wohnzimmer ging, schaute er die Briefe durch. Zwei Postwurfsendungen von Firmen aus der Umgebung und drei Briefe, die frankiert worden waren. Sie stammten von einer Bank, dem Pfarramt und vom örtlichen Fußballverein. Er setzte sich zur Putzfrau an den Tisch und zeigte ihr die Briefe. »Ist es normal, dass Herr Ollmert innerhalb einer Woche so wenig Post bekommt?«

»Nicht viel Post, nicht Woche, Briefkasten geleert Sonntag, habe gelegt Briefe in Zimmer oben.«

»Sie waren am Sonntag hier?«, fragte Trevisan überrascht.

Die Frau nickte. »War in Gegend, war früh am Morgen, vielleicht 10 Uhr, habe geleert Postkasten.«

»Und Ollmert war nicht hier und seine Koffer auch nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht hier.«

»War sonst etwas ungewöhnlich im Haus?«, fragte Trevisan.

Die Frau warf Trevisan einen fragenden Blick zu.

»Sah es aus, als ob jemand drinnen war, Herr Ollmert vielleicht oder jemand anderes?«

Sie lächelte. »Nix drinnen, alles sauber und gut, wie Donnerstag.«

Trevisan überlegte. »Ach ja, eine Frage noch: Las Herr Ollmert Zeitung, wir haben keine Zeitungen gefunden.«

»Er immer lesen Büro, keine Zeitung in Haus.«

 

Bevor Trevisan die Putzfrau gehen ließ, führte er sie ins Schlafzimmer und zeigte ihr im Schrank die leeren Fächer.

Sie nickte. »Gepackt in Koffer, Shirts und Hemd und Anzüge, drei und kurze Hose für Süden, so viel gebraucht dort für Urlaub.«

»Hatte Herr Ollmert ein Fahrrad?«

Die Frau nickte. »Ja, haben Rad, schwarz und rot, alte Fahrrad, für Mann. Stehen Garage.«

Trevisan notierte sich die Adresse und die Telefonnummer der Frau, ehe er sie gehen ließ. Eine Stunde später verließen sie mit mehreren gepackten Kisten das Haus. In der Garage stand nur der Porsche des Bürgermeisters, ein Fahrrad war dort nicht zu finden.

»Weder Geldbörse, Ausweis oder Führerschein haben wir gefunden«, berichtete Krog. »Oben im Schreibtisch war eine Geldkassette mit rund 400 Euro. Außerdem fanden wir Kontoauszüge, ein Sparbuch mit 4.288,12 Euro Guthaben und Unterlagen eines Fondsparvertrages im Wert von knapp 13.000 Euro.«

»Von wann stammt der letzte Kontoauszug?«, fragte Trevisan.

»Anfang des Monats.«

»Sonst nichts?«

Krog wies auf die Kartons. »Das Material müssen wir erst sondieren, und für die verschlossene Post benötigen wir einen richterlichen Beschluss.«

Trevisan nickte. »Ich dachte, ein Bürgermeister hat mehr auf der hohen Kante. Er verdient doch bestimmt 6.000 Euro im Monat.«

»Laut Kontoauszug genau 5.612,21 sowie eine Aufwandspauschale von 422 Euro von einem Bürgerverein, um genau zu sein«, stellte Krog klar.

»Habt ihr einen Computer gefunden?«

Krog schüttelte den Kopf.

Trevisan runzelte die Stirn. »Das ist ungewöhnlich«, sagte er.

»Mit seinem Büro sind wir durch, da gibt es einen Computer der Stadtverwaltung, aber da sind keine persönlichen Dateien darauf«, berichtete Krog.

»Ein Mann wie Ollmert und keinen persönlichen Computer?«, murmelte Trevisan nachdenklich. »Das kann ich kaum glauben.«

»Vielleicht hat er einen Laptop und hat ihn bei sich.«

Trevisan nickte. »Könnt ihr das herausfinden?«

Krog atmete tief ein. »Mal sehen, was sich machen lässt.«

*

Er hieß Valentin Jokisch, war Rentner und wohnte am Ende der Accumer Straße. Er kannte den Bürgermeister flüchtig. Manchmal unterhielten sie sich sogar, wenn Jokisch seinen dreijährigen Labrador ausführte und sie sich begegneten. Frau Anderson aus dem Haus gegenüber hatte bestätigt, dass sie den Bürgermeister am Samstag vor einer Woche, so gegen 14 Uhr nachmittags, im Garten gesehen und er ihr zugewunken hatte. Er war alleine gewesen, mehr konnte sie nicht sagen. Die weitere Nachbarschaft konnte keine ergänzenden Angaben machen. Herr Jokisch hingegen hatte am Samstag vor zwei Wochen eine durchaus interessante Beobachtung gemacht. Er hatte Monika auf seine Terrasse gebeten und ihr ein Glas Wasser eingeschenkt, ehe er sich zu ihr an den Tisch setzte.

»Normalerweise gehe ich früher mit Sami raus, aber er hatte Probleme mit der Verdauung«, holte der Rentner aus. »Ich laufe meist über die Accumer Straße hinaus in die Felder und dann zurück. Weil ich aber den Weg schon gelaufen bin, ging ich diesmal runter in die Hager Straße und von dort aus über den Westermarscher Damm, da kommt man auch über die Felder hinten herum in die Accumer Straße und zu mir nach Hause.«

Monika nippte am Glas.

»Es war schon dunkel, und ich war gerade im Westermarscher Damm, dort am Hofladen, da konnte es Sami nicht mehr halten.«

»Was geschah dann?«, fragte Monika, bevor der Rentner ihr weiter von den Verdauungsproblemen seines Hundes erzählte.

»Da fuhr dieser Sportflitzer an mir vorbei«, fuhr der Rentner fort.

»Sportflitzer?«

»Ja, so ein kleiner roter Zweisitzer mit offenem Verdeck. Drinnen saß eine Frau, die hatte ein buntes Kopftuch auf.«

»Weiter?«

Der alte Mann wiegte den Kopf hin und her. »Der Flitzer hielt an der Ecke zur Hager Straße und stand dort beinahe zwei Minuten. Dann kam ein Mann angelaufen, der hatte zwei Koffer bei sich, einen großen und einen kleinen Koffer. Die hob er in den Wagen und stieg auf der Beifahrerseite ein. Dann sind die über die Hager Straße in Richtung Dorfstraße weggefahren. Das ging ganz schnell, und ich hatte das Gefühl, das sollte auch so schnell gehen, damit niemand was mitbekommt. Die sahen mich gar nicht, weil ich ein bisschen ins Gelände gegangen bin und hinter einem Busch stand. Bei Sami ist manchmal der Stuhl sehr weich, wenn er Probleme hat, Sie wissen, was ich meine.«

Monika runzelte die Stirn. »Und dieser Mann hatte zwei Koffer …«

»Der Bürgermeister war das, und der hatte zwei Koffer, die er in den Fond gehoben hat. Die waren wohl zu groß für den Kofferraum, oder der war schon voll. Man hört so einiges über den Ollmert. Der soll es mit den Damen nicht so genau nehmen, und die hatten wohl ihre Gründe, dass niemand was sehen sollte.«

Jokisch zwinkerte.

»Sie sind sich sicher, dass es der Bürgermeister war? Es war doch schon dunkel.«

Jokisch nickte. »Da oben, wo sie standen, ist eine schöne helle Laterne über die Straße gespannt, und ich kenne ihn, wie gesagt.«

»Was für ein Auto war das?«

»Ein roter Sportwagen, ohne Dach, so ein kleiner Zweisitzer.«

»Marke?«

Jokisch zuckte mit der Schulter. »Da kenne ich mich nicht so gut aus, aber das Kennzeichen war aus Bremen, mehr konnte ich mir nicht merken, nur HB, aber da bin ich sicher.«

Monika hatte ihr Notizbuch gezückt und notierte die Daten. »Wissen Sie noch, wann das genau war?«

Der Rentner überlegte. »Ich bin raus, da war es 22 Uhr, ich schätze gegen 22.30 Uhr. Als ich zurückkam, lief schon die Sportschau im Zweiten.«

»Zu der Dame können Sie nichts weiter sagen?«

Jokisch schüttelte den Kopf. »Alt war sie nicht, sie trug ein Kopftuch, ihr Gesicht sah ich nicht.«

Monika trank ihr Glas leer und bedankte sich bei dem alten Mann. Vielleicht war damit zumindest geklärt, wie Ollmert von hier weggekommen war. Nun galt es herauszufinden, welche Beziehung er zu einer Dame aus Bremen unterhielt, die einen roten Sportflitzer fährt. Leicht war dies sicherlich nicht.

6

Kriminalpolizei Wilhelmshaven, Mozartstraße

An der Pinnwand im Soko-Raum waren weitere Fotos hinzugekommen. Bilder des Wohnhauses, Fotos vom Boot und von der Blutlache auf Deck nahe der Reling sowie eine Karte mit gelben Fähnchen. Sie zeigten, wo sich der Bürgermeister vor seinem Verschwinden aufgehalten hatte und den Ort, an dem das Boot vor der Küste aufgebracht worden war.

Neben Trevisan und seiner Crew hatte sich auch Krog von der Spurensicherung am langen Tisch eingefunden. An der Stirnseite neben Trevisan saß Thorke Oselich, die Chefin. Es war Spätnachmittag, und es galt, die bisherigen Ermittlungsergebnisse zusammenzuführen. Seit dem Verschwinden von Enno Ollmert waren inzwischen 14 Tage vergangen, und noch immer stand nicht fest, was dem Bürgermeister widerfahren war. Trevisan räusperte sich, als er das Meeting eröffnete. »Seit zwei Tagen haben wir den Fall auf dem Tisch, und so wie es aussieht, hat sich Janson von der Vermisstenstelle nicht unbedingt ein Bein ausgerissen und die Ermittlungen vorangetrieben. Zumindest ist eine europaweite Ausschreibung des Mannes im Fahndungssystem erfolgt, Wohnung und Büro wurden durchsucht. Dennoch stehen wir mit leeren Händen da.«

»So langsam wird die Presse ungeduldig«, verkündete Thorke Oselich. »Ein verschwundener Bürgermeister ist eine Schlagzeile wert, vor allem, wenn der verschwundene Bürgermeister eine schillernde Persönlichkeit ist wie Ollmert, der genügend Raum für Spekulationen offen lässt. Wir sollten bald etwas vorweisen können, bevor die Hypothesen ins Uferlose ausarten.«

»Richtig«, stimmte Trevisan zu. »Wir tragen alle Fakten zusammen und versuchen nach und nach die Lücken zu füllen. Fakt ist, dass Enno Ollmert von seiner Nachbarin am 15. Juni in seinem Garten letztmalig gesehen wurde. Er hatte vor, eine Woche Urlaub in Italien zu machen, und sollte am Montag, dem 24. Juni wieder sein Amt antreten, was er nicht tat. Am Abend meldete ihn seine Sekretärin vermisst.«

»Es gibt die Zeugenaussage eines Nachbarn, dass der Bürgermeister am Tag seines Verschwindens gegen 22.30 Uhr an der Ecke Hager Straße, Westermarscher Damm in einen roten Sportwagen, einen Zweisitzer-Cabrio mit Bremer Kennzeichen stieg, der von einer Frau gelenkt wurde«, fügte Monika hinzu. »Er hatte zwei Koffer bei sich. Genau diese Koffer und die entsprechende Kleidung fehlen im Haus. Der Wagen fuhr dann über die Dorfstraße davon.«

»Das deckt sich mit der Aussage der Reinemachefrau, die ebenfalls von zwei Koffern unterschiedlicher Größe sprach und von dem Urlaub wusste«, bestätigte Trevisan. »Es sollte in den Süden nach Italien gehen.«

Eike nickte. »Ich habe das Handy des Bürgermeisters überprüft. Es wurde um Mitternacht abgeschaltet und hat sich seither nicht mehr ins Netz eingeloggt. Der letzte Sendemast, bei dem der Log-Out erfolgte, steht in der Nähe der A1 bei Vechta.«

Trevisan blickte Eike fragend an. »Und wenn es sich irgendwo im Ausland wieder eingebucht hat, weil er es vielleicht laden musste?«

»Dann müssten wir wissen, wo das war, und benötigten einen erweiterten Beschluss, damit die ausländischen Behörden eine Ortung durchführen.«

Trevisan schrieb das Wort »Ortungsbeschluss« auf den Notizblock, der vor ihm lag, und wandte sich Krog zu. »Habt ihr was gefunden, das uns weiterbringt?«

»Wir haben das Haus und sein Büro in der Stadtverwaltung durchsucht«, sagte er. »Im Haus gibt es keine Spuren eines Einbruchs oder einer Auseinandersetzung. Es wirkte tatsächlich so, als ob der Mann in den Urlaub gefahren ist. Und die Sache mit der Post hat sich dann ja auch durch die Putzfrau aufgeklärt. Die ungeöffneten Briefe waren von der letzten Woche, der älteste Poststempel stammte vom Montag, dem 17. Juni, der jüngste Brief trug den Poststempel vom 26. Juni. Da Koffer und Kleidung fehlen, dürfte er zwischendurch nicht zu Hause gewesen sein. Wir haben weder Geldbörse noch Ausweis oder Führerschein gefunden, auch ein Schlüsselbund lag da nicht. Vom Boot …«

Trevisan hob abwehrend die Hand. »Dazu kommen wir noch, lasst uns chronologisch vorgehen.«

Krog meldete sich wie ein Schüler im Unterricht. »Sollten wir die Post auswerten müssen, dann benötigen wir einen richterlichen Beschluss«, sagte er.

Erneut notierte Trevisan die Info.

»Und im Büro?«

»Nichts von Bedeutung für unseren Fall.«

»Gut, machen wir also weiter«, seufzte Trevisan. »Wir wissen nicht, wo und mit wem Ollmert die vergangene Woche verbrachte, wir wissen nur, dass die Küstenwache am gestrigen Tag gegen Mittag die Segeljacht von Enno Ollmert vor Baltrum führerlos aufbrachte. An Deck befand sich eine große Menge Blut.«

Krog räusperte sich. »Die Blutgruppe stimmt mit der von Ollmert überein, wir fanden einen Blutspenderausweis in seinem Schreibtisch. Die DNA-Erhebung dauert an, das Ergebnis erwarte ich frühestens Mitte nächster Woche.«

Thorke Oselich wies auf das Foto mit der Blutlache. »Das ist eine Menge Blut. Überlebt ein Mensch, der solch eine Menge Blut verliert?«

Krog nickte. »Ein halber bis ein Liter, die Lache wirkt deshalb so groß, weil sie mit Wasser durchsetzt ist. Ich denke nicht, dass ein solcher Blutverlust lebensbedrohlich ist.«

»Wie kann das passiert sein?«, fragte Eike.

Krog erhob sich und ging zur Pinnwand. Er zeigte auf den Bootsmast und den daran befindlichen Großbaum, an dem die Unterkante des Segels befestigt war. »Der Großbaum ist nach oben und nach jeder Seite hin beweglich, dafür sorgt das Lümmellager. Das Unterliek des Segels ist daran befestigt. Bei plötzlichen Richtungsänderungen oder drehendem Sturmwind kann es durchaus sein, dass dieser Baum mit Schwung von backbord nach steuerbord schlägt, wenn er nicht richtig festgemacht ist. Ein erfahrener Skipper weiß das und hält den Kopf unten. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass ein schwingender Baum auf einen Kopf trifft – und das kann böse enden. Allerdings war in den vergangenen Tagen weder Sturm, noch haben wir am Baum selbst irgendwelche Spuren gefunden. Das könnte aber auch daran liegen, dass Spritzwasser alles abgewaschen hat. Wer weiß, welche Kapriolen das Boot mitgemacht hat, nachdem es führerlos im Teich trieb.«

Lentje richtete sich auf ihrem Stuhl auf. »Ollmert war nach Auskunft des Hafenmeisters von Neßmersiel ein ausgezeichneter Skipper. Außerdem sagt der Hafenmeister, dass das Boot am Sonntag, dem 23. Juni noch am Anleger lag und am Montag gegen 10 Uhr morgens weg war. Der Jachthafen ist eingezäunt. Ollmert hat einen Schlüssel für die Zugangstür.«

 

»Flut war an diesem Tag zwischen 4 Uhr und 10 Uhr, da muss er irgendwann ausgelaufen sein«, fügte Krog hinzu. »Untypisch ist allerdings, dass der Sprit des Hilfsmotors nahezu leer war und es keine Vorräte an Bord gab. Kleidung und Koffer waren nicht an Bord.«

Trevisan kratzte sich am Kinn. »Okay, das sind die harten Fakten. Um genau zu wissen, dass es tatsächlich Ollmerts Blut ist, müssen wir den DNA-Abgleich abwarten.«

»Wir brauchen auch einen Beschluss, um seine Konten zu überprüfen«, warf Eike ein. »Wer weiß? Vielleicht hat er an seinem Ferienort Geld abgebucht.«

Trevisan notierte Eikes Vorschlag auf seinem Notizzettel, ehe er fortfuhr:

»Im Rathaus haben wir erfahren, dass Ollmert Drohbriefe erhalten hat. Wir lassen sie gerade untersuchen. Außerdem ist Ollmert inzwischen sehr umstritten, und seine Wiederwahl im nächsten Jahr steht auf der Kippe. Es gibt einige, die nicht gut auf ihn zu sprechen sind. Unter anderem, weil er keinen Halt vor verheirateten Frauen macht und weil er einige, nicht mit dem Gemeinderat abgesprochene Entscheidungen gefällt hat. Diesen Behauptungen müssen wir nachgehen, überhaupt müssen wir seinen Lebenswandel näher betrachten.«

Thorke Oselich blickte ihre Tischnachbarn fragend an. »Und was sind die bisherigen Theorien? Was soll ich der Presse sagen oder dem Landrat, der mich heute Morgen mehrmals angerufen hat?«

Eike meldete sich zu Wort. »Also wenn ihr mich fragt, dann ist ein Unfall die wahrscheinlichste Theorie«, sagte er. »Es mag sein, dass er mit einer Frau, wahrscheinlich einer verheirateten Frau, in den Süden gefahren ist. Aber am letzten Montag war er hier und hat mit seinem Boot eine Ausfahrt gemacht und dabei nicht aufgepasst – und bumms, schlug ihm der Mast gegen den Kopf und er fiel über Bord. Ich glaube kaum, dass wir ihn noch lebend finden.«

»Und die Koffer mit der Kleidung?«, fragte Monika.

»Montag sollte er wieder arbeiten«, schob Lisa nach. »Da fährt man doch nicht raus auf die Nordsee.«

Eike zuckte mit der Schulter. »Vielleicht sind die Koffer noch bei seiner Ferienbekanntschaft oder in irgendeinem Bahnhofsschließfach.«

Trevisan rieb sich mit beiden Händen über die Wangen. »Ja, das ist eben das Problem. Jede Theorie wirft eine Menge weiterer Fragen auf, und es bleiben Ungereimtheiten. Deshalb wird uns nichts anderes übrig bleiben, als die vergangenen 14 Tage im Leben des Bürgermeisters so gut es geht zu rekonstruieren. Dabei müssen wir ins Detail gehen. Vom freiwilligen Untertauchen, von einem Unfall bis hin zu einem Mord ist für mich derzeit alles möglich.«

Monika nickte zustimmend. »Wenn er den Montag noch frei haben wollte, hätte er auf dem Rathaus anrufen können, und wir hätten einen neuen Logfile vom Provider gemeldet bekommen. Ich sehe es wie Martin, jede Theorie ist möglich, solange wir nicht mehr wissen.«

Trevisan schob seinen Notizblock der Chefin zu. »Ich gehe davon aus, dass wir bis morgen die Beschlüsse haben«, sagte er. Thorke Oselich nickte.

»Machen wir uns an die Arbeit. Eike, du übernimmst die Computerrecherche, Bankkonto, Handyortung und Recherchen nach dem Auto, mit dem er wegfuhr. So viele rote Zweisitzer wird es in Bremen nicht geben. Lisa, Lentje, Monika und ich kümmern uns um die Namen, die auf der Liste von Frau Haferkamp stehen, und du, Paul, hast eine Menge Kartons aus dem Haus des Bürgermeisters getragen. Vielleicht finden wir in den Unterlagen etwas, das uns weiterhilft. Hast du inzwischen herausgefunden, ob er einen Computer hat?«

Krog schüttelte den Kopf.

»Dann müssen wir im Rathaus nachfragen, vielleicht weiß seine Sekretärin, ob er einen Laptop hatte«, beschloss Trevisan und schaute auf seine Armbanduhr. »Aber jetzt machen wir erst einmal Feierabend. Wir treffen uns morgen gegen 8 Uhr.«