Lustige Läufer leben länger - oder zumindest besser

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Kapitel 2

Gesundheitliche Aspekte und Verunsicherung durch einen Laufpapst

In jenen Tagen erschien in der regionalen Tageszeitung die Vorankündigung einer Veranstaltung, die mit der aufkommenden Begeisterung für den Langlauf zu tun hatte. Ein gewisser Dr. van Aaken war von der örtlichen Laufgruppe eingeladen worden und hielt im so genannten Katholischen Vereinsheim in Hof einen Vortrag über Laufen als Ausdauersport. Der Herr, der mir bis dato nicht aufgefallen war, galt als eine Art Laufpapst und bundesweite Koryphäe dieser neuen Laufbewegung. Es war also nicht nur in meinem begrenzten Nordostoberfranken etwas in Bewegung, sondern im ganzen Lande. Das war denn doch eine erstaunliche Entwicklung.

So machte ich mich – immer noch als nichtlaufender Laufinteressierter – auf, dem Vortrag dieses Dr. van Aaken zu lauschen. Ich ging davon aus, dass sich nur ein paar versprengte Idealisten und Esoteriker im tristen Saal des altehrwürdigen Katholischen Vereinsheims einfinden würden. Doch weit gefehlt. Es war gerammelt voll: Läufer, Nichtläufer, Noch-Nicht-Läufer, Dicke, Dünne, Junge, Alte. Allerhand. Ich war schwer beeindruckt von der versammelten Meute, die sich da dicht gedrängt ein Stelldichein gab. Einige der Anwesenden waren in Laufkleidung erschienen, so als ob sie gleich anschließend in die Nacht hinausrennen wollten. Ich fühlte mich leicht verloren, da ich selbst zu diesem Zeitpunkt immer noch kein ausdauernder Läufer war, noch nicht „für ein langes Leben programmiert“ und naturgemäß noch nicht so läuferisch lustig, wie das im Saal von schnatternden Sportlern lautstark propagiert wurde.

Ein paar lokale Laufgrößen, Vereinsvorsitzende und andere Bedeutungshuber begrüßten die Anwesenden. Dann kam Dr. Ernst van Aaken auf die Bühne. Im Rollstuhl. Er redete konzise und prägnant über die Vorzüge des Langlaufs und eine gesunde Lebensführung. Der Impetus des erfahrenen Arztes und Läufers war jederzeit spürbar, sein Vortrag war von einer deutlichen „No nonsense“-Attitüde durchdrungen. Allerdings, so kam es mir zunehmend vor, auch von einer etwas esoterischen, rigiden, nahezu rechthaberischen und missionarischen Haltung, die vom Läufer, oder vom potentiellen Läufer wie mir, so allerhand einforderte. Der Grundtenor dabei war, dass wirklich fast alle Menschen sich zu wenig bewegen, zu fett und zu süß essen, übergewichtig sind – und mit dieser bemitleidenswerten Haltung ihr Leben ruinieren.

Dr. van Aaken vertrat steile Thesen. Seiner Meinung nach müsste der Mensch jeden Tag laufen, mal schnell, meist aber eher langsam und sehr lange, morgens, abends und gegebenenfalls auch nachts, ohne Ausreden. Er sollte nicht nur Normalgewicht haben, sondern mindestens zehn Prozent unter Normalgewicht liegen. Einmal Essen am Tag war nach Meinung des Arztes genug, sonst würde der Appetit zu sehr angeregt. Hielte man das alles konsequent ein, dann würde man ein Leben lang gesund sein, zudem geistig und körperlich fit. Na bravo, dachte ich mir, wie soll der Mensch das leisten? Vor allem: Wie sollte ich das leisten? Würde ein solches prinzipientreues Leben überhaupt noch Spaß machen?

Bei den meisten Menschen im Saal spürte ich während des Vortrags ein gewisses Unbehagen aufkommen, fühlten sie sich doch anscheinend ob ihrer Unzulänglichkeiten in der Lebensführung ertappt, fast etwas blamiert. Einerseits schienen sie einzusehen, dass sie etwas an ihrem Leben ändern mussten, andererseits sollte das Leben doch wohl Freude bereiten und Essen ebenso, oder nicht? Ein liebes, langes Leben lang sich fordern, beim Laufen herumquälen und im Alltag kasteien, war das wirklich eine solch glänzende Idee? Dr. van Aaken jedenfalls war davon überzeugt und bei seinem Vortrag spürten alle, dass er seine Thesen ernst und ehrlich meinte. Wieso aber saß er im Rollstuhl? Eine Verletzung beim Sport?

Nach dem Vortrag standen die Leute im Katholischen Vereinsheim herum und diskutierten heftig, mit und ohne Dr. van Aaken. Einige Läufer und selbst einige Läufer in spe waren begeistert, andere hegten Zweifel an den strikten Thesen, die der Doktor präsentiert hatte. Richtig lustig, so wie es von den Mitgliedern der Lauftruppe des Dr. Laubmann gerne gesehen wurde, waren die Läufer hier im Saal jedenfalls nicht.

Wieso saß der gute Mann nun wirklich im Rollstuhl? Ein knorriger Läufer konnte mir Auskunft geben und schilderte mir, dass Dr. van Aaken ein schlimmes Schicksal erlitten hatte, das schlimmste, das einen Läufer erwischen konnte. Im Jahre 1972 war er beim abendlichen Laufen von einem Auto umgefahren worden, als er eine Straße überqueren wollte, und es mussten ihm beide Beine amputiert werden. Ein furchtbares Los für jeden Menschen, ein niederschmetterndes für einen Läufer und Lauftrainer. Mir fehlten die Worte. Umso bemerkenswerter war, dass er sich nicht in sein Schicksal ergab, sondern sein Leben meisterte, mit Prothesen wieder Radtraining und Gymnastik absolvierte, Vorträge hielt, junge Sportler coachte, herumreiste und Bücher über Laufen, aerobes Training und gesundes Leben schrieb und publizierte. Alle Achtung vor diesem Mann, auch wenn seine gestrengen Lebensentwürfe und Laufthesen für mich unerreichbar schienen.

Ich kaufte mir eines seiner Bücher. Es hieß „Programmiert für 100 Lebensjahre“, umfasste weit über 300 kleingedruckte Seiten und es war harter Stoff, meiner Meinung nach etwas zu moralinsauer und detailversessen. Dr. van Aaken ließ den Leser spüren, dass dieser keine Ahnung hat, er selbst aber von allen sportlichen, medizinischen, physischen, physiologischen und läuferischen Aspekten eine ganze Menge. Das war einerseits beeindruckend, andererseits nervig, vor allem wenn er sich in uferloses Detailwissen erging. Ich las also über maximale Sauerstoffaufnahme ohne Anwachsen einer initialen Sauerstoffschuld, die Vermeidung der Milchsäurebildung, gesteigerte Fermentaktivität und generell über die Vorteile des lebenslangen Laufens, also seiner Meinung nach über Schutz vor Herzkrankheiten, Prävention von Diabetes, Verringerung des Krebsrisikos, Reduktion des Depressions- und Demenzrisikos, antientzündliche Effekte, Reduzierung des Bauchfetts, Optimierung des Fettstoffwechsels, Anti-Aging-Effekt.

All das sind Dinge, die heute in den Medien omnipräsent sind. Damals, in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, hatte kaum einer von ihnen gehört oder gelesen. Mir als Nichtläufer, aber potenzieller Laufkandidat schienen die Ausführungen durchaus stringent.

Doch der Doktor verzettelte sich im Buch meiner Meinung nach im luftleeren intellektuellen Raum. Er lästerte über sinnloses Mittagessen aller Art und fachsimpelte über die Vermeidung lästiger Darmgase durch gesundes Essen. Menschliche Willensschwäche verachtete er grundsätzlich und er empfahl neben dem täglichen langen Laufen die abendliche Lektüre eines guten Buches oder wissenschaftlichen Werkes oder die Hingabe an die Kunst, vor allem die Musik. Das war natürlich sehr schön gedacht, aber wer war denn hier die Zielgruppe? Menschen im täglichen Rattenrennen gaben sich kaum immer abends noch dem Guten, Wahren, Schönen hin, oder?

Es sollte im Buch noch besser kommen, wie man so schön sagt, also eher schlimmer. Dr. van Aakens fixe Idee war, dass das Körpergewicht unbedingt drastisch reduziert werden musste, wobei er bei mir offene Türen einrannte, denn dieser Meinung war ich schon lange, allerdings erfolglos. Er schreckte nicht davor zurück, konkrete Ratschläge zu geben, wie man am besten abnimmt. Seine Empfehlung einer Einsteigerdiät zu diesem Thema gestaltete sich wie folgt:

Tag 1: 5 Eier in Abständen von 3 Stunden und 1 Liter Apfelsaft

Tag 2: 500 g Magerquark und 1500 g Äpfel

Tag 3: 300 g Reis und Tee

Tag 4: 200 g Kalbsschnitzel und 200 g Vollkornbrot mit 20 g Butter, dazu Tee oder Kaffee

Tag 5: 1 Liter Milch und 1 Liter Fruchtsaft

Tag 6: 200 g Pellkartoffeln, 200 g Vollkornbrot, 20 g Butter, ½ Liter Milch, 100 g Gouda, 250 g Magerquark

Tag 7: 200 g Schweineleber, 200 g Pellkartoffeln, 20 g Butter, 100 g Salat, 100 g Tomaten, ½ Liter Milch, ½ Liter Apfelsaft

Generell verdammte er Kakao, Süßigkeiten und Kuchen. Eier allerdings lobte er über den grünen Klee und empfahl ausdrücklich eine Eierkur.

Dass zu viel Zucker, Süßigkeiten und Alkohol schädlich sind, akzeptierte ich. Das war ja allgemeines Wissen und galt schon ewig. Ansonsten war mir das alles zu pingelig und kleinkariert. Ohne mich.

Eine Überlegung wert war sicherlich seine Abgrenzung des von ihm favorisierten Ausdauertrainings vom bis dahin üblichen und populären Intervalltraining. Denn Intervalltraining bedeutete Ausdauererwerb durch kurze Strecken mit relativ großer Intensität und häufiger Wiederholung, nur kurzen Pausen und damit unvollständiger Erholung. Das von Dr. van Aaken propagierte reine Ausdauertraining überzeugt hingegen durch kontinuierliches Steigern des aeroben Stoffwechsels. Man trainierte also, ohne sonderlich zu schnaufen, immer im Sauerstoffbereich.

Kaum war ich einen Moment lang vom Gelesenen überzeugt, erlitt ich wieder einen Rückschlag. Da hieß es bei der praktischen Anwendung des Lauftrainings zum Beispiel: Empfohlen wird bei Mittel- und Langstrecken ein kontinuierlicher Waldlauf oder Straßenlauf von 10–20 Kilometer in wechselndem Gelände, im Tempo nicht schneller, als dass man sich dabei bequem unterhalten kann.

Fein. 10–20 Kilometer, haha. Ich selbst musste erst einmal einen einzigen Kilometer schaffen und erst danach konnte ich an längere Strecken denken. So waren meine theoretischen Anfänge als künftiger Läufer hin- und hergerissen vom Laubmannschen Ansatz eines freudvollen, gesunden, „lustigen“ Laufens, ohne viele Hintergrundreflexionen und dem mit Theorie überfrachteten Laufen Dr. van Aakens.

 

Was ich hier formuliere, ist natürlich eine verkürzte und damit ungerechte Darstellung, aber sie entsprach meinem Grundgefühl zum damaligen Zeitpunkt. Die Situation erinnerte mich an meinen Einstieg ins Tennisspielen. Ich hatte zwei Tennistrainer: einen Tschechen und einen Amerikaner. Mit dem Tschechen kam ich praktisch nie zum richtigen Spielen, weil er sich liebend gerne in der Theorie des Spiels erging. Er predigte die hohe Kunst eines ästhetischen Ablauf des Tennisspiels und gab permanent Befehle: „In die Knie, weit ausholen, vorlaufen, richtig durchziehen! So nicht, sondern Schläger vor dem Körper runter, seitlich stehen, dann schwungvoll in den Topspin“ und so weiter. Das mochte alles richtig sein, machte mich aber ganz verrückt, weil immer etwas mit dem Schlag, der Spielanlage und dem Timing nicht stimmte. Der Amerikaner hingegen zeigte mir kurz, wie er sich das Tennisspielen vorstellte und meinte dann: „So, jetzt spiel einfach mal los, lauf und schlag.“ Während wir spielten, korrigierte er kurz und bündig ab und zu die Schläge, learning by doing sozusagen. Das „tschechische“ Spiel war ästhetischer, eleganter, jedoch für mich im Match erfolgloser, weil ich zu viel dachte. Ähnlich war es jetzt beim Laufen: ein wissenschaftlicher und hochkarätig theoretischer Ansatz kollidierte mit dem praktischen Vorschlag, einfach mal loszulaufen und dann zu sehen.

Egal. Jetzt musste ich endlich einen Startpunkt setzen und laufen, nicht nur in Theorie herumschnüffeln. Da ich ja nicht in Fußballschuhen laufen konnte, ging ich in den Keller, um Turnschuhe zu holen. In einem Regal fand ich ein paar steinharte Uraltturnschuhe. Es war nahezu unmöglich, sie anzuziehen, es war vollends unmöglich, darin zu laufen. Meine unsportliche Vergangenheit ließ grüßen.

Ich wusste, dass in meiner Heimatstadt zwischenzeitlich ein kleiner Lauf-Shop am Rande der Innenstadt eröffnet hatte. Eine Premium-Lage war für solche Läden damals noch nicht denkbar. So machte ich mich zu dem Laufladen auf und traf dort auf eine sympathische Mittvierzigerin, die Ladeninhaberin. Sie war offensichtlich selbst Läuferin, jedenfalls schien sie sich mit Laufschuhen auszukennen. Viel anderes hatte der kleine Laden im Gegensatz zu heutigen auf das Laufen spezialisierten Sportshops auch nicht zu bieten. Lediglich ein paar Laufshirts und Shorts hingen an den Wänden, ein Karton mit Energieriegeln lag auf dem Tresen.

„Hallo, ich möchte gerne ein paar Laufschuhe kaufen“, sagte ich brav.

„Hallo, ja, prima. Haben Sie da an etwas Spezielles gedacht?“, fragte die freundliche Frau.

„Also, nicht wirklich. Halt so zum Laufen.“

„Welche Strecken laufen Sie denn so?

„Äh, tja, eigentlich laufe ich noch gar nicht. Ich wollte mit dem Laufen erst anfangen.“

„Prima, gute Idee. Laufen ist Klasse. Macht echt Spaß.“

Dieser kleine Motivationsschub freute und bestärkte mich.

„Na, zeigen Sie mir mal, was Sie so für Laufschuhe im Angebot haben“, sagte ich.

„Sind Sie ein Normalläufer, ein Pronierer oder ein Supinierer?“

„Äh, wie bitte?“

„Na, laufen Sie normal oder nach innen oder nach außen?“

„Ein Orthopäde hat mir mal gesagt, ich habe Senk-, Knick- und Spreizfuß. Oder so ähnlich.“

„Tja, die Orthopäden. Als ich es mal im Kreuz hatte, hat mir einer geraten, mich möglichst wenig zu bewegen, mich hinzulegen und nicht zu laufen. So ein Trottel. Seit ich laufe, sind alle meine Rückenprobleme weg.“

„Das ist ja fein. Und was nehmen wir jetzt?“

„Laufen Sie mal geradeaus in den Laden hinein.“

Ich lief geradeaus in den Laden hinein. Sie stand hinter mir und beobachtete meine Füße.

„Ganz klarer Fall von Pronierer. Starker Pronierer, würde ich sagen.“

„Was war das noch mal?“

„Sie laufen extrem nach innen. Sie brauchen Laufschuhe mit einer Art Fußbrücke.“

„Und so was haben Sie?“

„Klar. Viele Läufer laufen nach innen. Da gibt es hervorragende Laufschuhe. Schauen Sie mal.“

Ich probierte ein paar recht schick aussehende Laufschuhe eines japanischen Herstellers an, mit denen ich angeblich nicht mehr nach innen laufen würde. Sie passten gut, schienen mir aber vorne an den Zehen zu groß.

Ich lief ein bisschen im Laden herum.

„Nicht schlecht. Aber die sind vorne mindestens ein bis zwei Zentimeter zu lang.“

„Wenn Sie erst mal lange Strecken laufen, werden Sie dafür dankbar sein. Laufschuhe dürfen nicht zu knapp sitzen. Sonst gibt es Blutblasen.“

„So so. Was heißt denn ‚lange Strecken‘‘ für Sie?“

„Na so fünfzehn, zwanzig Kilometer oder mehr.“

„Sie sind lustig. Ich muss erst mal einen Kilometer schaffen.“

„Das werden Sie nach kurzer Zeit. Mit diesen Schuhen laufen Sie wie auf Wolken, versprochen.“

Ich wollte die gute Frau nicht enttäuschen, zahlte einen meinem Empfinden nach erstaunlich hohen Preis für diese Wunderschuhe, klemmte den Schuhkarton unter die Arme und spazierte davon. Zuhause lief ich mit meinen neuen Laufschuhen in der Wohnung herum. Sie trugen sich wirklich sehr komfortabel.

Jetzt gab es endgültig keine Ausrede mehr.

Kapitel 3

Runden auf dem Sportplatz und zunehmende Freude beim Laufen im Gelände

Los ging es morgens an einem sonnigen Spätfrühlingstag. Ich zog es vor, meine ersten Laufversuche nicht abends mit einer Laufgruppe zu absolvieren, um mich als Anfänger nicht zu blamieren und weil ich den anderen Läufern kein Klotz am Bein sein wollte. Zwar hatte man mir erzählt, dass jeder, wirklich jeder, in der Gruppe mitlaufen könne, dass es Gruppen mit unterschiedlichen Niveaus gebe, also welche für Anfänger, Fortgeschrittene und Schnelle, aber beim ersten Mal wollte ich lieber eigenbrötlerisch allein sein.

Doch wohin? Raus ins Grüne fahren und dann vom geparkten Auto weglaufen wollte ich nicht, denn wer weiß, vielleicht übernahm ich mich und konnte dann schauen, wie ich wieder zurückkam. Am simpelsten erschien mir die, Idee einen geeigneten Sportplatz zu finden. Dort konnte ich einfach Runden laufen und notfalls zwischendurch mal ein paar Meter gehen. Das Auto wäre als Zufluchtsort vor dem Tor geparkt und ich könnte jederzeit abbrechen. Ich überlegte und erinnerte mich an einen etwas heruntergekommenen Sportplatz in meiner Heimatstadt, auf dem wir als Schüler früher gelegentlich Sportunterricht hatten, zumindest hätten haben sollen, denn meistens fiel er aus oder wir machten nur Blödsinn. Ab und zu hatten einige Freunde und ich dort in der Freizeit Fußball gespielt. Das war die Idee, dort konnte ich laufen. Es würde kaum jemand auf dem Sportplatz sein, denn es waren gerade Pfingstferien. Somit würde ich meine Ruhe haben.

An jenem herrlichen Morgen betrat ich also den Platz, ging am alten, barackenähnlichen Sportheim vorbei und ein paar Stufen hinab zur Laufbahn. Hervorragend! Es war niemand da, keine Jugendlichen, keine Zuschauer, die mich veralbern konnten, noch keine Vereinsmitglieder beim Frühschoppen vor der Sportgaststätte. Nur ein alter, grummeliger Platzwart schlich herum, aber dem war ich egal. Er ging seinen Aufgaben nach und kratzte irgendwo mit einem Rechen in einer Ecke des Platzes herum.

Also Junge, rief ich mir in Erinnerung, mach langsam, ganz langsam. So begann ich äußerst gemächlich auf der Aschenbahn zu traben. Ich konzentrierte mich darauf, wirklich keinen Deut zu schnell zu laufen, denn, das wusste ich ja inzwischen, das war der Kapitalfehler vieler Anfänger. Erst mal die Längsseite des Spielfeldes entlang, dann die erste Kurve, dann hinter dem Tor vorbei, dann die Gegengerade und am anderen Tor vorbei wieder auf die Ausgangsgerade, die sonst als 50-Meter- oder 75-Meter-Bahn genutzt wurde. Das ging ziemlich problemlos. Ich schwitzte nicht, ich schnaufte nicht. Also weiter, zweite und dritte Runde. Unmerklich schien ich etwas an Tempo zugelegt zu haben, denn schon auf der Gegengeraden der dritten Runde fiel mir das Laufen etwas schwerer. Dummerweise hatten sich in der Zwischenzeit ein paar Vereinsmitglieder oder sonstige Trunkenbolde mit ihren Bieren vor das Vereinsheim gesetzt. Da sie bereits die Weltpolitik geklärt und nichts Sonstiges zu bereden hatten, schauten sie zu mir herüber. Jetzt nur nicht schwächeln, dachte ich mir und lief zügig weiter. Zu zügig, viel zu zügig. Als ich wieder am Vereinsheim vorbeikam, riefen die Stammtischbrüder aufmunternd oder eher spöttisch „hepp, hepp, hepp“. Das empfand ich als lästig, aber ich ignorierte die Zuschauer souverän, tat, als ob ich nichts hörte, und lief weiter. Das wurde leider immer schwieriger. Eigentlich konnte ich nicht mehr so richtig, doch ich durfte mir jetzt keine Schwäche anmerken lassen und lief. Inzwischen schnaufte und transpirierte ich schon bedenklich. Das konnte nicht gesund sein. Die Stammtischbrüder beobachteten mich, hoben die Gläser, prosteten sich zu und feixten. Sie riefen „schneller, schneller, hopp, hopp, hopp“ und warteten offensichtlich auf meinen bevorstehenden Kollaps. Blödmänner! Ich war nun ziemlich außer Atem und musste mir dringend etwas einfallen lassen, um aus dieser Nummer unauffällig herauszukommen und diesen Deppen vor dem Vereinsheim keine Munition für weitere Schadenfreude zu liefern.

Inzwischen wusste ich gar nicht mehr, ob ich schon fünf oder sechs Runden getrabt war, was ich im Grunde als keine zu schlechte Leistung für einen Anfänger empfand. Ich beschloss in meiner zunehmenden Atemlosigkeit, die Gegengerade einfach langsam zu gehen. Damit meine Erschöpfung nicht so auffiel, ruderte und wedelte ich ein bisschen mit den Armen und machte allerhand seltsame gymnastische Bewegungen, damit gar nicht der Verdacht aufkommen konnte, dass ich nicht mehr konnte. Mit hochrotem Kopf gerierte ich mich als Allroundsportler, der mal lief, mal ging, mal Gymnastik betrieb. Kurz: Ich machte aus der Not eine Tugend.

Zum Glück wurde den Saufköpfen vor dem Vereinsheim das Zuschauen mittlerweile zu langweilig und sie konzentrierten sich jetzt auf ihr Schafkopfspiel. Ich drehte noch zwei oder drei Runden, abwechselnd joggend und langsam gehend, und vertrollte mich dann aus dem Stadion.

War das nun gut oder schlecht gewesen? Richtig gut sicher nicht, ganz schlecht auch nicht, aber zufrieden mit mir und der Welt war ich nicht. Ich musste das Laufen sozusagen buchstäblich langsamer angehen, um länger durchzuhalten. Das war klar und das würde ich das nächste Mal versuchen. Auf keinen Fall durfte ich der Versuchung anheimfallen, für die Tribüne schneller zu laufen.

Zwei Tage später war ich morgens wieder auf dem Sportplatz, noch etwas eher als beim ersten Mal, damit ja keiner zuschauen konnte. Der Platzwart kratzte wieder irgendwo herum, sonst ließ sich niemand blicken und ich war mit der Situation zufrieden. Ich drehte mehrere wirklich langsame Runden auf der Aschenbahn und war halbwegs mit mir im Reinen. Dann ging es wieder ab nach Hause unter die Dusche.

Das wiederholte ich mehrere Tage, bis es mir gelang, zehn Runden langsames Laufen ohne Gehpause zu absolvieren. Ich war ein bisschen stolz auf mich und wurde unbefangener und selbstsicherer. Wenn ich wieder einmal etwas später auf dem Sportplatz einlief, saßen die üblichen Morgenalkoholiker schon vor der Sportgaststätte hinter ihren Bieren. Aber mittlerweile hatten sie sich an mich gewöhnt und unterließen ihre doofen Zurufe. Sie ließen den armen Irren da unten einfach kommentarlos um den Platz herumlaufen. Mich störten sie inzwischen nicht mehr.

Ich beschloss, beim Laufen doch ab und zu einmal auf die Uhr zu schauen und stellte hocherfreut fest, dass ich mittlerweile die Runde unter zwei Minuten schaffte. Mir war in Erinnerung, dass Sportplatzrunden unter zwei Minuten schon als recht ordentliche Leistung galten. Es war natürlich ein Unterschied, ob das nur ein- oder zweimal gelang oder mehrere Runden lang.

Ein Doktor Cooper in den USA hatte sich irgendwann einmal über Laufen und Laufzeiten Gedanken gemacht und einen Test entwickelt, eben den so genannten Coopertest, bei dem man in zwölf Minuten so viele Runden wie möglich laufen sollte. Mit diesem dämlichen Geschwindigkeitstest konnte man angeblich die Fitness des Läufers feststellen und damit hatte man uns in der Schule immer wieder sinnlos traktieren wollen. Der Coopertest war zu jener Zeit äußerst modern und in meinen Augen eine hanebüchene Frechheit, denn trainiert hatten wir dafür nie. Wie das eben so üblich war im unsäglichen Sportunterricht in diesem Land, damals und meist heute noch: Irgendwann gab es Tests oder Bundesjugendspiele und vorbereitet waren diese nie. Es ging und geht den Sportlehrern immer nur um etwas Messbares für fragwürdige Noten.

 

Egal. Knapp zwei Minuten für die Runde und das mehrere Runden lang, das fand ich recht ordentlich für einen Anfänger.

Zwischenzeitlich war eine Sportlergruppe am Platz eingetroffen, offensichtlich irgendeine Jugendmannschaft des Vereins. Ich war gerade mit meinem Lauf fertig, rubbelte mich mit dem Handtuch etwas ab und gesellte mich quasi als älterer Laufkollege zu den Jugendlichen dazu. Plötzlich hörte ich den Sporttrainer zu seinen Jungs sagen:

„Also Leute, aufgepasst. Wir fangen erst mal mit ein paar Runden an. Langsam, wie immer. Dann steigern wir und die letzten drei Runden laufen wir volle Kanne. Die stoppen wir dann auch. Ihr wisst, dass auf diesem komischen Platz drei Runden gut 1000 Meter entsprechen, denn die Aschenbahn um den diesen Platz ist ja seltsamerweise nur circa 340 Meter lang. Also, wie gesagt, drei Runden sind ein bisschen mehr als 1000 Meter, damit also zweieinhalb Runden eines normalen Platzes. Ist das klar?“

Die Jungs schauten gelangweilt. Sie wussten Bescheid. 340 Meter hatte der Trainer gesagt? Mir dämmerte, was mit meiner Leistung nicht stimmte. Ich war keine normale 400-Meter-Runde in unter zwei Minuten gelaufen, sondern jeweils nur circa 340 Meter! Mist, dachte ich, so toll war das nun auch wieder nicht. Ich redete mir meine Leistung etwas schön, denn auf einer vorsintflutlichen Aschenbahn zu laufen war ja wohl anstrengender als auf einer modernen Tartanbahn, die höheres Tempo ermöglichte.

Doch meine Leistung würde ich steigern müssen. Mein Ehrgeiz war geweckt und ich verdrängte in den nächsten Tagen, dass es mir im Grunde gar nicht darum gehen sollte, schnelle Runden hinzulegen, sondern um kontinuierliches Laufen längerer Strecken. So drehte ich also beharrlich meine Runden auf dem Platz. Die Stammtischbrüder grüßten mich inzwischen freundlich und wir wechselten ein paar Worte. Für den alten Platzwart war ich Luft.

Mein Einstieg in dieses regelmäßige Läuferleben endete eine Woche später abrupt. Ich bemerkte beim Rundenlaufen aus der Ferne, wie der Platzwart mit etwas auf eine Mülltonne einschlug, konnte aber zunächst nicht genau erkennen, was er da trieb. Beim Vorbeilaufen in der nächsten Runde sah ich, dass er ein lebendiges kleines Kaninchen in der Hand hatte, es ungeniert auf der Mülltonne erschlug und dann hineinwarf. Ich war entsetzt. Das durfte doch nicht wahr sein. So ein Idiot, so ein brutaler Tierschänder. Ich steuerte auf ihn zu und fragte dümmlich, was er da treibe. Er hatte gerade wieder ein Kaninchen in der Hand, schaute mich misstrauisch an und knurrte:

„Was geht dich das an? Lauf deine Runden und halt die Klappe. Die Viecher graben mir den ganzen Platz um. Die mach ich jetzt alle.“

„Das tun Sie nicht“, schrie ich.

„Das werde ich mir von dir Rotzlöffel sagen lassen“, brüllte er und zertrümmerte wieder den Schädel eines Kaninchens. Ich packte ihn am Kragen und zerrte ihn von der Mülltonne weg. Er löste sich aus meinem Griff, ging wutentbrannt auf mich los und plärrte:

„Hau ab, du Pfeife. Du hast hier überhaupt nichts zu suchen. Bist du überhaupt Vereinsmitglied? Schau, dass du verschwindest und lass dich nie mehr blicken, sonst hau ich dir auch noch den Schädel ein.“

Das wollte ich nicht riskieren und so trat ich grummelnd und auf ihn fluchend den Rückzug an. Ich kramte mein ganzes Beleidigungsrepertoire zusammen und deckte ihn damit ein. Nachlaufen konnte er mir nicht, dazu war er zu alt und ich inzwischen zu schnell. Die Stammtischbrüder vor dem Vereinsheim waren begeistert.

Mir war klar, dass ich nichts gegen diesen Barbaren ausrichten konnte. Für mich war das schade, denn damit endeten meine Laufversuche auf diesem Sportplatz. Ich habe ihn nie mehr betreten.

Die Idee des Laufens auf einem Sportplatz wollte ich dennoch nicht aufgeben, sie erschien mir recht praktisch. Ich suchte mir also einen anderen Platz, der während der Woche morgens ebenfalls meist verwaist war, zumindest solange keine Schulklassen des Wegs kamen. Der neue Sportplatz war wesentlich moderner und hatte eine richtige, tatsächlich genau 400 Meter lange Tartanbahn. Ich fragte den Platzwart, ob es ihn störe, wenn ich in der Früh ein paar Runden laufe und schenkte ihm eine Flasche Rotwein, worauf er keinerlei Einwände hatte.

Auf diesem Platz lief alles wie am Schnürchen. Ich drehte auf der Tartanbahn meine Runden, zunehmend ein paar mehr, zunehmend ein wenig schneller und nach zwei weiteren Wochen war ich in der Lage, zehn Runden in einem anständigen Tempo zu laufen, wenngleich noch nicht durchgehend unter jeweils zwei Minuten. Doch bis zu dieser Schallgrenze war es nicht mehr weit, das spürte ich.

So lief ich und lief ich, manchmal jeden Tag, manchmal alle zwei Tage, mal vormittags, mal nachmittags, wie es meine Arbeit gerade ermöglichte, und war mit mir zufrieden. Ab und zu war ich schon früh um sechs Uhr auf dem Platz, der zu dieser Zeit noch nicht geöffnet war. Doch ich kannte in Absprache mit dem Platzwart und der Dreingabe einer weiteren Flasche Rotwein ein Hintertürchen und so konnte ich völlig ungestört meine Runden drehen.

Es war ein richtig gutes Gefühl, frühmorgens zu laufen, dann zu duschen und anschließend zu arbeiten. Ich spürte, dass der Kopf durch das Laufen frei wurde. Selbst die Routine und Monotonie der einsamen Platzrunden, die manch einer vielleicht als äußerst langweilig empfunden hätte, störte mich nicht im Geringsten. Während ich trabte, checkte ich ab und zu die Zwischenzeiten, fixierte zum Zeitvertreib Zwischenziele, zum Beispiel einen markanten Baum an der Gegengeraden oder das Tor an der Kopfseite und zählte die Runden. Es gab sozusagen immer etwas zu tun. Den simplen mentalen Trick, eine längere Strecke in überschaubare Zwischenschritte zu teilen, behielt ich auch später beim Laufen bei.

So ging das einige Wochen. Ich war mit mir und meiner kleinen Welt des Laufens zufrieden. Die Frage war, wie es weitergehen sollte, denn natürlich konnte ich nicht für alle Zeiten um einen Sportplatz herum laufen, irgendwann musste der Zeitpunkt des Absprungs ins freie Gelände kommen. Aufgeben jedoch wollte ich die Sportplatzrunden nicht völlig, lieferten sie mir doch Parameter meiner Schnelligkeit beziehungsweise Langsamkeit und meiner Leistungsfähigkeit.

Ich begann damit, öfter einmal aus der Stadt hinaus zu irgendwelchen Wanderparkplätzen zu fahren. Dort stellte ich das Auto ab und lief dann einfach auf einem Forstweg vom Auto weg, kehrte nach wenigen Kilometern um und lief zum Auto zurück. Das war zwar für mich eine neue Laufvariante, aber es war nicht unbedingt, was ich mir auf Dauer vorstellte. So einfach von A nach B laufen, also vom Auto zum Beispiel zur Kreuzung mit der faulen Fichte irgendwo im Wald und dann wieder von B zurück zum Auto, war doch etwas eintönig. Die breiten Wege im Forst zogen sich oft schnurstracks kilometerlang dahin. Ich lief, sah dabei ständig diese schier endlosen Geraden vor mir und hatte nicht den Eindruck, dass ich vorankam. Eine Zeitlang hielt ich das durch, dann fing es an, mich zu nerven.

Zwischenzeitlich war ich bestimmte Flurwege mit dem Fahrrad abgefahren, um die Kilometerzahlen zu messen. Ich war schließlich von meinen Platzrunden gewohnt, die Länge meiner Laufwege zu kennen. Aber insbesondere die Rückwege im Forst, also vom erreichten Wendepunkt B zurück nach A zum Parkplatz erwiesen sich zunehmend als öde und langweilige Angelegenheit. Noch dreieinhalb Kilometer, noch drei, noch zwei, noch einer. Genug.

Ich schaute mich in der näheren Umgebung meiner Heimatstadt nach einer richtigen Laufrunde im Gelände um. Die Kriterien dafür legte ich mir zurecht. Sie sollte nicht zu lang sein, nur circa fünf bis sechs Kilometer, bei Bedarf konnte ich sie ja später zweimal laufen. Ich wollte auch nicht irgendwo in einem Park laufen, wo viele andere Fußgänger unterwegs waren, sondern in Ruhe und möglichst ungestört. Offensichtlich entwickelte ich mich doch zum läuferischen Einzelgänger. Die Strecke sollte zudem ein bisschen abwechslungsreich sein, gerne leicht hügelig durch Feld und Wald führen und vor allem nicht zu lange, nervtötende Geraden aufweisen.