Krupps Katastrophe

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2

Das Laub im Park rund um die Villa Hügel hatte sich vom allmählich Einzug haltenden Herbst bereits beeindrucken lassen und trug seinen Teil zur Farbenpracht bei, bevor es in absehbarer Frist unterm rußgetränkten Ruhrdauerregen Kieswege und Rasen mit einem zähen, morbiden Matsch überziehen würde.

Zukunftsaussichten, die allerdings jenem in goldrotes Licht getauchten Oktoberabend des Jahres 1902, an dem mein Großvater seiner Arbeitgeberin erste Resultate vorweisen sollte, ebenso wenig anhaben konnten wie dem mondänen Auftreten Margarethe Krupps. Vornehm gekleidet wie immer und mit generalstabsmäßig zackigem, einer Dame von Chic und Elegance recht eigentlich wenig angemessenem Schritt.

Wenn du mich fragst, Krupps Grethe war wahrlich keine Schönheit. Wird sie wahrscheinlich nie gewesen sein. Bisschen vorquellende Augen, dann diese schwammige, nicht grade zierliche, nun ja, vielleicht nicht ganz Knollennase, aber sagen wir: Rundnase, die ihr Gesicht jedenfalls irgendwie zu weit vorpreschen lässt. Also alles, was recht ist, schön ist anders.

Die feinen, ganz feinen Fältchen der leicht, ganz leicht gekräuselten Haut zwischen ihrer Oberlippe und der Nasenwurzel zitterten wie die Falten vom Balg der Quetschkommode einer nervösen Bergmannskapelle, als sie mit spitzer Stimme fragte: »Haben Sie wenigstens die Fotoplatten retten können?«

»Einen besseren Anker als meine Kamera kann man sich kaum wünschen«, sagte ich, »hat sich mitten im Sturz mit ihrem staksigen Stativ irgendwie im Macchiagestrüpp verkeilt. Und ich hänge dran wie ein Klammeraffe. Und, ja, die Platte, die noch im Apparat steckte, grade frisch belichtet, hat den Sturz auch heil überstanden.«

Solltest du jetzt erwartet haben, dass Krupps Frau sich nach meinem Wohlbefinden in dieser ja nun wahrhaftig brenzligen Situation erkundigen würde, nach Verletzungen, Schrunden und Wunden – Fehlanzeige! Nicht der leiseste Hauch eines Mitgefühls. Immerhin war es bei dem von ihr selbst in Lohn und Brot gestellten Schnüffler in Capri um Leben und Tod gegangen, verdammt.

Indes ein Dragoner im eigentlichen Sinne war sie wohl nicht. Eher: durch und durch die pragmatische Geschäftsfrau. Solange sie ein klares Ziel vor Augen hatte, legte sie eine konsequente, starke, eine höchst sichere Persönlichkeit an den Tag. Und selbst wenn nicht alles zum Besten stand, so gelang es ihr doch irgendwie immer, aus dem verzwirbelten Knäuel noch der widrigsten Umstände ein Packende herauszuwinden. Ohne Frage jedenfalls war sie alles andere als eins jener einfältigen oder für einfältig gehaltenen Weibchen, mit denen sich ansonsten die Tycoons des Kaiserreiches umgaben, um sich nach Patriarchenmanier bräsig in der Sicherheit zu wiegen, dass einem die Gnädigste nicht in die Geschäfte guckte und spuckte und man sich unangefochten von weiblicher Gefühlsduselei auf dem Parkett der großen Politik tummeln konnte.

Zack – war die Krupp stehn geblieben, griff mir in den Arm und stieß hervor: »Und? Fahrenhorst, spannen Sie mich nicht auf die Folter! Was ist drauf zu sehn, auf Ihrer Platte?«

»Also, ich, ehm ...« – Ich weiß auch nicht, eigentlich war Stammeln nicht meine Art, aber hier, aber jetzt ...

»Wollen Sie mehr Geld?«

»Nein nein, gnädigste Frau Krupp, weit gefehlt«, brachte ich mit mehr schlecht als recht gespielter Bestimmtheit raus. »Es ist bloß – also, ich bin noch nicht in die Dunkelkammer gekommen, bin ja man grad erst aus Capri zurück.«

»Aber Sie werden sich doch daran erinnern, was Sie da auf Platte gebannt haben!«, hakte sie ohne Erbarmen nach, und die Oberlippenfältchen zitterten ihr einen aus dem Takt geratenen Preußen-Marsch ins Gesicht.

»Also, ehm, ich glaube, wenn ich mich recht entsinne, dürfte das Foto, also ehm, Ihren werten Herrn Gatten zeigen mit der Angelrute in der Hand beim Sonnenunter...«

»Sie brauchen mich nicht zu schonen, Fahrenhorst«, ging sie mit eilends wieder restaurierter Bestimmtheit dazwischen. »Ich bin im Bilde.«

»Wie bitte – wie meinen Sie das?« Es gelang mir nicht im mindesten, die Verwirrung zu verbergen, die dieser Satz in meinem geplagten Schädel anrichtete, der noch keinen Augenblick zur Ruhe gekommen war nach dieser Reise, die an – im wahren Sinne des Wortes – sich überschlagenden Ereignissen ja nun nicht arm gewesen war.

»Keine Angst« – also das musst du dir auf der Zunge zergehn lassen, wie die mich hier zerpflückte –, »ich nehme es Ihnen nicht übel, dass Sie immer den Kern der Wahrheit ausgespart haben.«

»Ich, ehm ... Ich hab noch ein zweites Foto geschossen von Ihrem Mann, als er grade in fröhlicher Gesellschaft war mit einer illustren Schar von Fischerburschen«, stammelte ich und hoffte, damit fürs erste aus der Bredouille zu kommen.

»Das stand nämlich alles in zwei Briefen an mich«, vernichtete sie meine Hoffnung im Handumdrehn, »die ganze unsittliche Betriebsamkeit meines Mannes auf Capri haarklein beschrieben! In zwei anonymen Briefen. – Fahrenhorst, haben Sie eine Ahnung, wer der Absender sein könnte?«

»Werd ich umgehend rausfinden«, war ich einigermaßen flott zur Stelle. Unter meinem Schädeldach aber schlugen die Gedanken Kapriolen. Wie in drei Teufels Namen war hier eine auch nur halbwegs schlüssige Logik in den Gang der Ereignisse zu bringen?! Mal zurück zu Gernot, ich meine, kannst du dir einen Reim auf dessen Naivität machen? Als systematisch denkendem Ingenieur hätte ihm doch nun wirklich von vornerein klar sein müssen, dass Fritze Krupp mit Kampagnen gegen den Paragraphen 175 nichts würde zu schaffen haben wollen, auf den Tod nicht. Hätt’ er sich ja offenbaren müssen. Und das bei seiner kruppstahlharten Gesetzestreue! Jede Wette, dass der sich sowieso mit Gewissensbissen der übelsten Sorte rumschlug. Da kam er doch überhaupt nicht drumrum, dem Gernot den Tritt der Tritte zu verpassen. Klar, dass der Herr leitende Ingenieur daraufhin am Boden zerstört war; schließlich war ihm da – schnack – die Beziehung zu einem stinkreichen Bewohner des Olymps weggebrochen. Und vielleicht, ich meine, wer will das wissen, wirst du auch nicht von der Hand weisen können, vielleicht hat er Krupp ja tatsächlich geliebt. Soll selbst unter Schwulen vorkommen. Jedenfalls weidwund wie er war, hat Gernot sich dann wahrscheinlich postwendend hingesetzt und die anonymen »Aufklärungsbriefe« an Krupps Frau geschickt. Rache pur. Oder, was meinst du – obwohl du kennst ihn schließlich auch nicht besser als ich, trotzdem: Meinst du, es ist sogar denkbar, dass er, wo er schon mal dabei ist, kurzerhand seine weltpolitischen Maximen über Bord kickt und die italienische Presse auf den Stand bringt über das, was der deutsche Eisenbaron auf Capri so treibt? Eher unwahrscheinlich, oder? Wie also kam dann die Meldung in dieses linke Käseblatt aus Neapel, wo die ganze Chose öffentlich ausgebreitet wurde? Davon allerdings konnte die Krupp nun überhaupt gar nichts wissen – war ja wohl kaum von auszugehn, dass sie allmorgendlich die revolutionäre italienische Provinzpresse studierte.

Zunächst hatten die italienischen Behörden vorsichtig Bedenken angemeldet und durchaus noch wohlmeinend durchscheinen lassen, man werde dem unrühmlichen Treiben in der ›Grotta di Fra Felice‹ nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag tatenlos zusehen. Bereits im September 1902 dann gab es erste, noch leidlich diskrete Meldungen in italienischen Zeitungen, bis am 15. Oktober schließlich das neapolitanische Blatt »La Propaganda« in elegischer Breite schilderte, was sich so alles bei Krupps Banketten zugetragen haben mochte. Ein Artikel, den sich sodann der sozialdemokratische »Vorwärts« zu Herzen nahm, um auf dieser Grundlage genau vier Wochen später einen ähnlich detaillierten Beitrag zu veröffentlichen, mit allerdings, wie wir wissen, durchschlagender Wirkung.

Während ich mir noch den Kopf zerbrach, hatte Margarethes Krämerseele die Arbeit längst in gewohnter Routine wieder aufgenommen. »Was die entsprechende Extraprämie für die Ermittlung des Absenders dieser Briefe angeht, Fahrenhorst«, sagte sie unvermittelt, »da werde ich mich nicht von der knausrigen Seite zeigen. Aber sorgen Sie mir dafür, dass der Briefschreiber sich bedeckt hält!«

Hinter der kühlen Fassade Margarethe Krupps muss es, nach dem zu urteilen, was Großvater Fahrenhorst mir erzählte, gekocht haben. Bei hinreichend kriminalistischem Spürsinn, wie wir ihn meinem Großvater unterstellen wollen, konnte man leicht auf die Idee kommen, diesen Umstand als Indiz dafür zu deuten, dass auch Frau Krupp, was das – wie noch zu berichten sein wird – unsanfte Ende ihres Mannes anging, in den engeren Kreis der Verdächtigen einzureihen war. Nervosität, zumal versteckte, ist bekanntermaßen ein Verdachtsmoment erster Güte!

3

Nicht lange nach meinem steilen Abflug wird sich in der ›Grotta di Fra Felice‹ die illustre Gesellschaft allmählich aufgelöst haben. Die Capreser Jungs verdünnisierten sich vermutlich in den frühen Morgenstunden, nicht ohne flugs noch mal eben die Penunzen nachzuzählen, die der deutsche Stahlbaron ihnen zum Abschied zugesteckt hatte, sei’s als Schweigegeld, sei’s als Lohn für ihre speziellen Dienste. Gernot und Krupp selbst gönnten sich noch zwei, drei Tage auf Capri, um die Wunden zu lecken. Dann trat auch Krupp mit seinem Ingenieur im Schlepptau die Rückreise an, und Allers zog sich zurück in seine Villa. Was mir alles dieser jungeifrige Informant berichtete, den ich seinerzeit ja bereits an Bord der Fähre aufgetan hatte.

Ganz in der Nähe der Via Krupp lag die Villa Tragara alias »Villa Allers«. Der Maler hatte sie Anfang der 1890er Jahre bauen lassen, bezahlt vom Verkaufserlös seiner Buchillustrationen und vor allem seiner zur damaligen Zeit viel beachteten Mappen mit Zeichnungen. Was die Architektur seiner Villa anging, bediente er sich des traditionellen Capreser Formenkanons und stattete seine Veranda mit weinüberwucherten Pergolas und Säulenreihen aus. Und mit einer Steinbank, deren Sitzfläche auf weiß verputzten Rundbögen ruhte, die an den »Arco Naturale« erinnerten, jenen wenn auch nicht weißen Klippenrundbogen, der unten mit nassen Füßen vor der Küste steht, gleich vis-a-vis der Villa, im leuchtend blauen Wasser draußen.

 

Wenn er nicht gerade auf einer seiner vielen Reisen war, saß Allers mit Vorliebe auf eben dieser Bank, eine Karaffe Rotwein und eine Schale Früchte auf einem wilhelminisch verschnörkelten Tischlein daneben, umarmte seine Plauze und blickte hinaus aufs Meer, das unten gegen die Steilklippen brandete und sich in weiter Ferne an den Himmel schmiegte.

Weiß ich nicht, ob man sich auf meinen Informanten verlassen kann, aber dass der dicke Teutone die Tage nach dieser Nacht der tödlichen Turbulenzen nutzte, um die Szenen des dionysisch ausgeuferten Spektakels in einem ganzen Stapel von Zeichnungen festzuhalten, das trifft mit Sicherheit zu. Selbstverständlich in einem geheimen Skizzenbuch, das Wochen später auf mindestens ebenso geheimen Wegen in meine Finger geraten sollte. Zu treuen, zu äußerst treuen Händen, wie sich versteht. Nur so viel: Es handelt sich um Zeichnungen, die kein Blatt vor die Augen nehmen. Das ganze schwül ambrosische Ambiente, die mandolinenplinkernde Combo, die pokulierenden Jünglinge in ihrer ganzen Schönheit, nackt wie Gott sie geschaffen hatte. Und sogar die Szene, als Krupp und dieser Giovanni dem langen Gernot und seiner kurzen Wurzel so zusetzten. In allen, ich sage: in allen Einzelheiten! Auch die Aktzeichnungen, die er von dem ein oder andern Fischerburschen anfertigte, waren, was die Offenherzigkeit en detail angeht, nicht grade zimperlich. Er setzte den Jungs Lorbeerkränze auf, postierte sie malerisch auf ein Mäuerchen vor fleischiger Flora und ließ ihre ohnehin spärlichen Gewänder fallen. Oder er hieß einen noch mal die Grottenkutte anziehn, gab einem andern Lanzen und Säbel mit üppigen Knäufen in die Hand. So soff Allers sich ein ums andre Mal satt an den Eindrücken, die diese Nacht der Nächte bei ihm hinterlassen hatte.

In eben jenen Tagen machten auf Capri die wüstesten Gerüchte die Runde über das, was sich in der Bruder-Glücklich-Grotte so alles zugetragen haben mochte. Gerüchte, die hartnäckig behaupteten, der wohlbeleibte deutsche Zeichner wär unter den höchst zweifelhaften Gästen gewesen und habe bei all den sündigen Umtrieben kräftig mitgemischt. Wo diese Meldungen ihren Ursprung nahmen und wie es ihnen letztlich gelang, bis in Allers’ Refugium vorzudringen, das kann ich dir auch nicht sagen. Jedenfalls stieg ihm der Dampf der Gerüchteküche in die Nase. Und – was macht er? Erst mal natürlich mit großer Geste bestreiten, überhaupt dort gewesen zu sein. Und dann, als das beim besten Willen nicht mehr zu halten war, die Festivitäten aufs Niveau eines ganz normalen Banketts mit Meeresfrüchten runterspielen.

Je mehr Christian Wilhelm Allers versuchte, sich gegen die Anwürfe zur Wehr zu setzen, desto mehr nahmen sie an pikanter Schärfe zu. Bis sie sich schließlich zu der Behauptung aufgeschaukelt hatten, der Zeichner aus Germania habe sich nicht nur mit seinesgleichen sündig amüsiert, sondern auch mit Knaben, die keineswegs dreimal sieben Jahre alt waren. Und keine Frage, der Maler muss ganz genau gewusst haben, was das bedeutete.

4

Du glaubst gar nicht, wie froh ich war, als ich endlich unten im Keller meines Essener Häuschens in der Dunkelkammer stand. Mein Zufluchtsort, wenn um mich rum die Luft brannte! Ich plätscherte mit der Fotoplatte in der Entwicklerlauge und war gespannt wie ’n Flitzebogen, was da wohl ans Tageslicht kommen würde. Irgendwann allerdings, ich hab keine Ahnung, wie lang ich schon gebannt auf die Platte in ihrer Brühe da starrte, irgendwann schlug die erholsame Ruhe in fiebrige Ungeduld um. Die übliche Zeitspanne war schon zweimal abgelaufen, die Entwicklung musste längst komplettamente vollzogen sein, aber nichts tat sich. »Himmel noch mal, komm schon!«, murmelte ich und gab der Platte noch mal einen Schubs, damit die Lauge von allen Seiten dagegenschwappen und ihre Arbeit endlich verrichten würde. Dann wartete ich noch mal eine halbe Ewigkeit. »Verdammt noch mal«, entfuhr es mir schließlich, »da ist nichts drauf! Kein Furz ist da drauf.« Ich kippte noch einen ordentlichen Schluck frischen Entwickler nach, ließ ihn die Platte noch mal umspülen, zigmal. Und noch mal.

Irgendwann dann packte ich mir mit der von der Entwicklertunke schwammig aufgedunsenen Hand an die Stirn. »Da ist nichts drauf. Schwarz, zum Deibel, ist das schwarz! Schwarz wie ’ne Fotoplatte nur sein kann. Und bleibt schwarz. Also hat sie doch Licht abbekommen, die Platte! Doch ’n Riss im Gehäuse beim Sturz, vielleicht. Oder das Dingen hat einfach zu lang in der Sonne gelegen auf dem elend langsamen Fischkutter. Jedenfalls der olle Krupp, wie er sich da mit seinen Capri-Jungs tummelt: nichts, absolut nichts von zu sehn.«

Ich ließ mich auf meinen Schemel plumpsen, oder besser gesagt: dahin, wo ich den Schemel vermutete. War aber kein Schemel zur Stelle. Also krachte ich rücklings mit lautem Kladderadatsch auf den Boden und rammte mit dem Steißbein gegen den Fünfzehn-Liter-Kübel mit Fixierbrühe. Egal. Schmerz spürte ich mit diesem Kreisel im Kopf sowieso nicht. Ich kauerte mich einfach auf die kalten Fliesen und sackte in mich zusammen. »Himmels willen, in’ Arsch gekniffen! Nichts da mit dem Foto, das ich der Krupp großkotzig angekündigt hab. Niente. Kein Bild, kein Beweis, kein Geld.«

Dann plötzlich, wie vom Blitz getroffen, sprang ich auf und hörte mich laut rufen: »Und die andern Platten?« Und ich zog eine weitere aus ihrem Holzschuber, legte sie in die Brühe und schaukelte sie hin und her, so gleichmäßig, wie’s mir in meiner Aufregung gegeben war. »Jau, da ist was drauf. Irgendso ’n Idiotenfoto. Klar, die Platte ist heil geblieben! Ausgelöst, als die Trottel über mich herfallen und mir die Kamera wegreißen wollen, völlig schiefe Perspekt... he, warte mal!«, schrie ich. Ich weiß, ich weiß, bisschen seltsam: Selbstgespräche. Zumal für so ’n jungen Kerl, wie ich damals war. Aber hier unten hörte mich ja keiner. »Warte mal! Dieser Gigolo, der kleine schwule Caprifischer, Giovanni oder wie der hieß – das ist ja genau der Augenblick, wo dem einer mit dem Messer ans Fell geht – da ist, das ist doch, kann man genau erkennen: wie dem wer und wer dem das Messer in die Brust ... – Verdammt und zugenäht!«

Kannst dir vorstellen: Ich war wie vor ’n Kopf gehauen! Blieb bloß noch die Frage, wann der günstigste Augenblick gekommen sein würde, um mit der Auflösung rauszurücken. Das Finale Furioso der Tragödie muss schließlich wohl gesetzt sein, wenn’s eine einigermaßen erbauliche kathartische Wirkung erzielen soll.

5

»Es gibt für die ungeheuerlichen Entgleisungen meines Mannes hieb- und stichfeste Beweise, Eure Majestät. Er ist von Sinnen!« Margarethe Krupp stand noch auf der Schwelle des Audienzsaals, wie mir einer meiner Informanten bei Hofe zutrug – ob du’s mir nun glaubst oder nicht, es war die Zeit damals, wo die ganze Welt mit Spitzeln gespickt war, man musste bloß das Portemonnaie ’n bisschen locker sitzen haben; außerdem, schließlich war’s ja nicht mein Geld –, Margarethe also stand auf der Schwelle des Audienzsaals und war, nachdem sie den Kaiser in einem der pompösen Sessel ausgemacht und das Begrüßungszeremoniell im Eilverfahren abgewickelt hatte, ohne weitere Umschweife zur Sache gekommen. »Ich brauche Euch nicht zu versichern, welch schwerer Angang es für mich ist, solche Anschuldigungen in den Raum zu stellen.«

»Gemach, gemach!«, entgegnete der Kaiser mit beschwichtigend sonorer Stimme. »Welcher Art sind denn die hieb- und stichfesten Beweise, die Sie hier annoncieren? Und um welches Vergehen, meine Beste, handelt es sich eigentlich?«

»An uns, Majestät, an Euch und an mir liegt es, dass wir der öffentlichen Verleumdung zuvorkommen und der Name Krupp so unbeschadet als irgend möglich aus dieser delikaten Angelegenheit hervorgeht. Und deshalb muss ich Euch dringend bitten, Euer Hochwohlgeboren kaiserliches Ansinnen darauf zu richten, dass man meinen Gatten ...«

»Nun?«

»Ihr, Majestät, Ihr müsst ihn ... ich flehe Euch an: Ihr müsst ihn entmündigen!«

»Das ist starker Tobak.« Der Kaiser blickte kurz auf.

Während Margarethe Krupp den Blick senkte und langsamen, nicht im mindesten herrschaftlichen Schritts näher kam. Mit hängenden Schultern und brüchiger Stimme resümierte sie: »Hat er sich im Grunde doch längst selbst entmündigt, jede Zurechnungsfähigkeit verspielt. Das dürfte ihm ja wohl bewusst sein, dass er damit nicht nur seine Existenz, nicht nur den Weltrang des Unternehmens aufs Schafott trägt, dass er nicht nur den seit Generationen unbefleckten Ruf seiner Familie den Schmähungen des Mobs ausliefert, sondern«, und plötzlich war ihre Stimme wieder schneidend klar, und ihr Blick richtete sich geradewegs auf ihr Gegenüber, dem es in seinem Sesselplüsch irgendwie unbequem geworden war, »sondern dass er mit seinem liederlichen Treiben auch Sie, Majestät, Sie allerhöchstselbst als seinen Freund und Förderer in Misskredit bringt.«

Der Kaiser wechselte die übereinandergeschlagenen Beine. »Verehrte Frau Krupp, da müsste wahrlich Ungeheuerliches vorgefallen sein, bevor mit Fug und Recht an der Loyalität Ihres Mannes, an der Loyalität des Geheimen Rats Friedrich Alfred Krupp gegenüber Reich und Kaiser zu zweifeln wäre.«

Sie wäre nicht die Krupp gewesen, wenn sie jetzt aufgegeben hätte. Den Anflug eines Knickses in die Knie legend, wagte sie einen weiteren Vorstoß: »Liegt nicht sogar die Vermutung nah, dass aus dem Vergehen meines Gatten der Keim der Disziplinlosigkeit übergreifen könnte auf die Arbeiterschaft?! Dass auf diesem so prächtig vorbereiteten Boden die Agitation der Sozialisten am Ende selbst im Bürgertum verfangen könnte?!«

»Nicht auszudenken.«

»Majestät, wenn ich in dieser schändlichen Sache eine andere Möglichkeit sehen würde als die, meinen armen, verirrten Mann von seiner großen, übergroßen Verantwortung zu befreien ...! Aber eine Entwürdigung diesen Ausmaßes muss Entmündigung nach sich ziehen! – Was nun die Beweise anlangt, Eure Majestät: Es existiert eine absolut desavouierende Fotografie, die meinen Gatten in unmissverständlicher Pose im Kreise graziöser Capreser Jünglinge zeigt.«

Der Kaiser räusperte sich. Langsam schien er zu begreifen, mit was für Dimensionen er es hier zu tun bekam. Er lüpfte kurz den Allerwertesten aus den schwammigen Polstern, um sich grade zu setzen, und streckte, leise ächzend, den Rücken durch. »Lassen Sie die Sache auf sich beruhen! Übergeben Sie mir die Fotografie, ich selbst werde mir die angemessene Behandlung dieses Casus vordringliches Anliegen sein lassen.«

»Ich würde es mir nie verzeihen«, sprang ihm Krupp, die Holde, untertänigst bei, »Dero großmächtiges Engagement über Gebühr strapaziert zu haben.«

»Nein nein. Ehm, doch doch. Legen Sie das Corpus Delicti in meine Hände, Frau Krupp, und ich werde den kaiserlichen Schild über Ihre Familie und das Unternehmen halten!« Und dann hieß Wilhelm sie durch einen kaum erkennbaren Wink seiner Rechten näherkommen, beugte sich weit nach vorn und gab ihr mit vertraulich leiser Stimme zu verstehen, sie möge sie ihm mal eben zeigen, die Fotografie.

Worauf die Kruppsche mit leicht chargiertem Entsetzen zurückwich. »Aber Majestät, Ihr werdet verstehn, dass ich solche Schmutzpapiere nicht im Mieder am Herzen trage.«

»Wollen Sie mir sagen«, der Kaiser war hellhörig geworden, »wollen Sie mir sagen, dass besagte Fotografie gar nicht existiert und nichts ist als eine Fantasiegeburt gekränkter weiblicher Eitelkeit?!«

»Was glaubt Ihr von Eurer allerhöchst Ihnen zutiefst ergebenen Untertanin!«

»So lassen Sie mir die Aufnahme umgehend zukommen!« Wilhelm drohte, ungehalten zu werden, hatte sich aber schnell wieder im Griff. »Ich werde mich für eine diskrete Behandlung der Sache verwenden.«

»Zu gütig, Majestät, aber ...«

»Bedenken Sie, dass Ihr Gatte stets im Höchstmaß an Leib und Seele geläutert von Capri heimkehrte und die Geschäfte mit gewohntem Verantwortungsbewusstsein wieder aufnahm. Das wird auch fürderhin nicht anders sein, da können Sie ganz beruhigt sein. Und nun vertrauen Sie sich für die Rückreise meinem Kutscher an!«

»Hochwohlgeboren, Eure gehorsamste Dienerin empfiehlt sich«, empfahl sich Margarethe und verließ, Knickse aufs Parkett verteilend, den Salon, während der Kaiser ihr ein »Gehaben Sie sich wohl!« hinterherhüstelte.

 

Kaum aber war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, da hämmerte Majestät gedankenverloren einen funkenstiebenden Rhythmus auf die Klingel, und sofort flog die gegenüberliegende Tür auf. Mit servilen Verbeugungen kam sein, ich nehme mal an: persönlicher Adjutant angebuckelt.

»Sie sagten heute früh«, murmelte der Kaiser immer noch ziemlich in Gedanken, »sagten Sie nicht, als wir heute früh über die Verirrungen Friedrich Alfred Krupps sprachen, sein Arzt hätte Ihnen eine allererste Adresse für solche Fälle gegeben?«

»Sehr wohl, Euer Majestät.«

»Also?«

»Die Nervenheilanstalt des Professor Binswanger in Jena.«

»Dann très vite, bestellen Sie meinem ersten, oder nein, meinem zweiten Kutscher, er solle Sorge tragen, dass man Frau Krupp stante pede zur Heilanstalt nach Jena expediere! Und lassen Sie umgehend an Herrn Krupp telegrafieren, dass seine Frau unter dramatischer Geistesverwirrung leide und nach Rücksprache mit den Ärzten ein Sanatoriumsaufenthalt kaiserlicherseits angeordnet worden sei. – Und wenn Sie schon mal dabei sind: Lassen Sie in das Telegramm den Hinweis aufnehmen, dass seine Frau Margarethe über eine ihn dekuvrierende fotografische Aufnahme verfüge. Er möge sich also um eine Sicherstellung dieser Fotografie bekümmern, in seinem eigensten, seinem ureigensten Interesse.«

»Sehr wohl, Majestät«, sagte der Adjutant und wollte eben abtreten, als Wilhelm noch mal anhob: »Und schicken Sie das Telegramm nicht unter dem offiziellen kaiserlichen Absender. Ich denke, wir haben uns verstanden.«

Nun ist auch diese Überlieferung nicht wirklich verbürgt. Und trotzdem wollen wir sie so stehen lassen, wie Großvater Fahrenhorst sie sich – wir wissen nicht aus welchen Quellen gespeist – zusammenreimte. Hätte sich die Szene nicht auf diese Weise abgespielt, so müsste man die Zeit zurückdrehen, die Historie korrigieren und sich das Ganze eben doch exakt getreu dieser seiner Ausführungen zutragen lassen! Einfach nur, weil es so perfekt passt. Womöglich ist das auch der Grund, weshalb ich mich noch aufs Jota an den Wortlaut seiner Erzählungen erinnere, obwohl inzwischen auch schon wieder über vier Jahrzehnte ins Land gegangen sind, seit er mir die Geschichte anvertraute.

Andere historische Quellen wollen, wie mir inzwischen zu Ohren gekommen ist, glauben machen, dass nicht der Kaiser es war, der Margarethe Krupp in die Jenaer Psychiatrie verbringen ließ, sondern ihr Gatte Friedrich Alfred. Wenn auch auf des Kaisers Anraten hin! Dieser soll Krupp mitgeteilt haben, dass man in Berlin weniger ihn, Friedrich Alfred, denn vielmehr seine Frau Margarethe als die eigentliche Gefahr betrachte. Könne doch nicht ausgeschlossen werden, dass sie, verletzt und gedemütigt, wie sie augenscheinlich sei, querschieße bei den ohnedies höchst diffizilen Bemühungen, den um seine, Krupps, Person brodelnden Gerüchtesumpf trockenzulegen und das ganze Debakel in ein anderes, ins rechte Licht zu rücken.

Obwohl sich an dieser Stelle die Frage erhebt, ob denn tatsächlich angenommen werden kann, dass Friedrich Alfred in seiner desolaten Verfassung im Herbst 1902 derart unverfroren gegen seine Frau vorgehen würde. War seine Persönlichkeit nicht weit eher darauf ausgelegt, die Anwürfe gegen sich selbst zu richten und schleunigst die Flucht anzutreten? Selbst wenn der Fluchtpunkt sein eigenes Herz wäre.

Unstrittig ist auf jeden Fall die Tatsache, dass die Krupps ein besonderes Verhältnis zu Professor Binswanger in Jena unterhielten, der seinerzeit als einer der Apologeten der zeitgenössischen Neuromedizin galt. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass Margarethe Krupp einfach nur aus persönlicher Verbundenheit zu Binswanger gefahren ist, um sich Rat zu holen. Und nicht auf kaiserliche Weisung hin. Mag sein, mag alles sein.

Aber noch einmal: Die mir seinerzeit von meinem Großvater übermittelte Variante mit der höchstkaiserlichen Einweisung ist – wenn auch vielleicht nicht bis in die letzte Verästelung hinein historisch belegbar – dramaturgisch um Längen interessanter und soll hier weiters unhinterfragt für bare Münze genommen werden.

Dass jedenfalls Margarethe Krupp sich bis zum Tode ihres Mannes in Jena aufhielt, ist zweifelsfrei überliefert. So vermeldete die Rheinisch-Westfälische Zeitung am 24.11.1902 – Zitat: »Frau Krupp, welche seit längerer Zeit leidend ist und bei Prof. Binswanger in Jena in Behandlung war, traf Sonntagvormittag [...] auf dem hiesigen Hauptbahnhof ein.«

Damit nun ist ein Punkt erreicht, wo nicht mehr zu übersehen ist, dass es hier in dieser ganzen verknoteten Geschichte aber auch nicht einen einzigen Beteiligten gab, der nicht mindestens einen guten Grund gehabt hätte, Friedrich Alfred Krupp ans Leder zu gehen! Angefangen von irgendwelchen zerstrittenen Clans auf Capri, über welchen düpierten Galan auch immer, bis hinein in die engste Familie und die höchsten Staats- und Industriekreise. Nicht einer, der nicht ernsthaft in Frage kommt! Fantasiegespinste meines Großvaters hin oder her.

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