Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5

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Ihre parlamentarische Anfrage, die sachlich eine Entstellung der Situation war, beantwortete der Bundesaußenminister, indem er einen Streit der Geschichtsforschung und der Wahrheit der Kunst einfach kraft seines Amtes zu Pius’ Gunsten entschied; herabgesetzt, nicht etwa dort gezeigt, wo er schon war, habe Hochhuth den Pontifex; die Opposition ließ das durchgehen15. Logisches Paradigma des Spruchs war die bekannte Nestbeschmutzungsthese, welcher aller Schmutz ja, nichts ist für eine Zeit, in der der kleine Mann vorherrscht, so kennzeichnend, ein rein optisches Phänomen ist, erst wenn man den Schmutz sieht, ihn den Leuten zeigt, ist er da. Gleichviel, das Wort ging durch – anders als Deutschland selbst ist die Autorität ja in Deutschland unteilbar, wer in Fragen der Hallstein-Doktrin sie so unbesorgt für sich in Anspruch nimmt, warum sollte er, wie für ganz Deutschland, nicht ohne Bedenken auch für die Wahrheit schlechthin sprechen? Settembrinis Verdikt, das ich an den Anfang dieser Ausführungen stellte, gilt für die Bundesrepublik ohne Einschränkung. Bei präzedenzloser Produktion und Millionenverbreitung von Wörtern bleibt das Wort hierzulande ohnmächtig: nämlich in seiner möglichen Mächtigkeit, in welcher es zunächst und zuletzt das genaueste Wort ist, zuverlässig immer dann ungesprochen, wenn eben auf das Wort, das rechte Wort, alles ankommt – ja dieses allein, in einem unwiederbringlichen Augenblick, noch zur Tat würde.

Diese unwiederbringlichen Augenblicke, ich kann und will sie nicht aufzählen; nicht ein Leitfaden der deutschen Geschichte, die bundesdeutsche Gesellschaft und die Literatur ist mein Gegenstand ja, und so genüge hier die Erinnerung an den letzten solchen wirklich unwiederbringlichen Augenblick, eine Gedächtnisstärkung, die als noch so häufiges ceterum censeo jetzt in jedem Text zu stehen hat, der sich mit der Gesellschaft dieses Landes befaßt. Der Augenblick, in dem diese, da sie es geschehen ließ, in einem sehr alten und sehr einfachen Sinne wieder einmal unehrlich wurde, war im Herbst 1962, mitten in der ›Spiegel‹-Affäre, und das Wort, das ungesprochen blieb, paradoxerweise eine Wortentziehung, verbunden mit einer parlamentarischen Rüge. Nach den Sitten freier Völker hätte beides, die Wortentziehung und die parlamentarische Rüge, von seiten Bundestagspräsident Gerstenmaiers dem Abgeordneten gelten müssen, der beiläufig damals Bundeskanzler war und in dieser seiner Eigenschaft, wissend, daß ihm in Bonn nichts passieren werde, einen unverurteilten Staatsbürger verunglimpfte, einen Teilhaber an der Volkssouveränität, welche dem Buchstaben nach im Parlament etabliert ist; daß das Wort nicht gesprochen wurde, ist restlos erklärbar, eben so restlos aber verwerflich und nur dort also möglich, wo von seiten ihrer selbst wie ihrer Mitmenschen nichts von den Menschen erwartet wird, was ihre Erklärbarkeit überschritte. Hier nähern wir uns rasch dem Zentrum des Themas, denn eine Gesellschaft aus Erklärbarkeiten, eine Gesellschaft aus Unfreien also, mag sie auch theoretisch sich jetzt zur Freiheit bekennen, die Freiheit als Institution in Westdeutschland zunächst sich erhalten, vermag in einer Welt, die das Wort hat, in einer Menschenwelt also, die sich in ihrer Erklärbarkeit nicht erschöpft, sich vielmehr selbst überraschen kann; die durch die spontanen Artikulierungen des Gewissens eben ihre Bedingtheit als Gesellschaft von Natur- und ökonomischen Wesen immer neu übersteigen kann, nicht zu dauern; anders als zunächst noch ihre Industrieprodukte, auf deren künftige Qualitätskonstanz man sich vielleicht schon zu beruhigt verläßt, ist sie in einer Welt von Menschen, die bereits welche sind, nicht wettbewerbsfähig. Wie frei ist denn wirklich derjenige, der entschiedener und plötzlicher Infamie, auch wenn sie aus den eigenen Reihen kommt, nicht ebenso plötzlich und entschieden zu wehren bereit ist, also jetzt gut daran täte, Lord Dennings Profumo-Bericht zu studieren? Wie christlich kann eine Maschine sein, ja ist die Frage theologisch überhaupt sinnvoll? Schweigt Deutschland an der Welt nicht nach wie vor völlig vorbei? Wirkt das, was man in Bonn etwa für eine neue Deutschlandinitiative hält und in Washington dann nicht durchsetzt16, dort nicht darum eben so absurd: so fatal und so komisch, weil eine ideenlose Selbstwiederholung nur nach der Sprachregelung eine Initiative, nach der Sprache aber gerade das Gegenteil, nämlich deren vollkommener Mangel ist – und auf wieviele Jahrzehnte noch kann Sprachregelung über Sprachmangel hinwegtäuschen? Der gemeinsame Ort aller der genannten spontanen Artikulierungen des Gewissens aber ist die Literatur, es ist die Welt des Wortes selbst, ergo müssen die Deutschen, was immer ihre staatlichen Einrichtungen seien, in menschlicher Unfreiheit am Weg der Geschichte bleiben, solange sie dem Wort nicht offen sind, solange sie es nicht haben.

Oder hätten sie es etwa? Spricht und hört der Deutsche seine Sprache? Natürlich lebt, königlich sogar, das deutsche Wort, in seiner ungenützten Freiheit, weltmächtigen Hermetik, vorwurfsvollen Strenge und Verschwiegenheit, aber ist die Bestimmung des Wortes nicht gerade, das Schweigen zu brechen? Ich sehe Amtssprachen, Fachsprachen, Verbandssprachen, Parteisprachen, Gruppensprachen. Ich sehe vor allem Zwecksprachen, in denen Entscheidungen weder offen bleiben noch aus dieser Offenheit heraus dann gefällt werden können, wie der Geist der Sprache selbst, welcher derjenige des Denkens ist, es gebietet, vielmehr dienen diese Zwecksprachen immer vorentschiedenen Meinungen, und eben das ist ihr Zweck, der sich in ihrer Zufälligkeit und Willkür, ihrer unverbindlichen Atemkürze immer verrät, zuverlässig, gesetzvoll: das, worauf der Betrieb angewiesen bleibt, ist die essentielle Hörschwäche, die das Verräterische gar nicht wahrnehmen kann, da sie zu unterscheiden nicht gelernt hat, auch auf Entscheidungen sich daher nicht versteht. Als habe Hegel nie gedacht, fährt der Betrieb (unter anderm) also fort, zwischen Form und Inhalt eines Satzes zu unterscheiden17, zwischen einem Gedanken und seinem Ausdruck, als sei ihr Verhältnis, was es eben nur in der Welt der Hörschwäche ist, ein beliebiges; und da dem dahintreibenden Betrieb besagte Atemkürze als Maß seiner Welt dient, so zählt er eine Diktion, welche an solcher nicht leidet, gern nach den Punkten aus, die sie seiner zeitgetesteten Kompetenz nach in nicht ausreichender Häufigkeit setzt18. Genannte Zwecksprache, die es sowohl praktisch und kurz als auch wahr ist, fortan einfach Bundeseinheitsdeutsch zu nennen, stiehlt auf Schleichpfaden, mit Wörtern in beliebiger Menge und Auswahl gepflasterten, sich immer um das Wort herum, in dem die Dinge selbst zur Sprache kommen und zu dem man doch Stellung nehmen könnte, frontal, mit entschiedenen Worten, statt mit ununterscheidbaren Wörtern gerade alle Positionen, einschließlich der eigenen, zu verschleiern, nur weil der Betrieb es erwartet, also das Gesetz es befiehlt. Nachdem das gegenwärtige Referat zuerst gehalten worden war, schrieb der Berichterstatter einer großen Zeitung der Bundesrepublik und Frankfurts, ich hätte dem Schriftsteller einen »totalen Anspruch« gestellt19 – was doch nicht wahr ist, da ich den dummen Streit um das »Engagement« gerade als dahin entschieden begründete, daß die Dinge selbst, die den Schriftsteller engagieren, diesen Anspruch stellen, und zwar immer: völlig gleich, ob es die sogenannt zeitlosen oder die sogenannt zeitgebundenen sind, die das tun, wozu freilich zu sagen bleibt, daß eben die letztern es nicht in so überwältigendem Maß heute tun möchten, hätte erwähnte große Zeitung Frankfurts und der Bundesrepublik nicht durch ihre Leisetretung der Zustände selber deren Anspruch genährt. Wenn man zu einer Unterscheidung, wer oder was einen Anspruch (und sei er total) stellt, wer den einmal gestellten wahrnimmt, nicht erzogen oder nicht willens ist, wieviel Glaubwürdigkeit kann man als Rezensent von Ereignissen gleich welcher Art eigentlich dann noch – beanspruchen? Schockiert, las man in dem gleichen Bericht, habe alle Vortragenden jener Veranstaltung ein am politischen Engagement schier verzweifelndes französisches Wort, das auf ihr zitiert worden war, von Sartre aus seinem neuesten Buch20 – abermals war das, ob auch durchsichtig, doch einfach nicht wahr, man untersuchte, erörterte das Wort, fand es betrübend für seinen Urheber, aber nicht beweiskräftig, ließ es dann auf sich beruhen, von einem Schock zeigte sich bei der Gelegenheit keine Spur. »Was für ein Nonsense, zu schreiben, daß man nicht mehr schreiben soll!« hatte etwa Tibor Déry zu dem Wort geäußert.21 Diese Art von Reaktion referierte die Zeitung als Schock.

Was ist das? Das können Sie sich selber beantworten. Aber Sie verstehen Ihre eigene Antwort besser, wenn Sie sich klar machen, daß, da Redlichkeit ja von Rede kommt, ihr Gegenteil nirgends größere Chancen als dort hat, wo das Redestehen eben aufgeweicht ist, in Gerede, in ein Um-die-Dinge-Herumreden, welche unaufhörliche Aufweichung, da sie eine Grenze nicht kennt, auf Knochenlosigkeit der Sprache selbst sowohl aus sein muß als auch zuletzt von ihr abhängt – und wenn Sie diese Knochenlosigkeit, dieses Molluskenhafte des Neudeutschen, das sein seelischer Zustand erkennen läßt, dann wirklich entdecken: am gräßlichsten in unserm gewohnten, eben bundeseinheitsdeutschen Übersetzungsbetrieb. Innerhalb dieses wieder liefern die deutschen Betitelungen ausländischer Filme, und zwar immer erneut gerade von solchen mit literarischem Anspruch, oft genug mit einer Erfüllung des Anspruchs, die zu besonders liebevoller Wiedergabe des Fremden im eigenen Sprachmedium nur den stumpfesten Übersetzer nicht reizen kann, kaum noch glaubwürdige Beispiele. ›Man begräbt am Sonntag nicht‹ statt ›Sonntags begräbt man nicht‹ habe ich im ›Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten‹ seinerzeit schon erwähnt, die neueste, noch sehr viel weitergehende Leistung auf diesem Gebiet gab ›How I learned to love the bomb‹ statt mit ›Wie ich die Bombe lieben lernte‹ mechanisch mit ›Wie ich lernte, die Bombe zu lieben‹, wieder – aber hat erwähnte große Zeitung der Bundesrepublik und Frankfurts diese öffentliche Malträtierung der Sprache, die ihren Geist, ihr Gesetz schändet, etwa gerügt? Schließlich sind wir nicht in Frankreich. Und verweisen Sie mich nun bitte nicht auf das Buch über Franglais, das dort kürzlich erschienen ist22, es ist ein Unterschied von nicht ausdenklicher Größe, ob man in noch so modischen Mengen fremdes Vokabular adoptiert, wogegen selten was zu sagen ist, oder so wenig überhaupt schon ein Mensch ist, daß man, genau wie in der Übernahme westlicher Staatsinstitutionen, auch fremde Formen nur imitieren kann, nicht spontan sie ins Eigene mit syntaktischer Sicherheit transponiert. Ganz im Banne des Fremden, wo von dessen Satzbau noch die Ohren erfüllt sind, vergißt man gleich dieses Menschlichste, die Sicherheit der eigenen Form, die dem Fremden erst standhalten kann, es sich verdient, es in Freiheit sich aneignet, vielmehr begibt sich eben dies Unfreie, daß man seine Syntax wie eine Hose verliert: woraus keineswegs folgt, die deutsche Syntax sei mit einer solchen vergleichbar, es geht gar nicht um die Syntax, sondern um ihre unauffällige Knochenfunktion für den Geist, was folgt, ist, daß das, was dem Rest der Menschheit als Rückgrat dient, in diesem stolzerfüllten Volke bloß ein auswechselbares Kleidungsstück ist.

 

Es ist also nicht so, daß die Unverbindlichkeit im Verhältnis zwischen dem Deutschen und seiner Sprache mit der seines Verhältnisses zur Freiheit und zum Recht einen irgendwie gearteten Zusammenhang hat, sondern so, daß die Artung dieses Zusammenhanges präzisierbar ist: es handelt sich um ein und dasselbe. Wie eine millimetergroße Abweichung in der Einstellung eines Teleskops in hinreichender astronomischer Entfernung zum Verlust ganzer Milchstraßen für das Auge des Beobachters führt, so das tägliche deutsche Normalverhalten, Sprachverhalten, in hinreichender Entfernung von der Privatsphäre zu den deutschen Geschichtskatastrophen: die Menschlichkeit, wie auch ihr Gegenteil, kennt eine Vielfalt von Erscheinungen, die in ihrer Tragweite für das Geschehen denkbar unterschiedliches Gewicht haben, sie selbst aber ist unteilbar, und so ist es auch der Mangel an ihr. Wenn sie im Verhältnis der Deutschen zum Recht und zur Freiheit nicht ausreicht, so ist das, was diesen Defekt mit dem scheinbar andern, in Wahrheit ganz gleichen, verknüpft, der uns in ihrem täglichen Verhalten gerade zur Sprache begegnet, der in beiden Verhältnissen gleich greifbare Mangel an Form. Mit diesem, der ja keineswegs ein individuelles Unvermögen der Form ist, sondern eine kollektiv überlieferte Gleichgültigkeit für sie, der begreiflicherweise dann Stumpfheit entspringt, hat man bis heute sich abgefunden, statt pädagogisch etwas in der Sache zu tun – wozu man zunächst sich allerdings hätte sagen müssen, daß er mangelnde Identifikation mit geistigen Ordnungen überhaupt bedeutet und sohin mit der Wahrheit. Da diese in der Sprache beheimatet ist, so kann ohne eine pädagogische Revolution, die schon den jüngsten Deutschen so enthusiastisch dann zur Sprache erzöge, daß sie das Verhältnis zum Wort schließlich im ganzen Volk umstürzen muß, Deutschland nicht menschlicher werden, und es empfiehlt sich also, unter diesem entscheidenden Gesichtspunkt zu sehen, einerseits was an Schulreform in der bundesdeutschen Gesellschaft jetzt nottut, anderseits was an Sturheit diese Not nicht recht einsehen will. Nicht haben wir betrachtet, wie Politiker, die ein zu schwaches Verhältnis zum Recht und zur Freiheit haben, sozusagen zusätzlich auch keine Kenner und Liebhaber des Wortes sind, wo dieses beheimatet ist; es handelte sich da um keinen Literaturlobbyismus, sondern um den Nachweis von Humanitätsdefekten, von Verkümmerungen der inneren Form. Erst diese machen begreiflich, was an Gesetzen etwa, die auf Menschenschändung hinauslaufen, auf Beugung und Besudelung des Rechtes, in der Bundesrepublik Deutschland noch gilt; der Generalnenner heißt Sprachlosigkeit, denn auch das Wort und seine Verbindlichkeit sind unteilbar, man hat es oder hat es nicht, ist ihm offen oder auch als Legislator verstockt. Die Stummen, heißen die Deutschen seit alters in den Sprachen der slawischen Länder. Ihr jüngster Aufenthalt in diesen hat ihrem Namen seinen alten Geltungswert nicht geraubt. Der Stumme aber ist der Sture. Das wußte Helmut James Graf von Moltke, dessen Opfertodes die Regierung am zwanzigsten Juli gedenkt23. Aber beherzigt sie, was er aufzeichnete? Liest sie es? Gewährt sie sich eine Gelegenheit, zu begreifen, daß Hitler kein Zufall war, sondern einer Möglichkeit am deutschen Wesen entsprang, so daß immer Hitlers Sache betreibt, wer diese Möglichkeit in sich selber nicht austilgt, dieses malheurträchtige Dauerverhängnis – er »bekenne« sich nun zu jenem Widerstand oder nicht?

Immer aber gibt es, wie es sie immer gegeben hat, in Deutschland die Gegenwelt. Sie darf sich nur nicht einschüchtern, nicht wieder austreiben und umbringen lassen. Sie hat hier Heimatrecht, die Zukunft, gibt es sie überhaupt, kann nur ihr gehören, daß sie an den atavistischen Eigenschaften, welche sich selber für deutsch erklären, weder teilhat noch Lust danach verspürt, sollte sie jetzt aggressiv, nicht verschämt machen. Die Hoffnung, welche angesichts all der menschlichen, unmenschlichen Dumpfheit sich doch noch erhalten, gegen die Dumpfheit gesetzt werden kann, muß ihren Weg auf schmalstem Grat suchen. Zu verteidigen, was sie nach ihrem eigenen Wesen wie nach dem ihrer Verteidigungsaufgabe nur mit Gründen kann, hat sie sich gegen den Abgrund der Beschwichtigung und den andern der Resignation. Beide, die Resignation wie die Beschwichtigung, sind durchschaubar. Die Resignation argumentiert im Kreis, nämlich mit dem, was nachweisbar selbst schon das Ergebnis des Verhaltens der potentiell Artikulierten im Land ist, die bewußt oder unbewußt vor den Verhältnissen von je resigniert haben, anstatt im Angesicht mißlungener Angriffe auf diese den vernünftigen Schluß zu ziehen, daß die Angriffe nicht stark genug waren, nicht geplant genug, gezielt genug, entschieden genug, ausdauernd genug – in andern Worten, selbst noch nicht so artikuliert, daß der Stoß eben gewirkt hätte; ich komme auf den Fall und auf die Strategie, die er anrät, zurück. Die Beschwichtigung arbeitet mit einer Unterschiebung, logischen Ungenauigkeit, die ihr in einem Land, wo wie alles selbst das Schlimme jetzt mit halbem Herzen geschieht, nur zu leicht fällt: da auch das Schlimme aus Halbheiten bestehe, sei es halb so schlimm. Aber die Schändlichkeiten, die in deutschen, auch in bundesdeutschen Gerichtssälen immer aufs neue passieren, sind für die Betroffenen nicht halb, sondern leider eben überaus schlimm, und für den weniger stumpfen Teil ihrer Mitbürger hoffentlich gleichfalls.

Neu ist der Zustand gerade nicht. Das unterscheidet ihn von seinen heutigen Umständen. In einer Zeit, in der es sehr viel Neues und Verwickeltes gibt, neigt man dazu, mit oder ohne Bedacht, mit oder ohne Interesse, alles für neu, alles für verwickelt zu erklären, aber die Grundverhältnisse der deutschen Seele und Gesellschaft sind weder neu noch verwickelt, sondern einfach die alte Barbarei, die nicht darum schon, weil sie Komplikationen schafft, selbst kompliziert ist; mindestens ist, was daran doch etwa kompliziert ist, nun lange durchschaut. Die Kultivierung des deutschen Volkes, von der Goethe in seinen letzten Lebensjahren sagte, sie sei in den letzten Jahrzehnten recht tüchtig vorangekommen24, und die bald nach dieser Äußerung zu ihrem vorläufigen Abschluß gelangte, kam seither nicht mehr voran. Eine Reflexion auf den ursprünglichen Sinn des Wortes Bildung, das jetzt mit den Vollzugs- und Konsumptionsmaterialien der Bildung, dem Faktenwissen und seiner Benützung für die technische Meisterung des privaten Alltags synonymisiert ist, während es in Wahrheit die innere Formung der Person: ihrer Selbstbestimmung, ihres Charakters und Geistes, ihrer sozialen Potenz meint: also der Vernunft, des Gewissens, des Erkenntnisdrangs, des Geschmacks und des Urteils, schafft darüber schnell Klarheit, und die Geschichte bestätigt es, wir brauchen gar nicht von der schauerlichen jüngsten zu reden, damals schon waren mit verhältnismäßig wenigen Ausnahmen die Großen der deutschen Literatur, Philosophie und Musik entweder tot oder schon geboren, und daß die wissenschaftliche Blüte, die inzwischen ja auch längst vorbei ist, etwas später kam, fügt in Anbetracht ihrer Affinität zu einem mittleren Stadium zwischen der Spontaneität des Gedankens und der Methodik des arbeitsteiligen Forschens sich leicht in das Bild. Nach dem Rückfall seither, dessen Nadir die Tyrannis der Braunen war, muß die Kultivierung des deutschen Volkes also wieder aufgenommen werden; und da der Einbruch des Westens in die deutsche Welt, also der politischen Kultur der angelsächsischen Länder, der literarischen Frankreichs, hierfür atmosphärisch wie institutionell äußerst günstige Bedingungen schafft, so muß diese Chance genützt werden, ehe sie wieder verspielt ist. Diese Arbeit, welche diejenige der Artikuliertheit, in Deutschland in seinem jetzigen Zustand also emphatischer als anderswo eben diejenige der Literatur ist, kann aber nur dort ansetzen, wo sie ihr Material eben vorfindet – und vor allem über den Zustand des Materials darf sie daher sich kein Wunschdenken, keine Illusionen gestatten.

Hitlers Institutionen, soweit der Begriff statthat, sind gestürzt, Hitlers Gesellschaft, es wird Zeit, sich das einzugestehen, ist in allen entscheidenden Zügen diese, die jetzige; ungleich dem einen oder andern Bundesjustitiar oder -minister, der allzu drastisch damals mitmachte, allzu nachhaltig Hitlers Aroma verströmt, kann sie im ganzen nicht gestürzt werden, denn sie ist selber das Schuttfeld25. Eine solche Einebnung kann nur geändert, von neuem differenziert werden, und das gelingt unter der Bedingung allein, daß Kompromisse mit ihr temporär und daß sie pädagogisch begründbar, nie aber essentiell sind; sonst geht alle Orientierung, alle Richtung, geht das Ziel der Arbeit selber verloren. Unter diesem Gesichtspunkt muß ich um Verständnis für die Ratsamkeit, ja die Unerläßlichkeit für mich bitten, an der Formulierung eines Themas für ein Podiumsgespräch mit Abgeordneten des Deutschen Bundestags, das eine Evangelische Akademie kürzlich stellte26, Kritik zu üben. Nicht fragt es sich heute: wie heben wir die Stellung der Literatur in Deutschland? sondern was sich fragt, ist: wie heben wir Deutschland bis in Hörweite der Literatur?

Und nicht im leisesten heißt das, daß die Literatur nicht sehr sorgfältig vor allem an sich selbst arbeiten muß; sie muß sich auch bis in ihre eigene Hörweite heben, muß sich selbst überraschen, immer unterscheidender werden, Tabus und Klischierungen zerstören, wo sie sie findet, etwaige von links, welche Position es jetzt nur freischwebend, genauer freistehend, gibt, sind darum so besonders fatal, weil das Prinzip der Zerstörung der falschen Autorität diese nirgends so wenig brauchen kann wie in seinem eigenen Lager. Da menschliches Maß in Deutschland auch auf seiten der Literaten leicht zugunsten ideologischer Fixierungen verlorengeht, mit denen man in einem gegebenen Konflikt auf Gedeih und Verderb Partei ergreift, anstatt ein solches Bündnis, wie die Spontaneität der Vernunft es verlangt, auf den Gedeih, nämlich das Maß zu beschränken, in welchem die gewählte Partei mit der Sache der Wahrheit und der Humanität übereinstimmt, wird mit der Unabhängigkeit des Urteils auch die Humanität selbst leicht verspielt: wie es im Zweiten Weltkrieg, in seinen Rundfunkansprachen ›Deutsche Hörer!‹, so erinnerlich Thomas Mann geschah, als er die unmenschliche Erwartung aussprach, die in ihren Kellern und Bunkern sitzende Bevölkerung der deutschen Großstädte werde für den Erfolg der Zerstörungsmissionen der über sie hinziehenden Bomberflotten auch noch hoffen und beten27; sein Bruder Heinrich, der die Sache der Humanität schon unbeirrt gegen das wilhelminische Deutschland verfochten hatte, als Thomas sie noch befehdete, verhielt gerade damals sich anders, ja mußte sich anders verhalten: seine Humanität war unteilbar. Die konsequente Selbsttreue des Literaten, die Heinrich biographisch so viel mehr als Thomas hatte, bedeutet gerade seine unbedingte und beharrliche Unzuverlässigkeit vom Standpunkt jedweden Apparates, bedeutet die Bewahrung einer Freiheit vor aller Macht, deren je nächster Urteilsentscheidung die Welt nie sich versehen kann28; die Vernunft, als ewige und ununterdrückbare Zeugenschaft für das Wahre, könnte nicht die Grundlage unter anderm auch des Rechnens sein, wenn sie selber errechenbar wäre, ergo ist sie dort, wo man sie errechnen kann, nicht die Vernunft. Womit, wenn sie auf dem Marktplatz erscheint wie die Denker Athens, könnte die Vernunft wirken, könnte sie kämpfen, wo nicht mit der unablässigsten Wachsamkeit für das öffentliche Gewicht jedes Wortes? Den alten Streit, ob man pädagogisch überhaupt durch das Wort wirke oder durch ein zu setzendes Vorbild, entscheidet die Literatur nach ihrem Wesen, indem sie sich bestrebt, das Wort mit vorbildhafter Strenge und Genauigkeit zu setzen, also so wenig hämisch zu sein, wie es ihr nur irgend gelingt, und so äußerst boshaft, wie das Objekt es erfordert. Superlative sind nach Möglichkeit zu meiden, sogenannte Überspitzungen dagegen, was etwas völlig anderes ist und welches Wort im neudeutschen Sprachgebrauch nichts bedeutet als daß ein Getroffener es lieber nicht wäre, nach Möglichkeit nicht zu scheuen; so wenig wie der Vorwurf der Lieblosigkeit, welcher so liebend gern in einer Gesellschaft erhoben wird, die ihre Mörder pensioniert, vorausgesetzt, daß sie in richterlicher Amtseigenschaft mordeten29, und in welcher ein medizinischer Doktor, zugelassener Arzt, der zweiunddreißig Zigeunerkinder erst Onkel zu sich sagen ließ und sie dann alle ins Genick schoß30, aus geheimnisvollen Gründen möglich war. Die Strategie, welche die Literatur in dieser Gesellschaft zu entwickeln hat, ist die Hochhuthsche, es ist die, die vom Justizmord bis zur Metzelung des Geschmacks und von der parlamentarischen bis zur Lebenslüge keinen Stein in der Seele und der Gesellschaft in Deutschland unumgestürzt läßt und vom Menschen dabei doch so groß denkt, daß er seine Kleinheit schließlich nicht mehr erträgt. Eine bedeutende Station auf diesem Wege wird gewonnen sein, wenn der Geist der Humanität und der Ironie erst bis in die Tertia dringt und mit den Tertianern dann aufsteigt; wenn Lächerlichkeit nicht nur endlich töten kann in Deutschland, sondern alles Töten hier ihr Monopol wird.

 

Diese Arbeit steht am Beginn. Die Literatur, ich sagte das schon, muß vor allem an sich selbst arbeiten, sie kann das ihrem Wesen nach aber nur in Auseinandersetzung mit ihren Stoffen, in der Arbeit an diesen, und also darf sie gerade nicht auf sich selbst schielen, um ganz sie selber zu werden: nicht die experimentelle Avantgarde liegt jetzt vorn, denn vorn ist jetzt nicht dort, wo gekitzelt wird, sondern wo es unter die Haut geht; die Formen der Literatur von morgen, das bezeichnet das Ende des ästhetischen Manipulismus, der mit seiner Selbstprogrammierung von Stilen, seinem distanten Geschichtsblick, ob auch noch so sehr aufs vermeintlich Zukünftige, ein gut versteckter Fortsatz des Historismus des neunzehnten Jahrhunderts war: diese Formen der Literatur von morgen werden sich ereignen oder nicht ereignen, aber sie werden nicht erklügelt, nicht verkündet, in keinem Reagenzglas mehr manipuliert werden. Das Gesetz der Literatur von morgen kann im ganzen nur von ihren Gegenständen, die ja überwiegend solche der Gesellschaft und der menschlichen Existenz in ihr sind, her bestimmt werden, es besagt für Deutschland somit unablässigen, den Feind nicht aus dem Blick lassenden Angriff auf das deutsche Milieu, und dieser Feind ist keineswegs ins Herz getroffen; nicht einmal seine Haut ist perforiert. Nicht wird zu viel, es wird immer noch viel zu wenig zersetzt: die Zukunft der Literatur in Deutschland heißt nicht Hebung ihrer gesellschaftlichen Lage, welche gewiß nicht die optimale, im ganzen aber keineswegs schlecht ist, sondern ruhelose, präzedenzlose Steigerung der Provokation.

Ich weiß nicht, was der Deutsche Bundestag dazu tun könnte; sollte er dafür Mittel bewilligen, so würde es mich überraschen und erfreuen, das letztere in der Zuversicht, daß die Literaten darüber einerseits zwar das Modell des Dreyfusards, der Premier wurde31, anderseits aber auch das des Richters Azdak im ›Kaukasischen Kreidekreis‹ nicht aus den Augen verlieren32, und unter der stillschweigenden Bedingung, daß das Parlament sich für Bildungsreisen zu seinem älteren Bruder in London darum nicht den Etat kürzt, sondern ihn im Gegenteil einrichtet. In der Situation, in welcher die Literatur vor der bundesdeutschen Gesellschaft steht, gibt es sowohl erschwerende als auch zur Hoffnung stimmende Umstände. Erschwerend, abgesehen jetzt von den konstanten Bedingungen in Deutschland, von denen die Rede schon war, ist seit dem Ausgang der Klassik, daß sie so verhältnismäßig wenig Beziehung zu und Rückhalt in der akademischen Welt, dem Gelehrtentum, der Wissenschaft, der ganzen Sphäre des deutschen Professors hat, dessen traditionell un-, ja antiliterarischer Charakter eine existentielle Signatur seiner öffentlichen Charakterlosigkeit ist; welche Charakterlosigkeit die deutsche Universität in ihrer geistigen Substanz wie ihrer internationalen Geltung aber so sehr inzwischen geschwächt hat, daß der Verlierer jetzt der akademische bien-pensant ist, nicht länger die Literatur. Soweit aus dieser Sphäre öffentlich hörbare Stellungnahmen zum Verhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft kommen, sind sie meistens so irreführend, in dieser Eigenschaft aber auch so demonstrabel: nämlich gerade mittels jenes genau prüfenden, analytischen Argwohns, der früher einmal Werkzeug auch des deutschen Gelehrtentums war, wie Arnold Gehlens Aufsatz ›Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat‹ in der Mai-Nummer des ›Merkur‹33 – auf welchen Artikel ich Sie, wie auch auf die Antworten darauf, die demnächst zu erwarten sind, beiläufig aufmerksam mache.

Die Literatur, das ist nicht allein ihr großes Glück in Deutschland, sondern auch eines für Deutschland, ist mit nur sehr wenigen anderen Mächten des deutschen Geistes und Menschentums doch im ganzen jenem Schicksal entgangen, das auf seiten der Hochschulen noch das Sinnbild des als Mitläufer eingestuften Philosophen34 atemraubend fixiert. Damit kommen wir schon zu den genannten zur Hoffnung stimmenden Umständen ihrer jetzigen Existenz, von denen dieser der erste ist. Der zweite, und das beleuchtet erst so recht die Fragwürdigkeit jeder Frage nach ihrer Position in Deutschland, als hätte sie sich ihre Sporen hier zu verdienen, als schwebte zum fünfzehnten Geburtstag der Bundesrepublik nicht der trübe Dunst des Unmenschen noch über Hörsälen, Gerichtssälen, Parlamentssälen von München bis Bonn: als handelte es sich, kurz gesagt, nicht umgekehrt um Deutschlands Position im Verhältnis zu ihr – dieser zweite Umstand ist ihr Ansehen in der Welt, welches ungleich des der andern deutschen Daseinsmächte eben nicht gelitten hat, im Gegenteil recht kräftig im Steigen ist, wie das Verlegertum bestätigen kann. Soweit die dem schöpferischen Geist wenig zuträgliche Situation des Exils es erlaubte, hat die literarische Emigration für die Bewahrung dieses Ansehens einst gesorgt, aber es folgten Jahre der Not, der Verzweiflung, des Tastens, der Erschöpfung, des Atemholens, einer rezipierenden Lautlosigkeit, und diese sind nun vorbei – nicht nur hat Brecht, der ja seit acht Jahren tot ist, die Theater des Erdballs gewonnen; sondern mit oder ohne Vorbilder, welche ein Liberaler, wenn er ein deutscher Liberaler und im Bundestag zu Bonn ist, noch verkraften könnte, finden Böll wie auch Grass schließlich weit mehr Resonanz in der Welt, als selbst der Freien Demokratischen Partei bis heute gelungen ist, sieht man von Döring35 ab, der nicht mehr lebt. Daß er es doch tue, über seinen Tod hinaus weiterlebe, ja in der deutschen Politik bis zum vollen Umfang seiner Möglichkeit endlich auferstehe, ist eine der manchen jetzt denkbaren Zusammenfassungen jener Hoffnung, welche die Literatur in unserem Land für die Gesellschaft hegt, für sie und für ihr eigenes Verhältnis zu ihr, das zuletzt ja davon abhängt, daß terroristische Diffamierung auf immer ihre Chance verliert. Nicht, das ist zu guter Letzt der dritte Umstand, der sie in dieser Hoffnung bestärkt, wenden wie früher Geist und Macht sich blind in Deutschland voneinander ab, sondern endlich nun einander zu; genauer, es wendet, unsicher freilich zunächst, noch nicht hinreichend in seiner neuen Rolle geübt, der Geist sich der Macht zu – und erzwungenermaßen denn, nämlich widerstrebend, irritiert und entrüstet, diese auch ihm. Es ist noch nicht das bestdenkbare Verhältnis zwischen den beiden – ich bedauere sehr, Ihnen ein weniger prekäres nicht anbieten zu können. Aber aus der Perspektive des Geistes gesehen, ist für ihn selbst wie für die Zukunft von Gesellschaft und Staat sein verjüngtes Erscheinungsbild in diesem Verhältnis nicht ungünstig. Es ist auf jeden Fall in Deutschland neu. Es ist nicht länger bloß Abscheu und resignierte Gebärde. Es ist ein Fortschritt über das, was war. Es ist die Position des Schlangenbändigers vor der Schlange.

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