Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5

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Dieter Hasselblatt: Sie setzen eine höchst intelligente Sonde an am deutschen Körper, und die Sonde scheint mir sowohl philosophisch geschärft zu sein wie literarisch und aktuell geführt. Es gibt sehr viele Anspielungen und sehr viele Rückbeziehungen auf die literarische, auf die politische, auf die aktuelle kulturgeschichtliche Situation. Wenn Sie dann zum Beispiel Worte prägen, die unsere bundesdeutsche Politik als »Staatswurstelei« bezeichnen11, dann scheint mir das sehr bezeichnend für die Art und Weise, wie Sie philosophieren. Oder sehe ich das falsch?

Ulrich Sonnemann: Nein, ich glaube, das sehen Sie ganz richtig.

Dieter Hasselblatt: Sie sagen zum Beispiel, daß die Politikergeneration, die jetzt im Augenblick die Politik der Bundesrepublik macht, ersetzt werden müßte durch eine neue Besetzung.12 Können Sie ungefähr sagen, wie diese neue Mannschaft der Politik aussehen sollte?

Ulrich Sonnemann: Meinen Sie zunächst die Frage des Generationenwechsels, die da anklingt?

Dieter Hasselblatt: Die klingt natürlich an.

Ulrich Sonnemann: Das ist natürlich, wie immer, nur cum grano salis zu verstehen. Es ist so, daß in der ganzen gegenwärtigen Politikergarnitur von rechts bis links die Bereitschaft, den Herausforderungen der Zustände zu begegnen, nämlich zu begegnen mit einem konsequent diese Zustände ändernden Verhalten, nicht zu finden ist. Warum, wäre zu untersuchen. Es ist im ganzen eine gebrochene Generation, und soziologisch wäre Generationenwechsel das, als welches das, was mir vorschwebt, unter anderem zu bezeichnen wäre. Das bedeutet nicht, daß im einzelnen Fall nicht der eine oder andere Politiker der älteren Generation vielleicht noch vor Toresschluß einen ganz anderen Politiker in sich entdecken könnte. Das wäre ja sehr erfreulich; und unter Umständen für die Politik praktisch, da er natürlich zunächst mehr Erfahrung mitbringt, mehr Sacherfahrung als die Jungen.

Dieter Hasselblatt: Sie sagen »vor Toresschluß« – was für ein Tor schließt sich? Und wozu und wovor schließt es sich?

Ulrich Sonnemann: Ich glaube, daß sich demnächst das Tor schließt – wie bald, das zu entscheiden wäre natürlich unsinnig; aber zweifellos rückt der Zeitpunkt näher, in dem einerseits nicht mehr zu rechnen ist mit einem uferlosen Fortgang der Prosperität, andererseits in der Außenpolitik es immer deutlicher wird, werden dürfte, daß eine Politik mit bloßen Formeln, immer versteinerteren Formeln für die deutschen Lebensinteressen, die ja im Osten liegen, unförderlich ist.

Dieter Hasselblatt: Sie denken an Formeln wie »Wiedervereinigung«, oder …

Ulrich Sonnemann: Ja, ich denke an die allzu ungeprüfte Identifizierung etwa der DDR mit ihrer gegenwärtigen Regierung. Solange diese Regierung in der DDR sich erhält, haben diese Formeln immer einen Anschein der Plausibilität, weil es eben noch keine Erfahrung gibt, die die Diskrepanz zwischen dem, was ihr Anspruch ist, und dem, was diesem Anspruch entspricht, evident machen würde. Im Augenblick, in dem eine Regierungsänderung in der DDR eintritt, in dem die DDR also einer Gesamtströmung der Dinge endlich folgt, die sich im Ostblock in den vergangenen Jahren ja hinreichend abgezeichnet hat – vielleicht sollte ich nicht sagen hinreichend, aber jedenfalls hinreichend genug für ihre Erkenntnis –; im Augenblick, in dem das geschieht, treten doch ganz neue Probleme auf, denn es könnte ja sein, daß die Prämisse, von der man hier immer ausgegangen ist, daß die Bevölkerung der DDR nichts sehnlicher wünscht – vor allem nicht die junge Generation dort – als sich an die Bundesrepublik anzuschließen, daß das einfach eine trügerische Mutmaßung ist und nicht viel mehr.

Dieter Hasselblatt: Sie sagen »DDR«. In unserem westdeutschen Sprachgebrauch sagt man ja »sogenannte DDR«.

Ulrich Sonnemann: Ja, aber ich nehme doch mit Genugtuung wahr, daß mehr und mehr Leute sich über diese etwas totemhafte Regel hinwegsetzen.

Dieter Hasselblatt: Sie versuchen also, auch darin mit den real anzutreffenden Fakten zu rechnen, um an diesen Fakten Ihr Denken anzusetzen?

Ulrich Sonnemann: Ja natürlich.

Dieter Hasselblatt: Um ein wenig zurückzuschwenken: Bei der Ersetzung der jetzigen »Politikergarnitur« in Deutschland sprechen Sie von einer »offenen Verschwörung«13. Dieser Ausdruck »offene Verschwörung« könnte meiner Ansicht nach mißverständlich sein. Was man vielleicht fragen sollte: Wenn heutzutage jemand bei uns hört »Verschwörung«, dann denkt man an Konspiration, an Putsch, an den Sturz einer unerwünschten Regierung; aber ich glaube nicht, daß Sie das meinen?

Ulrich Sonnemann: Nein, natürlich nicht, das sagt ja schon das »offene« in »offene Verschwörung«, daß das nicht gemeint sein kann. Es ist andererseits etwas – und darum »Verschwörung« –, was durch alle institutionellen und parteilichen Grenzen sich sozusagen hindurcharbeiten müßte als Verständigung von einzelnen zu einzelnen, von Gruppen dieser einzelnen zu Gruppen dieser einzelnen.

Dieter Hasselblatt: Darf ich vielleicht noch etwas bleiben bei dieser Sache mit der »offenen Verschwörung«. Ich glaube, auch Ihr neues Buch, an dem Sie jetzt gerade schreiben, trägt einen Titel, der ähnlich …

Ulrich Sonnemann: …›Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland‹14…

Dieter Hasselblatt: …›Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland‹– dieser Ungehorsam ist, glaube ich, aber doch ein Gehorsam … gegenüber …?

Ulrich Sonnemann: Es ist ein Gehorsam gegenüber dem Geist. Da aber der Geist das konstitutive Moment am menschlichen Wesen ist, liegt hier nur, sprachlich-grammatisch sozusagen, eine anscheinende Unterscheidung zwischen einem Gehorchenden und dem, dem er gehorcht, vor.

Dieter Hasselblatt: Dann ist Geist auch für Sie – und Sie stehen darin, glaube ich, in einer großen abendländischen Tradition – ein zersetzendes Moment im positiven Sinn?

Ulrich Sonnemann: Ja, ja, in einer Zeit, in der das Nichtige vorherrscht, ist die Verneinung des Nichtigen das einzig Positive.

Dieter Hasselblatt: Beziehen Sie sich dabei ausdrücklich auf die »Dihairesis« des Aristoteles? Oder war Geist für Sie …

Ulrich Sonnemann: Gar nicht so ausdrücklich, sondern das sind eigentlich Sachverhalte, die in jeder Generation spontan von neuem aufgehen, aufgehen sollten.

Dieter Hasselblatt: Sie sagen »spontan«, und damit sind wir bei einem weiteren Begriff Ihres Denkens. Die Spontaneität spielt für das, was Sie anzielen, eine große Rolle.

Ulrich Sonnemann: Ja. – Ja.

Dieter Hasselblatt: Die soll sich wie äußern?

Ulrich Sonnemann: In einer unerrechenbaren Unabhängigkeit der Urteilsentscheidungen auch und gerade auf seiten der Intellektuellen, die sie sozusagen unzuverlässig macht vom Standpunkt jedweden Apparats.

Dieter Hasselblatt: Das heißt also, Sie wollen in unser Gesellschaftssystem ein Unruhemoment eingebaut wissen, das legitimerweise beunruhigen soll und sich selbst beunruhigt fühlen soll.

Ulrich Sonnemann: Ja, ich will es gar nicht einbauen, es ist bereits da …

Dieter Hasselblatt: … Sie selber sind ja ein Repräsentant …

Ulrich Sonnemann: … es muß nur noch kräftiger entwickelt werden.

Dieter Hasselblatt: Nun sagen Sie in Ihrem Buch einmal, die Anstöße dazu können »nicht mehr aus der älteren Generation kommen«15. Darf ich Sie fragen, zu welcher Generation Sie sich selber zählen? Ulrich Sonnemann: Zweifellos zur älteren.

Dieter Hasselblatt: Aber Sie geben ja Anstöße in dieser Richtung?

Ulrich Sonnemann: Ja nun, es gibt auch andere aus der älteren Generation …

Dieter Hasselblatt: … Sie klammern sich …

Ulrich Sonnemann: … ich klammere mich gar nicht aus der älteren Generation aus. Wir sprachen ja über diesen kalendarisch-soziologischen Punkt schon etwas früher, und ich sagte, daß das mit dem Generationenwechsel natürlich nur cum grano salis, eben soziologisch zu verstehen sei. Das ginge ja gar nicht anders, als daß eben doch irgendwo aus der älteren Generation die Anstöße kommen, denn die junge kann sozusagen ihren eigenen Kahn, wie in den Generationswechseln der Geschichte ja üblich, gar nicht recht abstoßen, außer es ist etwas da, wovon sie ihn abstoßen kann. Wenn nun das Wesensbild der älteren Generation so wenig da ist wie das der älteren Generation für diese heutige junge, so besteht in dieser Hinsicht ein besonderer Notstand.

Dieter Hasselblatt: Die jüngere Generation wäre für Sie also ein Garant dafür, daß Deutschland in absehbaren Jahrzehnten nicht mehr ein ›Land unbegrenzter Zumutbarkeiten‹ ist?

Ulrich Sonnemann: Ja nun: natürlich die einzige – die einzige, wenn wir überhaupt hier in Generationen denken.

Dieter Hasselblatt: Sie sagen es einmal so: »Deutschland wird ungewöhnlich sein oder es wird nicht sein«16. Das ist ein sehr entschiedenes und sehr energisches und hartes Wort. »Deutschland wird ungewöhnlich sein oder es wird nicht sein.«

Ulrich Sonnemann: Das hat einerseits mit deutscher Geschichtserfahrung zu tun und andererseits mit den Besonderheiten, den zeitlosen Besonderheiten des deutschen Bewußtseins, das ein besonders reflexives Bewußtsein ist, das heißt im Jetzt und Hier nicht so leicht und einfach aufgeht, wie das der Völker im Westen und übrigens auch der im Osten auf ihre Weise.

 

Dieter Hasselblatt: Auch darin räumen Sie Deutschland eine Sonderstellung ein?

Ulrich Sonnemann: Ja, nur ist es mir nicht um die Sonderstellung als Sonderstellung zu tun.

Dieter Hasselblatt: Sondern um Deutschland?

Ulrich Sonnemann: Ja, um die Bestimmung, um eine Positionsbestimmung des deutschen Bewußtseins und der deutschen Situation in dieser Zeit. Wenn ich Vergleichbares für andere Völker versuchen würde, so würde man wahrscheinlich auch für sie, für jedes einzelne von ihnen, zu irgendwelchen Besonderheiten kommen, die sie von allen andern abheben. Für Deutschland sind dies die Besonderheiten.

Dieter Hasselblatt: Ich möchte Sie ganz konkret fragen: Die Bundesrepublik, so scheint es, betrachtet sich als Erben des 20. Juli und ruft gleichzeitig die Jugend der Bundesrepublik zur Nachfolge des 20. Juli auf. Ist das nicht ein grotesker Widerspruch?

Ulrich Sonnemann: In vieler Hinsicht. Vielleicht kommen wir der Sache schneller auf den Grund, wenn Sie Ihre Frage noch etwas weiter spezifizieren. Widerspruch womit oder wogegen?

Dieter Hasselblatt: Wenn die Bundesrepublik sich als Erben des 20. Juli betrachtet, als geistigen Erben des 20. Juli, und gleichzeitig die Jugend auffordert, im Geiste des 20. Juli zu leben und zu handeln, dann bedeutet das, daß die Jugend gegen eine Obrigkeit, mit der sie nicht einverstanden ist, opponieren und revoltieren müßte. Und das wäre nun gerade die Bundesregierung, die wir derzeit haben.

Ulrich Sonnemann: Ja.

Dieter Hasselblatt: Ist das nicht ein Widerspruch?

Ulrich Sonnemann: Das ist ein – ich würde fast sagen – erfreulicher Widerspruch, weil das Erbe der Kämpfer des 20. Juli von sich aus hier dafür sorgt, daß über diese Zwischenträger die Jugend doch hingelenkt wird auf das, was die Leute des 20. Juli in ihrer Zeit waren. Sie waren nämlich willens, vielleicht etwas zu spät, waren es aber schließlich dann doch, sich mit ihren Gegenwärtigkeiten auseinanderzusetzen. Und darin liegt der Wink, daß die heutige Jugend es abermals mit den ihrigen tun sollte. Daß also Opposition, die auf Chruschtschowsche Weise – ich erinnere an das vergangene und das jetzige Verhältnis Chruschtschows zu Stalin17 – immer nur gestürzten oder gar toten Tyrannen gilt, nicht viel wert ist, sondern daß sie es eben immer mit dem Gegenwärtigen zu tun hat. Womit nicht gesagt sein soll, daß die politische Herrschaft im gegenwärtigen Deutschland eine Tyrannei ist, sondern daß sowohl in den Seelen wie auch in der Gesellschaftsordnung wie zum Teil auch im praktischen Gebrauch, den man von den Gesetzen und vom Grundgesetz macht oder auch nicht macht, doch immer noch allzu viel Tyrannisches liegt. Mit diesem müßte sich die Jugend nach dem Vorbild der Leute vom 20. Juli – das ja übrigens verbesserbar bleibt, auch das ist, glaube ich, nur im Sinne dieser Leute des 20. Juli – auseinanderzusetzen; oppositioneller, das liegt in der Natur der Sache, als bisher.

Dieter Hasselblatt: Es ist für jemanden, der jünger ist als Sie, von einer großen Faszination zu sehen, wie Sie diesem Deutschland, das vor unseren Augen zusammenbrach, wieder eine Funktion im Chor der europäischen Stimmen, und nicht nur der europäischen, zu geben versuchen. Sie sagen da an einer Stelle, daß der Deutsche der Welt die Freiheit »vorzuleben« hätte, die allein der »Garant eines künftigen Friedens« sein könnte18. Meinen Sie mit dieser Freiheit das, was Sie an einer anderen Stelle die »selbstgewählte Schutzlosigkeit« nennen19?

Ulrich Sonnemann: Ja, genau das. Es scheint mir, daß – nach dem, was in der voraufgegangenen Zeit an maximal Schlechtem in Deutschland geschehen ist – es sozusagen in der Dialektik, in der Gesetzlichkeit der Geschichte selber liegt, jetzt das Gegenteil heraufführen zu müssen. Und es fällt mir auf, daß die »selbstgewählte Schutzlosigkeit«, als welche man die Freiheit bestimmen kann, noch niemals – den Erwartungen der Militärtechniker zum Trotz – geschichtlich zu Katastrophen, sondern immer nur zum Gegenteil geführt hat. Ich darf hier übrigens doch ganz explizit wieder an das englische Modell erinnern. Wie hatten die Engländer wirklich abgerüstet vor dem Zweiten Weltkrieg, wie völlig unbereit waren sie zu dem, was dann kam, und wie vermochten sie es zu meistern, nachdem es einmal gekommen war? Wenn in Deutschland schon immer die Präokkupation mit der Apparatseite der Dinge eigentlich vorherrscht und die Willensentscheidungen, denen der Apparat doch zu dienen hat, der menschlichen Ordnung der Dinge oder der Ordnung des Menschen selbst nach, hinter den scheinbaren Erfordernissen des Apparats auf eine Weise hinterherhinken, daß der Mensch selbst dabei, wie das heimische Wort lautet, schließlich »verheizt« wird.

Dieter Hasselblatt: Dr. Sonnemann, zu den intensivsten Erfahrungen, die wir Heutigen machen mußten und konnten, gehört wohl, daß Schicksal und Geschichte kongruent wurden, daß wir uns der Geschichte nicht entziehen können und daß unser Einzelschicksal festgenagelt ist an die geschichtliche Situation. Und Sie sind vielleicht der Erste, der bei uns daraus philosophisch-denkerische Konsequenzen gezogen hat und in einer Weise gezogen hat, daß sowohl die Kritik an den aktuellen Umständen und Zuständen miteinbezogen worden ist wie auch der Entwurf neuer zukunftsträchtiger Möglichkeiten. Ich möchte Ihnen für dieses Gespräch danken, und vielleicht sollte man zum Schluß an einen der wesentlichen Sätze Ihres Buches erinnern.

Ulrich Sonnemann: Ich glaube, ich weiß, welchen Sie meinen: »Das Wesen der Freiheit, die den Deutschen jetzt zugemutet wird, ist der Mut.«20

Ungedruckt. Rundfunksendung: aufgenommen am 20. Juli 1964 in München beim Bayerischen Rundfunk, gesendet am 6. Oktober 1964 im Kölner Deutschlandfunk. Leicht überarbeitet.

Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland (1964/84)

Das Stereotype an deutschen Rückschlägen
Vorrede 1984 für die zweiten zwanzig Jahre der ›Einübung‹

Je stürmischer ein Jahrhundert, mit umso idealerer Sicherheit dient es einer tarnbedürftigen Stagnation zum Versteck: wo so eindrucksvoll tumultuöse Bewegung ist (was hat sich nicht alles in den vergangenen zwanzig Jahren ereignet), wird kaum einer darin den Unterschlupf eines von ihr unberührten Seelentyps argwöhnen, an dem gar nichts sich änderte. Während dessen Immunität gegen Selbstzweifel davon abhängt, daß er sie endlos verdrängen kann, bleibt diese Möglichkeit selbst darauf angewiesen, daß ihn dabei keiner stört.

Ungestört, heute wie 1964, waltet der Typus des Institutionsträgers, der in beiden Deutschland beherrschend blieb, seiner Ämter: im Westen nur um einiges unverschämter, da er die Republik zwar nun nicht mehr wie zur Weimarer Zeit untergraben kann, aber auch kein Grundrecht vor seiner Rechtsgründlichkeit, hochnotständigen Geistesart, sicher ist. Da daran sich seit 1964, als die ›Einübung‹ zuerst erschien, nichts geändert hat, wie könnten die sich verändert haben, denen die sofort kontrollierende Rolle eines spontanen kritischen Widerstands zufiele, wäre die Gesellschaft normal? Ob ein Bundesverteidigungsminister stotternd das Parlament belügt1 oder sein heutiger Amtsnachfolger2 gerade so apodiktisch die Doppelgängertheorie im Fall Kießling für widerlegt erklärt – ehe sie auch nur von einer unabhängigen Instanz untersucht wurde –, mit der er wenige Tage vorher den Betroffenen mittels unschuldsvollster Insinuation diffamieren durfte: worauf er Zeugen »nachschiebt«, deren Glaubwürdigkeit wieder nur er verbürgt, da die Lüftung ihrer Anonymität sie, man denke!, in existenzielle Gefahr brächte, es ist dafür gesorgt, daß ihm auf offener Szene, mit dem Wort, das da fällig wäre, einen immer hohler tönenden Schwindel in flagranti finge, keiner entgegentritt.

Wo man Unfairneß gar nicht wahrnimmt, wenn sie nur, bei beliebigen Plumpheitsgraden, in der unfehlbaren Vermummung einer staatserhaltenden Pflicht auf die Szene tritt, haben Störungen ihrer Verdrängungsprozesse keine Wahrscheinlichkeit, sitzt der Institutionsträger sicher. Schon seine Immunität gegen Selbstzweifel ist also auf ihn nicht beschränkt. Wo kaum einer in der säkularen Dynamik ein Stagnationsversteck, sagten wir, argwöhnt, die andern nur wahrzunehmen erwarten, was sie ohnehin schon gewohnt sind: welches Gewohnte in einem stürmischen Jahrhundert gerade der Schein seines eigenen Gegenteils sein kann, sind sie zwar im erregenden Bann jenes Dynamischen, also auf Bewegung als Bild fixiert, umso ahnungsloser aber von diesem auch festgehalten; daher ebenfalls immobil.

Dieser Immobilismus der Seelen in Deutschland ist nicht nur Thema der Streitschrift von 1964, die hier wieder im Druck erscheint, sondern selbst der Grund dieser Neuausgabe: da an den Fällen von damals, die als Anlässe und Materialien in den Betrachtungen des Buches zur Sprache kommen, ein einfacher Vergleich mit den heutigen ebenso das Ausmaß einer politischen Unkultur klarlegt wie er ihren Fortbestand demonstriert. Sollte Hoffnung bestehen, daß dieses Urteil nicht endgültig bleiben muß – und wer bezweifelte, daß es dafür Gründe gibt, die noch nicht damals auf der politischen Bühne erschienen waren –, hängt gerade deren Verwirklichung jetzt vom Schock eines konfrontierenden Rückblicks ab auf diese glücklosen zwanzig Jahre. Ein Vergleich zwischen den Situationen damals und heute muß von selbst diese Zwischenzeitstrecke zum besseren Verständnis der Einheit beider heraufbeschwören, und was dem Blick sich dann zeigt: wie man zum zweiten Mal im zwanzigsten Jahrhundert den importierten westlichen Verfassungsstaat dem Staat-schlechthin3, seinem diskreditierten Gegenteil, auslieferte, verdeutlicht nur die Fatalität einer heimischen Geschichtslinie, deren Gesetz nicht zu brechen ist, solange man sich an ihren Zeitstrukturen nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit orientiert wie an denen des Raums.

Die Überflutung mit Bildern deflationierte dann endlich, dämpfte von selbst sich; und umso aktivierender teilte das Ohr, das zum Glotzen keine Entsprechung kennt, seine Funde mit. Daß sich die Verhornung etablierter Macht in Deutschland gegen unbequeme Erinnerungen, Wahrnehmungen und Gedanken nicht änderte. Daß ihre Selbstgefälligkeit fortbesteht, kritische Argumente nicht beantwortet werden, sondern mit Leerformeln oder Diffamierungen abgefertigt. Daß auf die Unsouveränität der Gesellschaft die ihr entsprechende ihres eigenen Staates, die mit den Pershings akut wurde, nur die Antwort ist und daß sie dahin lautet, daß man als Nuklearrampe, der unumschränkten Disposition eines supermächtigen Präsidenten4 anheimgestellt, nicht gut auf den eigenen Willen verzichten kann, ohne es auf die eigene Zukunft erst recht zu tun. Im Vergleich mit 1964 hat die Dringlichkeit der Hoffnung in Deutschland so zugenommen wie ihre Begründbarkeit ab. Wenn sie in Verzweiflung nicht enden soll, wird sie (noch so kritisch-wachsam) sich an die weitere Ausbreitung einer Friedensbewegung heften, die es vor zwanzig Jahren nicht gab.

Eine Öffnung der Ohren für die Dimension der Welt, die ihnen zu-bestimmt ist und Zeit heißt und aus der ein Anruf der unentschiedenen Sache, die die Freiheit in Deutschland ist, sie schließlich doch noch erreichen müßte, ist nicht einzig dem verwurstenden Wesen eines Journalismus fremd, wie ihn Karl Kraus einst aufs Korn nahm; wie er aber immer noch ja in deutschen Landen – unterliegt doch das Wort, wenn es genau daneben trifft, schon klammheimlich der Selbstzensur und ihrer Wasserpolizei, die ihm den Strom der Erinnerung absperrt – von seiner Vergeßlichkeit (da der verläßlichen seines Publikums) für die Urteile lebt, die er irgendwann einmal in die Welt setzte. Sondern solche Geschichtsbetonung hat schon selbst das Praktische, Eingriffen vorzuarbeiten in die kontinuierliche Diskontinuität des Bewußtseins, die die Gedächtnisschwäche in Deutschland als allgemeine ist und von der ermöglicht sich das Immergleiche an den Niederlagen seiner Linken erneuert: zuletzt der Fehlschlag der Studentenbewegung5, der aus der Harthörigkeit ihrer Imaginationen doch nur gerade so stereotyp der betrüblichen Schar seiner Vorgänger glich wie sie das selbst nie erwog.

 

Und zugleich war die deutsche Studentenbewegung doch auch die erste Aufkündigung des Gehorsams in dem Land, das die Welt sich gewöhnt hat, so mechanisch mit ihm zu identifizieren wie er selbst bis in seine Folgen hinein, deren Grauen und Gestank in ihrem Gedächtnis bewahrt sind, mechanisch ist. Wenn sie als erster Versuch mit seinem Gegenteil – sollte solcher Ungehorsam sich durchsetzen, nicht die bloße Gebärde bleiben, mit der man dann fertiggeworden ist – scheiterte, liegt es im Begriff eben der Einübung, Fehl- und Rückschläge als Erfahrungen vorzusehen, aus denen sich lernen läßt: eingesehen und verarbeitet beugen sie von selbst ihrer Wiederholung vor, fördern Aha-Prozesse, kommen der Chance des nächstfälligen Aufstands zugute. Offenbar kann die deutsche Studentenbewegung unter beiden Perspektiven gesehen werden, dieser sie rückblickend ehrenden, die ihr Absolution spendet, und jener deprimierenden, die sich einstellt, wo einer Nahbetrachtung, die keine Retrospektion ist, da sie wiederheraufrufend bloß vergegenwärtigt, was schon zur Zeit der Bewegung so erkennbar war, daß es zur Sprache gebracht werden konnte6, die Stereotypie aufgeht, mit der auch sie bloß, monologisch, in »protestierender« Spielart, die politisch unsouveränen deutschen Geschichtsmuster reiterierte, statt sie zu durchschauen und auszuwachsen.

Diese Mechanik durch Konfrontation mit ihr, die nur bei longitudinaler Erfassung möglich wird, endlich aufzusprengen, bräche als Initialprojekt eines selbstgesteuerten Ungehorsams das deutsche Geschichtsgesetz, ehe es um den Preis endete, daß es in seinen ohnehin überfälligen Untergang das Volk seiner Träger hineinreißt. Während dessen Scheelblick jetzt Türken gilt, die unter ihm wohnen, da seine Wirtschaft ihre Verrichtungen nützlich fand, ist es umso toleranter für die andere Gastbevölkerung, die als supermächtig eingenistete bei ihm siedelt: diese Raketen, die das Gastrecht, da sie ihre Befehle nachbarschaftlicherweise nur von jenseits des Atlantiks entgegennehmen, gerade so ehrfürchtig achten, wie sie es in einem Volke für nötig halten, das aus dem Selbstopfergeist freiwilliger Ohnmacht sich zur Rampe ihrer Unternehmungslust reduziert hat: nur mit ihm selbst können sie noch zerstört werden, sollte in seiner Böswilligkeit jemand auf die Idee verfallen, ihrer Initiative zuvorzukommen. Daß es damit nicht so ganz normal sein kann, heißt, daß es auch seine Linke nicht sein kann, denn zwar ist sie dagegen, aber wie kommt es nur, das muß ihr doch selbst schließlich auffallen, daß ihr der Sieg noch bei keiner einzigen Entscheidung gelang, die für das nächste Verhängnis die Weichen stellte? Eben hier führt eine Inspektion ihrer vergangenen Bilanzen uns weiter. Vom Narzißmus des verfrühten Feierns, der schon für die Paulskirche 1848 so bezeichnend (und für ihre Niederlage bestimmend) war wie er den Journalistenaufstand anläßlich der ›Spiegel‹-Affäre – keineswegs ja verschwand ein Parlamentsbelüger damals von der Bildfläche7 wie in England Profumo8 – um sein gegebenes Ziel, also seinen Sieg brachte, da man nach Feiern zu Bett geht: wenige Jahre vor der Studentenbewegung, also vor deren Nase, die ihn nur so wenig gerochen hat, daß sie sich ihrerseits ihm ergab, bis in den dazugehörigen Gebrauch von Begriffen – wieso sollte Revolution sich auch noch die Mühe machen, sich überhaupt zu ereignen, wo ihren Liebhabern schon ihr Name so viel Beglückung schenkt, auf ihrem Rosse von Holz9 –, das bewußtlos immer bloß Ablaufende dieser Muster ist so bestimmbar wie niederdrückend. Als hätte es sich mit einem Ölfilm gegen seinen eigenen Werdegang abgedichtet, gegen sich selbst sich verriegelt – was wäre Bewußtsein, das seiner selber nicht als Erinnerung inne ist? –, war es das Bewußtsein ausgerechnet derer, die emphatisch von dessen Erweiterung redeten, woran dieses Ablaufende ablief. Je naserümpfender (selbst schon nichts Neues) sie es abermals mit dem Kahlschlag eines Frisch-von-vorn hielten, das zu einer angeblichen Stunde Null schon der Selbstflucht ihrer Eltern Deckung geboten hatte, umso todsicherer wurden die Mörder, die unter uns sind10, von ihnen geschont. Mit ihnen das Geistmörderische, das in den vorbürgerlichen deutschen Institutionen, der Justiz und Verwaltung wie der Schule und Hochschule, sich erhalten hatte: jenes glückende Hamburger Spruchband, dem die Talare des Universitätssenats nicht den Muff von tausend Jahren verbergen konnten11, blieb nicht nur die Ausnahme. Sondern diese auch der Schlüssel – da den Gemeinten12 seine aufgescheuchten Kollegen gleich zum Abgang nötigten, die Aktion also einen punktuellen Erfolg hatte, der den Studenten sonst versagt blieb; womit er den allgemeineren, dessen Chance sie vergeudeten, ahnbar machte – zu jener Maßnahmen ermöglichenden Berechenbarkeit ihres Gesamtverhaltens, die dem Etablissement wie gerufen kam. Also zum verteilten Rollenspiel eines Unbewußten, das als gesamtgesellschaftliches mit sublimer Regiekunst schon die Garantie linker Niederlagen in die jeweiligen Entwürfe linker deutscher Politiker einbaut.

Diese Stunde endlicher Grünlichtschaltung für eine Tendenzwende, die aerodynamisch nichts Neues war, da eine tendenzielle Windigkeit früh gebräunter Rechtsstaat-Bekenner längst die Unaufhaltsamkeit ihres Aufstiegs auf öffentlich-rechtlichen Wendeltreppen gesichert hatte, wurde denn sogleich auch – was sie nur unterstützen konnten – genutzt. Dem unbemäntelten Verfassungsabbau der sozialliberalen siebziger Jahre, ausgerechnet unter einem Etikett vollzogen, das das älteste Freiheitsverständnis bürgerlicher Revolutionsgeschichte dort endlich einzuwurzeln verheißen hatte, wo sie hundertzwanzig Jahre vorher gescheitert war, hatten mit der bedeutenden Ausnahme Rudi Dutschkes13 die versprengten Wortführer nichts entgegenzusetzen: für den Anruf unabgegoltener Geschichte, das klagend Unerlöste am Vermächtnis der Freiheitsmärtyrer ihres Landes, waren sie in absurd enttäuschendem Widerspruch zu ihren Reverenzbezeugungen für Walter Benjamin harthörig. Die Bezeugungen störte das nicht; da er schon tot war, hatte er kein Institut in Frankfurt, das sie anstelle der geschonten Büros dauerbarer Tausendjähriger mit Persilschein hätten besetzen können. Wohl hatten sie, Marx lesend, seine ökonomiekritischen Einsichten nachvollzogen, ihn als den ihren seiner petrifizierenden östlichen Verpackung entreißen können, waren aber weder der Frage nachgegangen, wie es zu einer solchen überhaupt gekommen und doch nie dabei das so Eingeschnürte in die Gesichter einer wiedererstandenen Obrigkeit explodiert war – wie schon zuvor nicht in Kautskys14; noch hatten sie genau genug gelesen, um Marxens Entwurf der Geschichtsbewegung auch nur annähernd so akkurat auf die eigene Gesellschaft anzuwenden wie auf die Vietnams. Einen Pauschalbegriff von bürgerlicher Gesellschaft in deren atypischstem Exemplar strapazierend, dessen Vorbürgerlichkeit sich bis in die Knochen, ihre eigenen denkbarerweise eingeschlossen, behauptet hatte, übersahen sie, daß das bürgerliche Grundgesetz einem Zwangsimport nach zwei verlorenen Kriegen geschuldet war und die Inhaber der Macht es nur so widerwillig und so obstruktiv in den ersten Jahren der Republik daher eingehalten hatten, dann wie in den Zeiten der Weimarer mit wachsender Unverschämtheit wieder darangegangen waren, seine Rechtsverbürgungen offen zu brechen, wie Vergleichbares bis heute für die Verfassungssabotage der amerikanischen Südstaaten gilt, denen gleichfalls eine militärische Niederlage den befehdeten bürgerlichen Rechtsstaat erst aufzwang. Mit sicherem Geschichtsverständnis hat Marx, da ihm die menschenrechtliche Revolution des Bürgertums für eine unüberspringbare Wachstumsstufe menschheitlicher Emanzipation überhaupt galt15, es in seiner späten journalistischen Arbeit damals mit Lincoln, mit dem bürgerlichen Norden gegen den feudalen Süden gehalten16: was können seine Adepten in Deutschland, als sie die faustdicke Differenz zwischen der Verfassung und einer Verfassungswirklichkeit gar nicht wahrnahmen, die verschämtes deutsches Twospeak für ihren permanenten Bruch ist, davon begriffen haben? Haben sie nicht wiederum damals die ganze politische Chance verschenkt, die mit jener einschneidenden Differenz (die nun endlich: im Lager der Grünen, verstanden ist, zunehmend praller und präziser) sich ihrer Sache eröffnet hat? Ist ihnen die Frage auch nur als Frage je aufgegangen, wie sie zu jener Identitätsthese passe: warum wahrheitsfeindliche Herrschaftsinteressen, denen das Grundgesetz, sei es als Machtinstrument, sei es als bloße Veranstaltung überbaulicher Irreführung zu Diensten sei, es so unentwegt hintertrieben hatten, ehe sie mit dem Radikalenerlaß dann einen halb gelungenen Versuch machten, es zu metzeln17? Als marxistische, muß resümiert werden, wieviel immer aus der Marxschen Erbschaft eben an ökonomiekritischer Erkenntnis so zu retten bleibt wie an ideologiekritischer längst gerettet wurde, ist die Einübung des Ungehorsams in Deutschland unzweideutig mißlungen.