Trilogie des Mordens

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„Also werden wir morgen doch arbeiten müssen?“

„Allerdings Frauke, Restvernehmungen und Vermerke. Aber das ist überschaubar. Vorher kannst du noch in aller Ruhe auf dem Markt einkaufen gehen.“

„Das ist gut. Sagst du den übrigen Kollegen Bescheid, oder soll ich das übernehmen?“

„Gute Idee, mach’ du das bitte. Das spart mir Zeit.“

Kluge blickt gehetzt auf die Uhr.

„Gleich zehn, aber es nützt nichts. Wir bringen es zu Ende.“

Die Ermittler sind sich einig. Für ihren Chef und um der Sache willen hängen sie schon mal ein Arbeitswochenende an. Frauke eilt aus dem Zimmer.

„Ich setze noch einen Kaffee auf. Ich glaube, der tut uns gut“, hören die Männer sie vom Flur rufen.

„Du hast eine gute Truppe versammelt.“

Kluge blickt seinen Vertreter erstaunt an. Dann grinst er.

„Was du aber alles merkst. Und du gehörst dazu, mein Freund.“

Zufrieden setzen sich die Ermittler an den runden Tisch, um die nächsten Schritte zu besprechen.

„Unabhängig vom letzten Sachstand habe ich ein Fernschreiben mit der Frage nach Erkenntnissen mit der Beschreibung des unbekannten Toten, einschließlich seiner Bekleidung, bundesweit abgesetzt. Ich hoffe, in deinem Sinne, Bernhard.“

„Ich will wissen, wie viele ungeklärte Todesfälle es bei Bahnreisen bundesweit mit dem Verdacht auf Fremdverschulden gegeben hat – und in diesem Zusammenhang wie viele Hinweise auf Vergiftungen.“

„Sehr gut. Könnte von mir stammen. Die nächste Mordkommission leitest du, dafür sorge ich.“

Jetzt ist Scharnhorst der Überraschte. Er freut sich über das Lob seines Vorgesetzten, mit dem er ein freundschaftliches Verhältnis pflegt. Das motiviert.

„Supi, aber das muss ja nicht gleich übermorgen sein.“

Am Samstagmorgen, Viertel nach Neun, kündet der Gong über der Haustür den Bewohnern der Doppelhaushälfte, Breite Lade 12, nahe der Werra, frühen Besuch an.

Karin Lindholm schreckt am Frühstückstisch hoch und lässt den „Mündener Anzeiger“ auf die Kaffeetasse fallen, die prompt umkippt.

Dann tönt der Gong ein zweites Mal. Die erschrockene Frau bindet mit zitternden Händen ihren Hausmantel zu und eilt an die Tür. Vor ihr stehen zwei ernst blickende Männer, von denen sie sofort weiß, dass es Polizisten sind. Der Mann mit dem Schnauzer tritt näher. Karin Lindholm erkennt ihn wieder. Es ist Schwerdtfeger von der Anzeigenaufnahme im Polizeikommissariat. Sie wird blass und gerät ins Wanken. Geistesgegenwärtig greift der Kriminalbeamte nach ihrem Arm.

„Wir haben eine Nachricht zu Ihrer Vermisstenanzeige. Aber wir sollten das drinnen besprechen, Frau Lindholm.“

Schweigend geht diese voraus in das unaufgeräumte Wohnzimmer, in dem sie eine unruhige Nacht auf dem Sofa verbracht hat. Beide Kriminalbeamte blicken sich besorgt an. Während die Frau fahrig die Wolldecke zusammenrafft, verlässt Schwerdtfegers Kollege, Kommissar Fehling, das Haus. Die erfahrenen Ermittler haben schon erlebt, dass Angehörige bei der Überbringung schlechter Nachrichten zusammengebrochen sind. Heute haben sie vorgebeugt und vorsorglich einen Notarzt in Kenntnis gesetzt. Schwerdtfeger zieht das Fernschreiben der Polizeiinspektion Lüneburg über den Fund des unbekannten Toten heraus, obwohl er den Inhalt mittlerweile auswendig kennt. Er ist sich sicher, dass es sich dabei um den Vermissten Hans-Georg Lindholm handelt. Das sagt ihm seine Berufserfahrung und seine Intuition.

Die Betroffene hat auf dem Sofa Platz genommen, und ihr ängstlicher Blick gleitet unablässig von dem Stück Papier zum Gesicht des Beamten. Sie kann die zitternden Hände nicht verbergen.

„Frau Lindholm, wir haben eine Meldung der Kripo Lüneburg herein bekommen, in der es um einen Mann geht, der mit Ihrer Personenbeschreibung eindeutig übereinstimmt und der in Lüneburg auf dem Bahnhof in einem Zug …“

Weiter kommt er nicht. Ein hoher Schrei, wie von einem todwunden Tier. Lindholm ist aufgesprungen.

„Was ist mit meinem Mann? Sagen Sie es mir!“

Sie zerrt mit aller Kraft am Revers des völlig überraschten Kriminalisten. Aber Schwerdtfeger ist Herr der Lage. Vorsichtig löst er ihre verkrampften Hände und führt sie zurück zum Sofa. Tränen strömen über ihr Gesicht.

„Ist er tot, mein Mann? Ist er tot? Ich habe es geahnt, ich habe es geahnt. Mein Hansi, mein Ein und Alles. Oh Gott, warum lässt du das zu?“

„Frau Lindholm, versuchen Sie bitte, sich zu beruhigen. Wir wissen ja noch nicht genau, wer der Mann aus dem ICE ist. Aber es ist richtig; der Mann ist tot.“

Mühsam unternimmt der Beamte den Versuch, sie zu beruhigen. Es gelingt nicht.

Herzzerreißendes Schluchzen erfüllt den Raum.

„Frau Lindholm, ich sagte es doch schon. Wir wissen noch nicht mit abschließender Sicherheit, ob es sich wirklich um ihren Ehemann handelt. Aber wir müssen mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen. Die Beschreibung der Kripo in Lüneburg stimmt genau mit der ihres vermissten Mannes überein.“

Die Reaktion erfolgt spontan. Laut weinend schlägt sie die Hände vor das Gesicht und wirft sich in die Sofakissen. Betroffen erhebt sich der Ermittler und blickt ungeduldig zur offenen Wohnzimmertür.

„Der Notarzt muss gleich eintreffen“, ertönt von dort die Stimme seines Kollegen.

Stumm erleben sie den Zusammenbruch eines fremden Menschen. Trotz aller Routine geht ihnen das Leid der Frau unter die Haut. Immer noch weint sie vor sich hin, nur ist sie leiser geworden. Hoffnungsloser. Die Männer vernehmen die Signale herannahender Fahrzeuge. Endlich.

„Ich sage schon mal Bescheid.“

Schwerdtfeger nickt.

„Frau Lindholm? Hallo, Frau Lindholm! Wir haben einen Arzt bestellt. Der wird sich gleich um Sie kümmern.“

Schwerdtfegers kräftige Stimme zeigt Wirkung. Mühsam richtet sich die Angesprochene auf.

Wachsbleich ist ihr Gesicht, und Schweiß steht auf ihrer Stirn. Der Blick irrt rastlos hin und her. Die Frau steht unter Schock.

„Bitte legen Sie sich aufs Sofa, Frau Lindholm. Und die Beine anziehen.“

Dann hört Schwerdtfeger, wie Autotüren zugeschlagen werden und rasche Schritte. Wenig später betreten der Notarzt und zwei Rettungsassistenten den Raum.

„Jetzt sind wir dran, Herr Kollege.“

Der Arzt hat mit einem Blick die Situation erfasst und schiebt den Ermittler freundlich zur Seite.

„Danke, Doktor, dass Sie so schnell kommen konnten. Wir hätten hier nicht weiter gewusst.“ Schwerdtfeger reicht dem Arzt die Hand.

„Warten Sie bitte eine Weile draußen. Danach besprechen wir, wie es weitergeht.“

Im obersten Geschoss des mit den großen Glasfronten versehenen modernen Gebäudes mitten im Zentrum der alten Hansestadt, sitzt der Mann, der auch „Captain“ genannt wird. Leichter Regen läuft in langen Perlenreihen die Scheiben hinunter. Typisches Schmuddel Wetter in der Großstadt an der Elbe. Aber das beeindruckt ihn nicht, er ist damit groß geworden.

Nach dem opulenten Frühstück in seiner Villa, serviert von der Haushälterin mit ihrem weißen Häubchen auf dem Kopf, blättert der gut gelaunte Mann interessiert nun die morgendliche Presse durch.

Nichts hat seine Nachtruhe stören können, aber jetzt wecken die Titel der Boulevard Zeitungen seine Aufmerksamkeit. Und er wird fündig. In einem Artikel des Hamburg-Teils auf Seite fünf findet er die erwartete Meldung. Der „Captain“ faltet die stark nach Druckerschwärze riechenden Blätter zufrieden zusammen. Nichts, was ihm Sorgen bereiten müsste. Sein Blick fällt das Symbol der weltweiten Kirche seines Glaubens an der Wand. Überheblich grinsend drückt er den Knopf seiner Sprechanlage, die ihn mit dem Vorzimmer verbindet.

„Verbinden Sie mich mit dem „CSO“, unserm Continental Security Office, Regine!“ Kurz und knapp ist der Befehl an die Mitarbeiterin im Vorzimmer. Kurz darauf meldet sich eine bekannte, metallisch klingende Männerstimme.

„Sind Sie zufrieden mit unserer Arbeit, Captain?“

„Ausgezeichnet. Genau zum richtigen Zeitpunkt. Das hat den Geschäftsabschluss erfolgreich gemacht.“

„Haben Sie zurzeit noch weitere Aufträge?“

„Nein, danke. Das war alles. Ich komme wieder auf Sie zurück.“

„Danke, Captain, Sie wissen, wir stehen immer Gewehr bei Fuß, wenn es darum geht, schnell etwas zu bereinigen.“

Dann knackt es leise, und die Verbindung ist unterbrochen.

Zufrieden steht der Field Director der weltweiten Glaubensgemeinde auf und tritt vor das wand hohe, aus teurem Tropenholz hergestellte Regal, das mit Büchern des von ihm verehrten Sektengründers gefüllt ist. Immer wieder faszinieren den gebildeten Mann die Visionen des längst Verstorbenen, die bis in die Gegenwart hinein nichts von ihrer Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit verloren haben. Aber es steht noch viel Arbeit bevor, um über die Spitzen des gesellschaftlichen Establishments hinaus Wirtschaft, Industrie, Politik und Bildung umzugestalten, so wie es der Große Religionsgründer in seinen Lehren und Schriften fordert. Bekannte Größen aus der Medien- und Filmbranche konnten als Zugpferde gewonnen werden.

Der Captain blickt zuversichtlich über die geschäftige Großstadt zu seinen Füßen, als er wieder an seinen Glasschreibtisch, seine „Kommandozentrale“, tritt.

Der Bildschirm seines Computers, der über die aktuellste Software verfügt, leuchtet. Nachdem er sich eingeloggt hat, gibt er ein weiteres Passwort ein. Jetzt erst öffnet sich das hausinterne und hervorragend gesicherte Insert-Programm. Wenige Bedienschritte auf der Tastatur geben das Terminfenster für eine Vorschau auf die nächsten 14 Tage frei; eine komfortable Errungenschaft des Providers aus den USA, extra für das globale Netzwerk mit den vielen Einheiten konzipiert und mit allen erdenklichen Sicherheitscodes versehen.

 

Montag, 9.4., 10.00 Uhr. Konferenz in Raum 14. Einziger Tagesordnungspunkt: Erweiterung der Technologieanwendungen im Mittelständischen Spektrum. Der Mann blickt auf die teure Uhr mit dem Schweizer Label unter dem Seidenzwirnärmel seines Anzuges. Er hat sich im Sinne der Lehre wie immer ideologisch und fachlich gut aufgestellt, wobei er an diesem Tag nur die Moderation übernimmt. Seine untergeordneten Mitarbeiter mit Managerstatus tragen die Veranstaltung, die die expansive Zielsetzung hat, weitere externe Firmen vertraglich in das bestehende Netzwerk des „Weltinstitutes für Entwicklung und Forschung“, WfEF, einzubinden. Gedankenverloren lässt er den Mauspfeil weiter gleiten.

Ah, nächste Woche, ab Dienstag, den 10.4., ist er wieder in seinem Büro des großen Pharmazie Unternehmens, seines Arbeitgebers, präsent. Dort muss er sich nach einem neuen Abteilungsleiter umsehen. Ein Nachfolger des so plötzlich Ausgeschiedenen schwebt ihm bereits vor Augen. Es wird jemand sein, der hinter den Lehren des großen Meisters steht.

Das ebenmäßig geschnittene Gesicht des erfolgreichen Mannes mit den grauen Schläfen verzieht sich zynisch. Bisher hat er jeden, der ihm in die Quere gekommen ist, rechtzeitig und ohne persönlichen Schaden zu nehmen, „ausgegliedert.“ Manchmal auch mit Hilfe des perfekt arbeitenden Continental Security Office der Oberen Zentrale, von der Außenstehende nicht mal etwas ahnen. „Unternehmenssicherheit“, wie er es nennt, ist das A und O für das kommunikative Funktionieren der verschiedenen Einheiten. Dafür haben die „Gläubigen“ aus dem Bereich der Telekommunikation gesorgt. Drei seiner Leitungen, auch die zum „CSO“, sind absolut abhörsicher. Auf der vierten Leitung finden die „normalen Gespräche“ der alltäglichen Anfragen und Auskünfte statt. Der Captain weiß sehr wohl um den Argwohn der Hamburger Politiker und nimmt ihn nicht auf die leichte Schulter. Aber bisher hält sich der Schaden für die regionale Einheit in Grenzen, was ihm ein besonderes Lob seiner oberen Führungsetage beschert hat. Er rafft ein paar Schriftsätze zusammen – Entwürfe für Motivationsseminare – und geht ins Vorzimmer. Dort werden die Unterlagen von der Assistentin nochmals auf sprachliche Ausrutscher geprüft, ehe sie sie an die Druckerei weiterleitet. Ein guter Tag heute. Der verstorbene Meister, dessen Portrait an der Wand prangt, wäre mit seinem treuen Untergebenen zufrieden.

Drei Stunden später, um die Mittagszeit, erreicht das Antwortfernschreiben aus Hann.Münden die Fernschreibstelle der PI Lüneburg. Sechs Minuten später liegt das amtliche Schriftstück, geschrieben von einem Kriminaloberkommissar Schwerdtfeger auf Kluges Schreibtisch. Er überfliegt den kurz gefassten Text, dann ruft er die vier Mitarbeiter zusammen.

„Der Kollege Schwerdtfeger aus Hann.Münden teilt uns mit, dass es sich bei dem Toten aus dem ICE mit größter Wahrscheinlichkeit um den Pharmaziereferenten Hans-Georg Lindholm handelt, geboren 11.3.1953, also gerade 43 Jahre alt geworden. Es liegt dort eine Vermisstenanzeige vor.

Kluge fährt fort.

„Der Verstorbene war verheiratet, ein Kind; Junge, zehn Jahre alt. L. lebte in Hann.Münden, Breite Lade 12, in Werranähe.“

Kluge blickt in die Runde.

„Da einige von uns dort zur Ausbildung waren, erinnert ihr euch vielleicht an die Örtlichkeiten, wobei das aber für unseren Fall ohne Bedeutung ist.“

„Ich war da nie“, fährt der besserwisserische Mike Gebert dazwischen. „Muss ich da nun extra hin fahren, um zu wissen, wo der Pharmazievertreter wohnte?“

Kluge schüttelt verärgert seinen Kopf.

„Vielleicht kannst du ja mal etwas ernster sein, Mike. Immer kann man zu deinen Geistesblitzen nicht applaudieren.“

Das sitzt.

„Nun weiter. Der Kollege teilt mit, dass die Ehefrau zurzeit vernehmungsunfähig ist. Sie hat bei der Benachrichtigung einen schweren Schock erlitten. Weitere Erkenntnisse erst am kommenden Montag. Ich möchte, dass wir das Fernschreiben weiter an das LKA 41 in Hamburg steuern. Dann können die sich direkt mit der Dienststelle in Münden kurzschließen.“

„Und was ist mit der Identifizierung, Bernhard?“

Die berechtigte Frage kommt von Jens Ehlers.

„Wir werden Frau Lindholm für Dienstag einbestellen. Dann fährst du mit ihr in die Pathologie und ziehst die Identifizierung durch.“

Zustimmendes Nicken von allen Anwesenden, die im Wesentlichen ihre Berichte und Vernehmungen zum Sachstand abgeschlossen haben. Nur Mike Gebert reagiert nicht.

„Gut, dann sollten wir für heute Feierabend machen.“

Kluge hebt seine Stimme.

„Mike, du kümmerst dich bitte noch um die Steuerung des Fernschreibens aus HMü. und teilst dem Kollegen Schwerdtfeger mit, dass er den Termin zur Identifizierung der Leiche mit Frau Lindholm für kommenden Dienstag festmachen möchte.“

Kluge erhebt sich und drückt dem verdutzten Oberkommissar das Eingangsfernschreiben in die Hand. Der zuckt mit keiner Miene.

„Und bevor du ins Wochenende gehst, Mike, möchte ich beide Fernschreiben wieder auf meinem Tisch haben.“

KOK Gebert hat die längst fällige Retourkutsche seines K-Leiters wortlos weggesteckt. Dass die anderen Kollegen zufrieden grinsen, ist er gewohnt. Am Ende wird der Sack zugemacht, denkt er bissig, bevor er aus dem Raum eilt. Stühle rücken, grinsende Gesichter, aber kein Nachtreten. Wer austeilt, muss auch einstecken können, lautet eine Devise in der Runde des speziellen Fachkommissariats.

„Ich wünsche euch allen ein angenehmes Restwochenende, Kollegen. Bis Montag früh. Mein Bedarf an Leichen ist fürs Erste gedeckt. Aber nach dem Gesetz der Serie … Na, lieber nicht.“

Kluge schüttelt seinen Leuten nacheinander die Hand, bevor sie sein Dienstzimmer verlassen. Noch eine kleine halbe Stunde, dann bin ich auch zu Hause, denkt er zufrieden. Dann können wir wenigstens noch den Sonntag genießen.

In den frühen, nachtdunklen Morgenstunden des Sonntag schrillt an der Haustür des kleinen Mittelreihenhauses die Türklingel im Dauerton. Der auf dem Haustürpodest schwankende, spärlich bekleidete Mann gibt unartikulierte Laute von sich. Mit der rechten Hand presst er ein zusammengeknülltes Handtuch gegen den blutenden Hals, während er mit der linken kraftlos gegen das Holz der Tür schlägt.

„Hilfe, Hilfe, helft mir“, krächzt er, bevor er in den Knien einknickt.

Endlich eine Stimme in der Sprechanlage.

„Wer ist da, was wollen Sie?“

Die blecherne Stimme erreicht den Verletzten wie aus weiter Ferne. Sein Blick verschleiert sich.

„Helft mir“, gurgelt er mit letzter Kraft, ehe er auf dem Podest zusammenbricht. Dass sein Kopf dabei gegen den Türknopf schlägt, nimmt er nicht mehr wahr. Keine Minute später wird die Haustür vorsichtig und nur spaltbreit geöffnet.

Der Mann im Hausmantel ringt nach Atem, als er nach draußen sieht. Es ist ein Anblick wie aus einem Horrorfilm: Auf den Fliesen, liegt ein stark am Hals blutender Mann, der einen Lacklederanzug trägt. Er gibt kaum noch Lebenszeichen von sich.

Eine unsichtbare Hand presst das kranke Herz des Hausbewohners zusammen, ihm wird schwindelig. Doch dann handelt er schnell. In der kleinen Diele reißt er den Telefonhörer hoch. Die flatternde Hand wählt den Polizeinotruf. Mehrmaliges Tuten, dann die Stimme eines Polizisten.

„Bartold hier, Herbert Bartold. Kommen Sie sofort in die Steinstraße 147. Vor unserer Haustür liegt ein Mann. Er rührt sich nicht. Und schicken Sie einen Rettungswagen mit.“

Der Anrufer beginnt vor Aufregung zu stottern.

„Ich glaube, der Mann verblutet. Kommen Sie so schnell wie möglich.“

Routiniert fragt der Beamte nach der Anschrift des Anrufers.

„Wir sind in Kürze bei Ihnen. Ein RTW rückt mit aus.“

Händezitternd legt der Bartold auf. Neben ihm steht seine junge Frau, die bereits vor die Tür gesehen hat. Sie klammert sich ängstlich an ihren Mann.

„Ich glaube, das ist Giovanni, der da draußen liegt. Was sollen wir machen, Herbert?“

Der reißt sich aus seiner Benommenheit.

„Giovanni? Bist du verrückt. Etwa d ein Giovanni, von nebenan?“

Plötzliche Wut macht sich in dem Mann breit.

„Hol’ mir ein Handtuch. Vielleicht kann ich die Blutung aufhalten, bis der Notarzt kommt.“ Hastig rennt er die wenigen Schritte zu dem Mann, der reglos auf seiner rechten Körperseite liegt. Vorsichtig bewegt er ihn und glaubt, ein leises Stöhnen zu hören.

„Beeil’ dich, Susanne, mach’ schnell. Ich glaube, er lebt noch.“

Sekunden später reicht ihm seine Frau ein Handtuch und stürzt mit bleichem Gesicht in die Gästetoilette neben der Haustür. Herbert Bartold vernimmt würgende Geräusche. Im Licht der Außenbeleuchtung erkennt er den Mann mit dem blutverschmierten Gesicht ist. Tatsächlich Giovanni, der „nette“ Italiener, einen Hauseingang weiter. Weiter reichen seine Gedanken nicht, als er das Handtuch auf die Halspartie presst. Ein unangenehmer Geruch umgibt den reglosen Mann. Angewidert betrachtet Bartold den Lacklederbody. Verdammt, das hat das Schwein verdient. So wie ich den kenne, übersteht der das auch.

„Bleib ja im Haus, Susanne. Das ist nichts für dich.“

Bartold beugt sich über den Ohnmächtigen. Die Blutung ist durch den Druck mit dem Handtuch zum Stillstand gekommen. Bartold lauscht in die stille Nacht. Wo bleiben die Sanis denn? Nichts zu hören. Zeit für einen schnellen Sprint ins Haus, zurück zum Verletzten. Ein plötzliches, lautes Stöhnen. Dann endlich aus der Ferne die Geräusche von Einsatzfahrzeugen, schnell näher kommend. Als er den Hals reckt, um die Straße hinunter zu sehen, erblickt er zu seiner großen Erleichterung die herannahenden Scheinwerfer und erkennt im Licht der Bogenlampen den hohen Aufbau eines RTW. Mühsam erhebt sich Burger und wankt den Rettern entgegen. Dann sind zwei Uniformierte vom Polizeikommissariat Winsen/Luhe an seiner Seite und führen ihn zu ihrem Einsatzbus.

„Das Schwein, das das getan hat, müsste man lynchen“, murmelt Bartold aufgebracht.

„Ich glaube, Kollege, der Mann hier ist auch ein Fall für den Notarzt“, hört er die ruhige Stimme des Beamten, der besorgt auf seine blutigen Hände sieht und ihn behutsam auf die Sitzbank des Einsatzfahrzeuges schiebt.

Acht Stunden später reihen sich zwei gut gekleidete junge Leute, eine blonde Frau und smarter Banker Typ unter die vielen Passanten des Hamburger Rathausviertels ein.

Auf dem großen Platz, dem Rathausmarkt, ist an dem sonnigen Apriltag mit ungewöhnlich wenig Wind richtig Betrieb. Zum Tag des Handels sind dutzende Stände mit einer breiten Palette von Waren und Produkten aufgebaut. Quirlig geht es schon zu, als die beiden Aussteller den für sie reservierten Standplatz einnehmen, auf dem ein drei mal vier Meter großer Zeltpavillon mit gelbem Dach und einem mehrgliedrigen Kreuz im Kreis errichtet ist. Es fehlen zwar noch einige Aussteller und Händler, aber bis zum offiziellen Beginn um 10.00 Uhr, ist auch noch eine halbe Stunde Zeit. Routiniert baut der Mann seinen Klapptisch auf, während die junge Frau zwei Regiestühle platziert. Anschließend verteilt sie wirkungsvoll auf der signalroten Papierauflage Dutzende Broschüren und Bücher.

Der fleißige Mann mit dem sympathischen Lächeln und dem Kurzhaarschnitt beschäftigt sich mit der Installation des wichtigsten Ausstellungsteiles, einem technischen Gerät aus dunkelblauem Kunststoff mit einer Menge Knöpfen, Schaltern und Tasten. Es handelt sich um ein DIN A4 großes, rundes Messgerät, das über eine Spannungsquelle, Elektroden sowie eine Messeinrichtung verfügt, die den Hautwiderstand und somit Reaktionen von Menschen registriert, die mit unbequemen Fragen konfrontiert werden. Insider bezeichnen es als „Wahrheitsmesser“ abgekürzt W-Meter, der in der Lage sein soll, bewussten und unbewussten emotionalen Schmerz der Probanden zu messen. Beide Aussteller blicken sich zufrieden grinsend an; mit ihrem Stand fallen sie schon aus der üblichen Kategorie ihrer Nachbarn. Kostenloser Persönlichkeitstest und Kostenlose Auswertung, steht in großen Lettern auf einem Transparent oberhalb des geöffneten Pavillon-Einganges. Im Innern sind ebenfalls mehrere Klapptische mit Stühlen zu sehen die mit Blumensträußen dekoriert sind. Auch das soll Neugierige anlocken. Ein zweiter Wahrheitsmesser wartet hier auf seinen Einsatz. Während der Mann im Pavillon verschwindet, ordnet die attraktiv wirkende Frau im dunkelblauen Kostüm noch einmal das Sortiment der ausgestellten Drucksachen. Sie blickt vernimmt von draußen die tiefen Schläge der großen, historischen Uhr vom Rathaus. Zehn Uhr.

 

Vom erhöhten Podium, direkt vor dem ehrwürdigen Rathaus der Hansestadt, ertönt ein brummendes Geräusch. Das Standmikrofon mitsamt den Lautsprecherboxen wurde eingeschaltet. Auf dem mit Girlanden geschmückten Podest erscheinen Frauen und Männer in Prunkgewändern der mittelalterlichen hanseatischen Zünfte und Stände. Die attraktive Ausstellerin erkennt die schlanke, hochgewachsene Gestalt des Ersten Bürgermeisters mit dem schmalen Gesicht und den weißblonden Haaren, der vor das Mikrofon tritt. Nun erfolgt die Festansprache des Ersten Hanseaten mit einem historischen Rückblick, aber auch mit einer zuversichtlichen Prognose der neuen Handelswege in den östlichen Teil Deutschlands.

Die junge Beobachterin mit abgeschlossenem Studium der Wirtschaftswissenschaften interessiert die kluge Ansprache nicht, die vom Zusammenwachsen der alten und neuen Bundesländer und den sich daraus ergebenden Chancen Bezug handelt.

UWs, denkt sie gehässig über den erfolgreichen Politiker. Oder noch schlimmer. Unwissende Personen. Damit bezeichnet ihre Organisation Menschen, die noch nicht den Weg zur richtigen Lehre des Meisters gefunden haben, diese negieren oder sogar bekämpfen. Dazu zählen auch die geistlichen und politischen Führungsspitzen der Hansestadt, die alles tun, um unsere Tätigkeit zu erschweren, denkt die Frau voller Hass. Aber das sieht man ihr nicht an. Auffordernd lächelt sie mit ihren auffällig rot geschminkten Lippen die Passanten provozierend an, so dass die biederen Händlerehefrauen aus der ländlichen Region Vierlanden ihre unruhig werdenden Männer zur Ordnung rufen müssen. Dann sind die Festansprachen vorbei, auch das Präsentieren und Verteilen der Geschenkkörbe. Die mit Blumen, Kleinwaren und leckeren Genussmitteln aller Art gefüllten Präsentkörbe stellen ein breites Spektrum der heimischen Hersteller dar. Aber das ist nur ein kleiner Teil des Angebots. Lauter Beifall macht sich breit, als der Bürgermeister erklärt, dass das reichhaltige Angebot aus Vierlanden und aus den Speichern der hanseatischen Sponsoren den Obdachloseneinrichtungen der Stadt zur Verfügung gestellt werden soll. Das ist der Abschluss des offiziellen Teils. Das übliche Schmausen und Feiern kann beginnen. Appetitanregende Düfte hängen in der Luft. Musik von verschiedenen Gruppen setzt ein. Fröhliche Menschen genießen diesen besonderen Tag.

Jetzt wird es gleich losgehen, denkt die Frau zufrieden. Ihr Begleiter hat sich unbemerkt neben sie gestellt und beobachtet das flanierende Publikum. Die erfahrenen „Street Runner“, mit ihrer Überzeugungskunst bemerken sehr schnell: Es herrscht noch Schwellenangst. Der Mann verschwindet im Auswertungs-Pavillon. Wenig später tönen aus unsichtbaren Boxen einschmeichelnde Klänge spiritueller indischer Musik. Die junge Frau nimmt einen Stapel dünner Broschüren und stellt sich damit als attraktiver Blickfang den Neugierigen in den Weg. Die Wirkung lässt nicht lange auf sich warten. Zwei junge Männer im Freizeitlook kommen an dem lebendigen Hindernis nicht vorbei.

„Habe ich Sie neugierig gemacht, meine Herren?“

Mit gurrender Stimme, tiefen Blicken und aufreizenden Bewegungen fordert sie die beiden zum Stehenbleiben auf.

„Ich sehe Ihnen doch an, dass Sie nach geistigen Werten suchen und wissen möchten, wie Sie Ihre Innere Quelle finden können.“

Die beiden Männer, etwa zwischen Anfang und Mitte zwanzig, blicken sich amüsiert an und grinsen frech.

„Also Puppe, wenn du meinst, ich sollte meine Innere Quelle suchen, dann musst du mir schon zeigen, wie das geht. Am besten heute Abend.“ Die Männer lachen laut; sie fühlen sich überlegen. Aber die knallharte Sekten-Lady kann mit damit umgehen.

„Darüber könnte man reden, mein Lieber. Aber Voraussetzung dafür ist die Testteilnahme, damit du erkennen lernst, mit wie viel Problemen du in Wirklichkeit vollgepackt bist.“

Nun sind die Rollen vertauscht. Einer der beiden Männer, nicht unattraktiv, Typ Handwerker mit biederem Gesichtsausdruck, fühlt sich überrumpelt.

„Was iss’ n das für ’n Test?“

Der hinzugetretene Teamführer mischt sich ein.

„Ein kostenloser Persönlichkeitstest, begleitet von unserer Technik hier“, er zeigt auf das Messgerät, „Dazu gibt’s die kostenlose Auswertung.“

Nun ist auch der Jüngere der Männer hinzugetreten. Interessiert betrachtet er das Gerät.

„Hat Ähnlichkeit mit ’nem Lügendetektor aus den US-Krimis.“

„Richtig, mein schlauer Freund. Nur dient dieses Gerät nicht dazu, Lügen aufzudecken, sondern dazu, die eigenen Wahrheiten zu finden.“

Die beiden beeindruckten jungen Männer erkennen nicht den Doppelsinn der verdrehten Erklärung. Intuitiv ergreift die Frau das Heft.

„Sie können natürlich auch beide einen solchen Test machen, bei mir oder meinem Partner, und zwar jetzt gleich“, schnurrt sie wieder.

Dabei öffnet sich wie zufällig ihre eng geschnittene Kostümjacke und lässt den Blick auf ihre üppigen Brüste unter dem dünnen T-Shirt zu. Darunter trägt sie keinen BH.

„Was meinst du, Lothar?“, fragt Jan, der Ältere, der schon Feuer gefangen hat.

„Also, ich meine“ – der Gefragte beginnt zu stottern – „… ich würde den Test gern von der Dame durchführen lassen.“

„Hmh.“ Jan überlegt noch, während er der Blonden ungeniert auf die prallen Brüste starrt.

„Ich muss sagen, die wäre mir auch das Liebste.“

Die „Street Runner“ grinsen sich heimlich an. Immer dasselbe, aber die Masche zieht.

„Gut, dann mache ich einen Vorschlag. Sie gehen beide mit meiner Partnerin in den Pavillon und legen nacheinander den Test ab. Und dann gibt’s die Auswertung. Einverstanden?“

Die Männer nicken.

„Okay, und wie lange dauert das?“

Lothar, der Jüngere, will es genau wissen.

„Nun ja, da wir nicht arbeitsteilig vorgehen können, dauert es für beide rund eine Stunde. Sonst nur die halbe Zeit. Trotzdem lohnt es sich für Sie immer, weil Sie ganz viel über sich in Erfahrung bringen. Bei einem Psychiater würden Sie ein Dutzend Sitzungen absolvieren und müssten einen Haufen Kohle abdrücken.“

Das ist ein überzeugendes Argument des routinierten Teamführers, der die Sprache der „Generation Golf“ beherrscht und damit letzte Einwände beseitigt.

„Kommen Sie, meine Herren!“

Mit raumgreifenden Schritten ihrer makellosen Beine und wiegenden Hüften schreitet die erfahrene Überredungskünstlerin den beiden zukünftigen Seminar Anwärtern voraus. Sie sollen es bald bereuen, dass sie an diesem schönen Tag wie die Fliegen am Honigtopf in Gestalt der provozierenden Blonden hängen geblieben sind. Der smarte Teamführer übernimmt derweil am Bücherstand geübt die Rolle eines kompetenten Beraters. Das war schon mal ein guter Start. Der Captain wird sich freuen, wenn die Erfolgsliste heute Abend länger ist.

Im Haus der Kluges in der kleinen Gemeinde nahe Lüneburg findet am Sonntagmorgen das gemeinsame Frühstück statt. Der Tisch in der Diele ist liebevoll gedeckt. Gelbe Narzissen verbreiten ihren angenehmen Duft. Auch die seltene Aprilsonne meint es gut an diesem Morgen.

„Möchtest du noch etwas Kaffee, Lieber?“

Ninette-Elaine Kluge, bereits für den Tag angekleidet, winkt mit der halbvollen Kanne.

„Na klar, mein Schatz, schenke ein. Dein Kaffee schmeckt mir am besten.“

Kluge legt die Wochenendausgabe der LandesZeitung zur Seite und blickt seine Frau aufmerksam an.

Sie sieht immer noch gut aus. Einige Falten auf ihrer Stirn zeugen von den Sorgen des hinter ihnen liegenden gemeinsamen Lebens. Trotzdem blicken ihre Augen weiterhin liebevoll und optimistisch in die Welt. Was Besseres konnte mir gar nicht im Leben passieren, als ihr zu begegnen. Unwillkürlich fährt er sich über das dünner werdende Haar und lächelt seine Frau nachdenklich an. Dann streichelt er zärtlich über ihre Hand, als sie den Kaffee nachschenkt. Wo ist die Zeit geblieben? Die Kinder sind lange aus dem Haus und haben bereits eigene großzuziehen und ihre eigenen Sorgen. Habe ich eigentlich den Bedürfnissen und Wünschen meiner Frau immer genügend Raum gegeben?