Trilogie des Mordens

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„Bernhard, träumst du?“

Elaines melodische Altstimme führt ihn an den reich gedeckten Frühstückstisch zurück.

„Und stell’ deine Tasse ab, mein Schatz, sonst gibt es eine Überschwemmung“ kommt die belustigte Ergänzung hinterher.

„Du bist wieder mal meine Lebensretterin.“

Er lehnt sich entspannt zurück und beobachtet seine Frau, die nun zu ihrer Lieblingszeitschrift für Einrichtung und Accessoires greift. Das ist ihr Faible, weil sie einen vollendeten Geschmack und ein ausgeprägtes künstlerisches Empfinden für Proportionen und Gestaltungen hat. In jungen Jahren hatte sie ein Innenarchitekturstudium begonnen, das sie jedoch ihrer glücklichen Ehe zuliebe aufgegeben hatte.

Kluge kommen die Erinnerungen wieder hoch wie er – nun schon viele Jahre zurückliegend – den entsetzlichen Gefängnisaufenthalt im Ost-Berliner Staatssicherheit Gefängnis durchstehen musste. Unwillkürlich wird ihm die Kehle trocken, bei den Gedanken an den grauenhaften Alptraum, der ihm an der Schwelle zum Tod die Augen über sich selbst geöffnet hatte. Hastig greift er zur Kaffeetasse, ein klirrendes Geräusch. Die in ihrer Welt versunkene Gattin blickt verstört auf weil das teure Kaffeegeschirr zu zerbrechen droht. Par bonheur. Gerade noch mal gut gegangen.

Sie blickt aufmerksam auf ihren geliebten Mann, heute im ungewohnten Hausanzug, der wieder zur Zeitung greift. In der letzten Zeit wirkt er sehr angespannt und nachdenklich. Es ist sein Beruf, der ihn über die Dienstzeit hinaus fordert. Nicht nur „immer bereit sein“, auch die sich mehr verschlechternden Rahmenbedingungen und eine ständig wechselnde Führungsebene mit Menschen, die immer weniger bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.

Sie kennt nach den langen, nicht immer harmonischen Ehejahren jeden Gedanken und die Stimmungen ihres Mannes sehr genau. Wie oft hat er auf ihr Drängen hin über die internen Schwierigkeiten im Dienst berichtet. Diese, verursacht durch kurzsichtige, inkompetente Vorgesetzte, erschweren ihm das Leben. Sie weiß, dass er mit seiner Geradlinigkeit und Offenheit, den Ecken und Kanten seiner Persönlichkeit, längst nicht bei allen Entscheidungsträgern beliebt ist. Aber es gibt immer noch genügend ähnlich Denkende, sodass er seine Ideen und Vorschläge meistens umsetzen kann. Ihr entfährt ihr ein leiser Seufzer. So manches Mal kommt er aber auch enttäuscht und niedergeschlagen nach Hause.

Fast zeitgleich blicken sich beide über den Tisch hinweg an. Zu Kluges prüfendem Blick gesellen sich Zuneigung und Zärtlichkeit. Dasselbe strahlen auch ihre Augen aus. Dann tritt eine ruhige, gelassene Entspannung ein, begründet in der inneren Harmonie beider Partner. Elaines Wangen haben sich leicht gerötet, als sie belustigt bemerkt, dass es Bernhard auch so geht. Mit einem lauten Räuspern hält Kluge die aufgeschlagenen Zeitungsseiten so hoch, dass seine Frau nur die Reste seines ehemals dunkelblonden, üppigen Haares erblicken kann. Über allem sonntägliche Stille. Kluge liebt diese morgendlichen Stunden.

Als er konzentriert die Fortsetzung der Berichterstattung von Seite eins – Unbekannter Toter im Erste-Klasse-Abteil des ICE – beendet, nehmen ihn die Schlagzeilen über den Rinderwahn-Skandal in Großbritannien und die erfolglose Fahndung der Hamburger Sonderkommission in der Entführungssache Jan Philipp Reemtsma in Beschlag.

Lebt der Mann noch? Wo und wie? Auf jeden Fall müssen Profis bei diesem Verbrechen am Werk gewesen sein. Wie mag sich der Entführte jetzt fühlen?

Vor Kluges innerem Auge kocht seine hilflose Situation im Stasi-Gefängnis wieder hoch. Zwar nicht eins zu eins vergleichbar, aber Kluge kann sich in die Angst und Hilflosigkeit des Entführten versetzen. Schon ist er mit seinen Gedanken mitten im Dienst. Demnächst ist eine große Übung geplant, mit Beteiligung unterschiedlicher Polizeieinheiten. „Geiselnahme/ Entführung“, lautet das brisante Thema, das als fiktiver Fall angenommen wird. Er leitet den Abschnitt „Ermittlungen“, der den Zeitpunkt des Bekanntwerdens der fiktiven Entführung/Geiselnahme als Beginn der Ermittlungen voraussetzt. Für ihn und die anderen Kommissariatsleiter bedeutete das zusätzliche Arbeit. Nachdenklich legt er seine Zeitung auf den Frühstückstisch. Ein Griff zur Kaffeetasse – natürlich ist der inzwischen kalt geworden.

„Liebes, nun dürfen wir kein Roastbeef aus England essen, sonst bekommen wir alle den Rinderwahnsinn in den Kopf.“ Mit einem nahtlosen Übergang und dieser bewusst banalen, aber auch abschreckenden Botschaft aus der Presse, erreicht er erneut die Aufmerksamkeit seiner Frau.

„Du bist wohl nicht ganz bei Trost, mon cher! Rohes Roastbeef von diesem Inselvolk, ein Gräuel, Bernhard Kluge. Das weißt du genau!“

Ihre Augen blitzen kämpferisch.

„Ich wiederhole es hiermit noch einmal deutlich: Es ist für mich ein Gräuel. Ende, Herr Kriminalhauptkommissar.“

Der so Angesprochene steht lachend auf und geht zu seiner plötzlich zickig blickenden Frau.

„Ich liebe dich, mein Schatz.“ Er küsst einmal, zweimal und schließlich ein drittes Mal ihre warmen Lippen. Der dritte Kuss dauert noch an, als das Telefon in der Diele leise anschlägt.

Kluge reagiert nicht, auch nicht beim fünften Läuten . Heute ist Wochenende, verdammt noch mal. Die Kinder können es nicht sein, da mit ihnen ein Anrufsignal vereinbart wurde.

„Nun geh’ schon, die Kollegen brauchen dich“, sagt sie leise, aber deutlich. Sie kennt das schon.

„Scheiße“! Dann reißt Kluge den Hörer an sich.

Sein Ton ist unfreundlich, als die Stimme eines unbekannten Kollegen aus der Nachbarstadt etwas von einem Toten mit aufgeschlitztem Hals berichtet.

„Und was haben wir in Lüneburg damit zu tun, Herr Kollege?“ Die aufmerksame Elaine, die anfängt, das Frühstücksgeschirr zusammenzuräumen, hört nur die Antworten ihres Mannes. So knapp hatte sie ihn auch schon erlebt.

„Dann rufen Sie eben meinen Chef an und klären das mit dem. Der soll entscheiden, wer die Ermittlungen übernimmt.“

Ärgerlich legt Kluge auf. Das ist ein Ergebnis der Polizeireform. Die Arschgeigen da oben haben die Fachkompetenz der Kriminalpolizei zerschlagen – und jetzt fehlen die notwendigen Leute. Seine Frau kommt mit dem Tablett aus der Küche, um den Tisch abzuräumen.

„Meinst du, dass das so richtig war? Der Anrufer steht doch viel mehr unter Druck als du.“

Kluge taucht wie aus einer trüben Wolke auf.

„Ach, so ist es doch immer. Die Leute, die am Wochenende erreichbar sind, erwischt es ständig. Und du weißt doch, mein Herz, was mir ein gemeinsames Wochenende bedeutet.“

Sein Blick taucht tief in ihre Augen ein.

„Aber du bist ein Verantwortlicher, Bernhard, und keiner von diesen Weicheiern mit ihrem Acht-Stunden-Schreibtischtag. Und das wissen die, die dich anrufen.“

Nachdenklich blickt der Grollende seine Frau an. Eine kluge Frau hast du. Im Prinzip hat sie ja Recht … aber nicht immer.

„Zu Befehl, Madame General“, lacht er. „Wenn also mein Chef anruft, bist du mich für heute los.“

Es gilt nun, die Einsatztasche zu packen.

„Schmier’ mir bitte zwei Scheiben Brot mit der guten Landleberwurst. Ich habe das Gefühl, es könnte wieder mal spät werden.“

Ein Blick auf die antike Dielenuhr. 10.15 Uhr. Sonntag, ade, denkt er abschließend, als er nach oben ins Bad eilt, um sich fertig anzukleiden.

Einen Tag später, annähernd zur gleichen Zeit, findet der jüngere der beiden WG-Bewohner und Mieter im hohen, alten Stadthauses im Hamburger Stadtteil Stellingen zurück in den nüchternen Alltag. Der Kopf schmerzt und ihm ist speiübel, als er im Garderobenspiegel mit Mühe sein verquollenes Gesicht erkennt. Gaumen und Mund sind wie ausgetrocknet. Nur mit einem Slip bekleidet stolpert er an die großen Fenster und zerrt die einfachen Vorhänge zurück.

Ungewohnter Sonnenschein blendet ihn. Verdammt, stinkt das hier immer noch nach Nuttendiesel! Frische Luft muss rein. Dann zum Kühlschrank, die Mineralwasserflasche herausziehen und das kalte Getränk in die Kehle laufen lassen. Die Reaktion ist zunächst hilfreich. Entspannt lässt er sich in den alten zerschlissenen Sessel plumpsen. Noch einen langen Schluck. Als sich wenig später die aufgestaute Kohlensäure einen Ausgang sucht, zerstört ein gewaltiger Rülpser die sonntägliche Stille. So laut, dass nebenan aus dem Zimmer seines Kumpels ähnliche Geräusche erkennen lassen, dass auch dieser wieder ins Leben zurückfindet.

Der Mann, Hans-Frieder, genannt Fred, blickt sich abwesend im Raum um. Mühsam registriert er das Chaos, entstanden durch herumliegende leere Sekt- und Bierflaschen und umgekippte Gläser. Mit leerem Blick betrachtet er das Ganze, bis seine Gedanken langsam ihren Weg finden. Krampfhaft versucht er sich an die vergangene Nacht zu erinnern. Aber die bohrenden Kopfschmerzen lassen das nur eingeschränkt zu. Wie war das bloß noch? Ach ja. Alex und er waren am frühen Abend mit dem Taxi zur Reeperbahn gefahren. Ganz lässig. In seiner Gesäßtasche hatte er reichlich Patte, den verdienten Lohn für eine Nacht außerhalb Hamburgs.

Damit hatten beide in den Kneipen und Clubs so richtig die Sau raus gelassen. Lange hatte es nicht gedauert, bis sich zwei Schnallen aus dem Club „Ritze“ oder ähnlich, bei ihnen eingehängt haben, um Billigsekt zu teuren Preisen loszuwerden. Zwischendurch heizten sich beide so richtig an den Tanzkünsten der scharfen Tussys auf.

Alex, der andere Mann, groß geworden in einer stillen Region des Bayerischen Waldes und der so etwas bisher nur aus Pornoillustrierten kannte, war rattenscharf wie ein Terrier. Deshalb war es naheliegend, dass sie sich in den frühen Morgenstunden in ein Taxi pflanzten und dem Fahrer den Auftrag gaben, zwei geile Bräute aufzureißen.

 

Er, Fred, hatte dem Driver einen „Hunni“ rübergeschoben, sodass es nicht lange dauerte, bis jeder eine Braut vom Strich an der Kastanienallee auf dem Schoß hatte. Die Fummelei und Knutscherei war schon im Großraumtaxi losgegangen. Dem Fahrer hat das nichts ausgemacht; der kannte das schon. In der Wohnung im dritten Stock ging es dann richtig zur Sache. Die Klamotten flogen quer durch die Zimmer, und der Penny-Sekt aus dem Kühlschrank floss in Strömen. Die beiden Bordsteinschwalben hatten längst gecheckt, mit wem sie es zu tun haben. Sie wechselten von einem zum anderen, bis die beiden WG – Bewohner nicht mehr auf die Beine kamen und er auf seiner Babsi eingeschlafen war.

Verdammt, hoffentlich hatten die beiden Nutten kein Aids. Die letzten Nummern waren ohne Gummi, weil auch die Bräute mächtig abgefüllt waren.

„Alex“, grölt er. „Kommst du auch mal wieder ans Tageslicht, alte Socke?“

Grunzende Geräusche, ein Poltern. Dann ein erneuter Furz und ein schwerfälliges Tappen. Im offenen Türrahmen steht schwankend, nur mit seinem T-Shirt bekleidet und unten völlig frei, sein Kumpel.

„He, was is’ Alter? Haste noch zu saufen oder was?“

Mit stierem und immer noch trunkenem Blick versucht Alex, in den Tag zurückzufinden.

„Wo iss’n Manuela, die geile Taube?“

Dabei greift er sich an das Geschlechtsteil und bemerkt sein schlaffes Glied. Er betrachtet es nachdenklich und schüttelt verständnislos den Kopf.

„Mich so im Stich zu lassen, Johannes, schäme dich.“

„Mann, das kann doch keiner mit ansehen. Zieh dir endlich deine Unterhose an. Die Party ist vorbei, Kumpel.“ Freds Stimme zeigt Wirkung.

„Nur, wenn du mir was zu saufen gibst. Ich fühle mich ausgetrocknet wie ein Stockfisch.“

Der Angesprochene wirft ihm lässig die halbvolle Flasche Wasser zu. Grinsend sieht er, wie sich sein Kumpel das kühle Nass in die Gurgel schüttet. Danach versucht er schwerfällig eine Kehrtwendung wie bei der Bundeswehr. Das bringt ihn aber nur heftig zum Stolpern.

„Verdammter Scheißteppich, das.“ Mit blankem Gesäß schwankt Alex zurück in sein Zimmer.

„Verdammt, wo ist mein Slip? Den hatte ich doch gestern noch“, hört ihn Fred fluchen. Und wenig später ist das gewohnte Schnarchen zu hören.

Das wäre wohl für mich auch das Beste, so lange zu pennen, bis die Birne richtig klar ist. Er zieht sich mit den Füßen den zweiten Sessel heran und macht es sich bequem. Der Kopfschmerz hat nachgelassen. Nachher koch’ ich mir einen doppelten Espresso, der wird das wieder richten. Erneut schlagen seine Gedanken unkontrolliert den Bogen zum Abend und zur Nacht zuvor. Bildfetzen tauchen in seinem benebelten Bewusstsein auf. Die Fahrt mit dem Zug zu zweit, mit dem kleineren, aber älterem Mann, den er zuvor auf dem Hamburger Hauptbahnhof kennengelernt hatte. Schon auf den ersten Blick hatte er erkannt, dass Giovanni Gay war. Genau der Typ Mann, auf den Alex und er sich eingestimmt hatten, nachdem sie mehr als zwei Monate arbeitslos gewesen waren und die letzten Reserven verbraucht hatten. In einer Stehkneipe in der Steinstraße hatten sie das Treiben der Drogennutten und der Schwulen genau beobachtet, die für eine schnelle Nummer immer gut waren.

Aber das war nicht das, was sie wollten. Im Gay-Klub auf St. Pauli hatten erfahren, dass die große Bahnhofshalle ein Treffpunkt für zahlungskräftige Schwuchteln und ihre Freier war. Es gab nur ein Problem dabei. Fred und Alex waren nicht schwul und auch nicht bi. Für sie stand die Kohle im Vordergrund, die von den Tunten zu holen war.

„Schwulenklatschen“ heißt das bei Insidern: Der Freier geht zum Schein auf das Angebot eines erwartungsvollen Gay ein und fährt mit ihm in eine Steige. Zur Enttäuschung des Schwulen kommt es aber nicht zu dem erwünschten sexuellen Kontakt, sondern zu Gewalthandlungen mit erheblichen Körperverletzungen und dem nachfolgenden Ausrauben der Überraschten. So war es bisher immer mit Erfolg für die beiden Männer gelaufen. Die erbeutete Kohle hatte für Miete und Lebensunterhalt gereicht, zumal das Risiko, erwischt zu werden, sehr gering war, da die „gerupften“ Schwulen nie zu den Bullen gingen.

Alex hatte anfangs noch Bedenken, doch Fred ist von einem anderen Schlag. Er empfand für Schwule keine besondere Sympathie. Er nutzte deren meist körperliche Unterlegenheit und das immer noch geächtete Triebleben aus, Menschen die am Rande der Gesellschaft leben. Mittlerweile hatten sich beide auf die sprudelnde Einnahmequelle eingestellt und sich von der Kohle nach und nach ordentliche Kleidung beschafft. Damit spielten sie in einer Liga, in der Schwulen anspruchsvoller sind und sich nicht auf dem Straßenstrich oder Pissoirs anbieten.

Vorgestern Abend war es scheiße gelaufen.

Alex hatte keine Lust und hing vorm Fernseher rum. Also hatte er sich allein von einem Taxi zum Hauptbahnhof fahren lassen. Dort war lange Zeit tote Hose. Nur ein paar Penner und abgetakelte Nutten hingen dort rum. Sie peilten nach den Bullen, die auf einmal nur noch als Doppelstreife unterwegs waren. Am Kiosk hatte jemand erzählt, dass der Grund dafür ein Tränengasanschlag auf einen ICE war. Als er dann eine halbe Stunde vor Mitternacht die Segel streichen wollte, sah er ein Taxi vorfahren, dem ein gut gekleideter kleiner, dunkelhaariger Mann, offensichtlich Italiener, entstiegen war. Der angetrunkene Typ mittleren Alters war zur Abfahrtstafel gegangen und hatte sie intensiv studiert. Fred checkte schnell, dass der Typ anschließend zu einem Coffee-Shop schlenderte und sich dort etwas bestellte. Das war der richtige Zeitpunkt für die Kontaktaufnahme. Im Glas einer spiegelnden Scheibe hatte er seine blonden Haare gerichtet und sich dann direkt neben den kleineren Mann gestellt. Das war der Beginn. Zwanzig Minuten später hatten sie in einem Zugabteil des leeren Nachtzuges in Richtung Hannover gesessen.

Die Fahrt mit Streicheln und heißen Blicken von Giovanni hatte nicht lange gedauert und sie hatten für den Rest der Nacht einen Betrag von fünfhundert Mark ausgehandelt. Die anschließende Fahrt mit dem Taxi vom Bahnhof zu einer Reihenhaussiedlung hatte sie zu einem gepflegt wirkenden Mittelreihenhaus gebracht. Auch das Innere hatte diesen Eindruck wiedergegeben. Giovanni hatte mehrere starke Grappas serviert und war schnell im Bad verschwunden gewesen.

Treffer, hatte er, Fred zu dem Zeitpunkt gedacht. Der Typ hat Knete ohne Ende. Auch oder vielleicht gerade, weil er Italiener ist. Eigentlich waren Ausländer nicht sein Ding. Das hatte ihm seine konservative Familie eingeimpft. Aber drauf geschissen, Geld stinkt nicht. Und dann war Giovanni in einem schwarzen Lacklederbody, penetrant nach schwülstigem Parfüm riechend zurückgekommen. Voller Erregung hatte er Fred in das große, französische Bett unter dem riesigen Deckenspiegel gezerrt. Wohl oder übel hatte der das Spiel mitgemacht und sich bis auf den roten Seidenslip ausgezogen. Dann musste er sich auf Giovannis Wunsch zu den Klängen einer CD mit Opernarien hin – und her wälzen und Fickbewegungen machen, bis der kleine Italiener einen Steifen bekam. Na gut, was soll’s. In zehn Minuten ist es vorbei, ich habe die Kohle und verschwinde, hatte er gedacht. Er hatte sich auf den Bauch gelegt, seinen Slip heruntergezogen, und Giovanni hatte versuchte, seinen mickerigen Ständer in seinem Arsch unterzubringen. Das war aber nicht gelungen, und zum Schluss hatte er die erträumte Nummer laut fluchend aufgegeben.

„Blas mir sofort einen, du blondes deutsches Schwein oder du kriegst keine einzige Mark von mir“, hatte er völlig besoffen geschrien. Fred hatte das Gefühl, einen Schlag auf den Kopf bekommen zu haben.

„Du verfickter Makkaroni, das war so nicht abgemacht“, hatte er wütend geschimpft.

Was dann passierte, war im Nebel seines alkoholisierten Bewusstseins untergegangen. Plötzlich hatte Giovanni schreiend und blutüberströmt vor ihm gestanden und ihn mit seinem Messer bedroht. Mühelos konnte er an dem Verletzten vorbei laufen. Im Hausflur hatte er noch dessen schwarze Handgelenktasche an sich gerissen. Hastig hatte er sich im Laufen angezogen und war gerannt so schnell er konnte. Nur weg von dem blutigen Finale. Ziellos irgendwohin, in den Schatten der Nacht hinein. Die gurgelnde Stimme des Italieners hatte ihn nicht losgelassen. Die weitere Flucht war wie in Trance verlaufen. Unter einer trüben Laterne, in der Nähe von Lagerhäusern hatte er die Herrentasche untersucht. Fast zweitausend Mark. Eilig riss er das Geld heraus und schleuderte das leere Behältnis in den Straßengraben. Schließlich war er an den Stadtrand gelangt und las auf einem buntem Übersichtsplan den Namen der Stadt, – Winsen/Luhe. Betont gelassen konnte er an einem Taxi-Stand in der Nähe einer Kneipe ein Fahrzeug anheuern. Fahrtziel Hamburg – Reeperbahn. Dort konnte er mühelos untertauchen und mit einem weiteren Taxi in die Nähe ihrer Wohnung gelangen. Er hatte in solchen Dingen genügend Erfahrung gesammelt. Alex war längst im Schlaf, als er sich unter die Dusche gestellt hatte.

Am anderen Morgen war alles wie sonst gewesen. Er hatte Alex nur die Kohle gezeigt und gemeint, dass sie am Abend so richtig einen drauf machen würden. Sein Kumpel hatte sich an dem Bündel Scheine nicht satt sehen können und immer wieder wissen wollen, wie Fred dazu gekommen war. Später vielleicht mal, aber heute Abend lassen wir richtig die Sau raus.

Fred stöhnt leise vor sich hin und zermartert sein Gehirn. Aber es will ihm nicht einfallen, was im Schlafzimmer des Italieners passiert war.

„Ich brauche einen Kaffee. He Alex, du alter Fickfrosch. Setz’ mal einen auf.“

Doch Alex nebenan grunzt nur.

Mühsam wälzt Fred sich hoch und quält sich in die kleine Küche. Schrank auf, Kaffeedose her, Deckel auf: Leer.

„Verdammter Mist. Alex, du faule Bazille. Du solltest doch vorgestern Espresso mitbringen.“

Doch Alex ist das in seinem Rausch egal.

„Dann mache ich mir eben einen starken Tee. Der wird mir gut tun – und dir auch.“

Alex reagiert auch weiterhin nicht erkennbar, sondern gibt nur eine akustische Antwort.

„Oh nee, nicht das auch noch. Wie kann ein Mensch nur so stinken?“

Er flüchtet zurück in den Wohnraum. Leise fluchend beginnt er die leeren Sektflaschen aufzusammeln. Dann bemerkt er ihn plötzlich und wird beinahe starr vor Schreck. Unter dem zweiten Stuhl liegt ein einsamer Blauer, ein Hundertmarkschein. Das Blut schießt in den Kopf. Mit einem Sprung ist an er an der kleinen Vitrine, in sich die Kassetten stapeln. Mit einer wilden Handbewegung schleudert er die beiden Reihen auf den Fußboden und greift dahinter ins Leere. Kein einziger Schein ist mehr in seinem Versteck. Alles weg. Runde tausend Mark waren übrig nach dem Absturz mit den beiden Nutten. Siedend heiß wird ihm plötzlich.

„Alex, die beschissenen Nutten haben uns abgezogen. Unsere Kohle ist weg.“

Die wütenden Schreie und nachfolgenden Flüche erreichen endlich auch seinen Kumpel. Ein zweites Mal erscheint er im Türrahmen. Doch jetzt mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen.

„Was sagst du? Ich höre immer, die Nutten haben uns beklaut?“

„So ist es.“ Freds Augen sprühen vor Wut.

„Wir halten die hier aus, schieben denen die Sektpullen in den Arsch – und die ziehen uns ab! Ich fass’ es nicht.“ Stumm und vor Wut zitternd starrt er seinen Mitbewohner an.

„Die Kohle holen wir uns wieder, darauf kannst dich verlassen. Nicht umsonst wurde ich im Knast in Landsberg Fred Feuerstein gerufen.“

Am Nachmittag, als KHK Kluge der agilen Ronda Kubitzke den Sachstandbericht für die Kollegen des LKA 41 in Hamburg diktiert, klopft es kräftig an der Tür. Unwillig blickt Kluge auf. In der Tür steht ein junger Schutzmann von der Wache und deutet auf eine dunkel gekleidete, jüngere Frau hinter ihm.

„Das ist Frau Lindholm aus Hann. Münden.

„Ja, das ist richtig, Herr Kollege. Wir erwarten Sie schon.“ Kluge erhebt sich.

„Willkommen, Frau Lindholm. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt.“

Dann fällt ihm das in diesem Fall Unpassende der Situation auf.

„Entschuldigung. Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Gehen wir in mein Dienstzimmer.“

Bislang hat Karin Lindholm keine Gelegenheit gefunden, etwas zu erwidern. Mit ernster Miene folgt sie.

„Ronda, ich möchte die nächste halbe Stunde nicht gestört werden. Auch nicht am Telefon.“

Hinter der Besucherin schließt er die Tür. Die Frau bleibt einen Moment unschlüssig im Raum stehen, wobei ihr Blick an Kluges Gesicht hängen bleibt.

 

Kluge stellt fest, dass die Frau einen sehr gepflegten Eindruck macht und außerdem dezent nach einem teuren Parfüm duftet.

„Möchten Sie nicht ablegen?“

„Ja, natürlich gern. Draußen war es ziemlich ungemütlich.“

Er nimmt den leichten Wollmantel entgegennimmt und hängt ihn auf.

„Bitte nehmen Sie hier Platz, Frau Lindholm.“ Er deutet auf den runden Besprechungstisch und rückt ihr höflich einen Stuhl zurecht.

„Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“

Sekundenlang blickt ihm Karin Lindholm prüfend in die Augen, dann nickt sie.

Dieser Blick … Habe ich die Frau schon mal gesehen? Hinter sich greifend erwischt er den Telefonhörer und drückt blind eine Taste.

„Ronda, bring’ uns bitte Kaffee. Und gib Jens Bescheid, dass er dazu kommen möchte.“

Er nimmt gegenüber seiner Besucherin Platz. Wieder dieser packende Blick der dunkelbraunen Augen.

„Ja, ich hatte eine relativ angenehme Fahrt, Herr Kluge. Ich musste mit der Bahn fahren, weil mir die Fahrtstrecke mit dem Auto unbekannt ist.“

Dabei streicht Karin Lindholm den schwarzen Rock ihres Kostüms zurecht, der beim Sitzen eine Handbreit über ihr dunkel bestrumpftes Knie hochgerutscht ist. Kluge sieht ihr dabei so fasziniert zu, als würde er so etwas zum ersten Mal in seinem Leben sehen. Seine Stimme klingt ein wenig heiser.

„Ich kenne die Strecke nur allzu gut. Viele Jahre habe ich die anstrengende Fahrt an den Wochenenden ertragen müssen.“

„Sie kennen meine Heimatstadt, Herr Kluge?“

Überraschung klingt aus der dunklen Stimme seiner Besucherin.

„Ich habe dort meine Ausbildung absolviert. In der Landespolizeischule, an der Gimter Straße.“ Dann tritt ein dienstlicher Ton in seine Stimme.

„Aber ich glaube, wir sollten jetzt zur Sache kommen, da wir im Städtischen Krankenhaus avisiert sind.“

Etwas Nachdenkliches liegt jetzt in dem ebenmäßigen Gesicht der Frau mit den braunen Augen und den schön geschwungenen Brauen. Aber dann ist es auch schon verflogen.

„Ja, da haben Sie gewiss Recht, Herr Kluge. Bitte beginnen Sie.“

Dann erklärt Kluge in einfühlsamen Worten den genauen Ablauf der Identifizierung. Er versucht, seiner Besucherin etwas von dem Schrecken der Prozedur zu nehmen, nachdem er bemerkt, dass der Frau Tränen in die Augen treten. Sie blickt ihn sehr aufmerksam an und horcht auf seine Stimme. Er ist froh, dass endlich die Tür aufgeht und Ronda ein Tablett mit Tassen, Milch, Zucker und einer Kaffeekanne auf den Tisch stellt. Als er aufsteht und fahrig die Kanne ergreift, um seiner Besucherin Kaffee einzuschenken, berühren sich zufällig ihre Hände. Kluge zuckt zusammen.

„Lassen Sie mich das bitte machen, Herr Kluge. Ich bin es aus meiner Kanzlei geübt.“

Dabei erfährt Kluge etwas über den Beruf seines Gegenübers. Willig überlässt er der Besucherin das Einschenken und beobachtet dabei ungewollt die gewandten, schmalen Hände, die harmonischen Bewegungen. Bestimmt ist sie acht Jahre jünger als meine Frau. Verflixt, was ist los mit dir, Kluge? Dann öffnet sich die Tür erneut. Ehlers blickt herein.

„Störe ich?“

„Natürlich nicht. Komm’ herein Jens.“

„Frau Lindholm, darf ich Ihnen Kriminalhauptkommissar Jens Ehlers vorstellen? Er wird Sie zum Städtischen Krankenhaus begleiten.“

Und an diesen gewandt. „Ich habe Frau Lindholm bereits das Wesentliche erläutert. Aber ich denke, du hast sicher noch einige Fragen an Sie.“

Jens Ehlers freundliches Lächeln wird ernst.

„Dann kann ich die Zeit nutzen und Ronda meinen Bericht zu Ende diktieren.“

Bedauernd blickt er Lindholm an.

„Ich möchte mich von Ihnen schon verabschieden. Sollten Sie nach der Identifizierung noch Fragen haben, können Sie diese gern bei Herrn Ehlers oder mir loswerden, einverstanden?“

Wieder dieser intensive Blick. Ungewöhnlich in dieser Situation. Wie die ganze Frau.

„Danke, Herr Kluge. Ich komme gern auf Ihr Angebot zurück.“

Sie reicht ihm ihre schmale, warme Hand.

Kluge verbeugt sich leicht und ist froh, dass er den Raum verlassen kann. Im Flur bleibt er einen Moment stehen. Was ist los, Bernhard? Lässt du dich von Frau, die wahrscheinlich schon Witwe ist, durcheinanderwirbeln? Irgendwie kommt die Frau mir bekannt vor. Aber woher?