Trilogie des Mordens

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Fast zeitgleich am Dienstagnachmittag sitzt rund fünfhundert Kilometer weiter südlich der Captain hinter seinem breiten Schreibtisch in der zweiten Führungsetage des großen Chemieunternehmens. Sein Arbeitspensum hat er für den Tag bereits erledigt. Die vor ihm liegenden Tabellen und Statistiken haben mit seiner zweiten Tätigkeit für die globale Organisation zu tun, deren Zentrale in Hamburg unter seiner Führung steht. Seine langjährige Qualifikation, erworben in zahlreichen Seminaren nach der Lehre des großen Meisters, hat ihn bisher sehr viel Geld gekostet. Dafür hat er auf dem langen Weg über den „Großen Steg“ die Nachweise für seine uneingeschränkte Hingabe zur Binetik, der Therapie des großen Vorbildes, erbracht. Das hat viele Jahre gedauert. Jeder der Schritte – vom „Geläutert“ bis hin zu den Stufen von „HAO“, dem Herausragenden Außerordentlichen – haben ihn zu dem gemacht, was er jetzt ist. Sein Bewusstsein hat sich nach den Zielvorstellungen der Lehre total verändert. Er ist ohne Psychosen, Zwänge und Gefühle. Das will die Binetik so. Und das erleichtert ihm seine qualifizierte Tätigkeit als „Direktor der Zentral-Organisation“, kurz Field Director in Hamburg. Dass sich im Lauf der langen Jahre sein Freundeskreis aus Zeiten des Studiums, Hochschule und dem Golfklub aufgelöst hat, ist für ihn nur die Bestätigung der Richtigkeit seiner Entscheidung für die „Neue Sache.“

Der Große Meister hat in seinen vielfältigen Lehren und Anweisungen genau beschrieben, wie eine neue, globale Welt geschaffen werden sollte. Weg von den vielfältigen Verwirrungen und Verlockungen der modernen westlichen Gesellschaft. Kein demokratisches Gefasel, sondern einsame Entscheidungen von oben aus dem engsten Führungszirkel.

Zufrieden stellt er fest, dass in der Bankenstadt die Zahl derjenigen gestiegen ist, die sich für die Einstiegsseminare „Stresserkennung und Bewältigung durch Binetik“ eingeschrieben haben. Ein Beispiel für die gute Arbeit des „Body Finding“, durch die Werber, die „Street Runner“, die in der Öffentlichkeit direkt die Menschen ansprechen, die noch keine Berührung mit den universellen Lehren des Großen Meisters hatten. Aber noch wichtiger sind die Erfolge, die seine Business Manager in den Führungsseminaren für externe Firmen bundesweit anbieten. Diese Statistik weist im ersten Quartal einen deutlichen Anstieg auf. Allein in der Großstadt im Norden haben sich fünf mittelständische Firmen eingeschrieben und drei weitere vormerken lassen. Darum wurde den verantwortlichen Geschäftsführern ein Angebot für das globale Netzwerk der Organisation, des „Weltinstitutes für Entwicklung und Forschung“ gemacht, kurz „WfEF“ – mit günstigen Prognosen für den Absatz ihrer unterschiedlichen Produkte.

Beim Lesen eines kleinen Zusatzvermerks runzelt der Captain unzufrieden die Stirn. Die Industrie- und Handelskammer weist ihre Mitglieder auf mögliche Infiltrierung durch Mitglieder unserer Organisation hin, die über die Durchführung von Manager-Seminaren und Einbindung von wirtschaftlichen Kontakten in ein globales Netzwerk erreichen wollen, dass die Unternehmen ihre Unabhängigkeit verlieren. Verdammt, diese Warnmeldung gefällt ihm ganz und gar nicht. In seinen eigenen Führungsseminaren hat er immer wieder „seine“ Manager darauf hingewiesen, bei der Überzeugungsarbeit differenziert und klug vorzugehen. Das heißt, die „Neuen“ im Sinne der Regeln des Meisters – der „Cunning Rules“ – Schritt für Schritt in die Kurse und Seminare einzuflechten und abhängig zu machen. Dahinter stehen in jedem Fall durch hochqualifizierte Anwälte abgesicherte Verträge, die einen Ausstieg nur mit hohen Abstandszahlungen für den Vertragsnehmer ermöglichen.

„Verdammte Unterdrücker“, murmelt der hohe Manager.

Aber wer hat in den eigenen Reihen die Fehler gemacht? Wer hat zu viele Informationen an die „Unterdrücker“ gegeben, die Organisationen und behördlichen Einrichtungen, die immer noch nicht den Sinn der Fundamentalen Ethik verstanden haben? Ich muss dem CSO Kenntnis davon geben. Der hat die Aufgabe, unbedingt die undichte Stelle herausfinden, und dann gilt es die „Unsicheren“ zu isolieren. Als nächster Schritt steht denen die „Reinigung“ durch Auffrischung der Lehre in der Zentrale in Amsterdam bevor. Dann wird man weiter sehen. Zufrieden legt der Captain die ausgedruckten Bögen mit den Zahlen in eine unauffällige Mappe, die in den privaten Büroschrank mit der codierten Schließeinrichtung wandert. Ein Blick auf die digitale Schreibtischuhr. Viertel nach zwei. Noch Zeit.

Um 15.00 Uhr hat er das Personalgespräch mit dem Nachfolger seines so plötzlich aus dem Leben geschiedenen Vertreters, der seine Nase zu tief in seine „Privatsphäre“ gesteckt hatte – so bezeichnet der Captain das dritte Feld seiner Neigungen, die nicht mit dem durch die Gesellschaft vorgeprägtem Bild von Sexualität übereinstimmen. Die Formen des homo- und heterosexuellen Lebens erfüllen nicht seine Ansprüche. Das ist sein Geheimnis. Niemand aus seinem Umfeld weiß davon. Nicht einmal seine Frau.

Er glaubte sich mit seinen ausgefeilten Vorsichtsmaßnahmen auf der sicheren Seite. Doch das war ein Trugschluss. Überraschend und ohne Ankündigung war er nachmittags zurück ins Firmenbüro gekommen. Und dort, an seinem Schreibtisch, saß sein cleverer Vertreter und „Referent für besondere Fälle“, auch Mitglied der Organisation, und hatte an seinem Rechner den geheimen Datenbestand geöffnet. Wie, hatte er nie erfahren können. Auf dem Bildschirm waren jene Dateien bloßgelegt, die er für absolut zugriffsicher gehalten hatte. Überheblich blickend war der Mitarbeiter aufgestanden und hat ihn zynisch gefragt, ob dieser Datenbestand Teil der unternehmerischen, pharmazeutischen Software des Hauses sei. Dann hatte der gerissene Mann ein paar Tasten gedrückt und auf dem Schirm waren Zahlenreihen sichtbar geworden, die ihm nur zu bekannt waren. Er, der große Captain, war von einer Minute zur anderen zum Verlierer geworden. Schweißnass und blass hatte er seinen Mitarbeiter angestarrt, der ihm höhnisch die schwarze Diskette entgegenhielt. Jetzt waren die Rollen vertauscht. Seine Frage hatte nur gelautet: „Wie viel?“

Der verräterische Mitarbeiter war nachdenklich durch den Raum gewandert, hatte undeutliche Zahlen gemurmelt und war dann mit einem Ruck stehen geblieben. „Hundertfünfzig Riesen, ein reiner Freundschaftspreis – und deinen Posten!“ Die erschreckend hohe Summe hatte sein rationales Denken entfacht. Parallel dazu, und das war eine seiner neuen, notwendigen Fähigkeiten, prüfte sein Gehirn alle Möglichkeiten, den existenziellen Feind zu vernichten.

„Wie soll das also laufen?“, hatte er den Erpresser gefragt.

Eiskalt hatte der erwidert:

„Ich gebe dir drei Tage Zeit. Dann erfolgt persönliche die Übergabe des Geldes. Cash. Und die schriftliche Erklärung deines Rücktritts als Referatsleiter und Ausscheiden aus dem Vorstand.“ – „Und was ist mit der Diskette?“

„Die kriegst du dann.“

„Und wer garantiert mir, dass keine Kopie existiert?“

„Niemand“, hatte die gnadenlose Antwort seines ehemaligen Mitarbeiters gelautet.

„Entweder bekomme ich das Geld oder du gehst baden.“

Dann hatte ihn der gnadenlose Mann völlig konsterniert in seinem Büro mit dem blinkenden Monitor zurückgelassen. Sekundenlang war er wie erstarrt gewesen. Doch dann hatte er gehandelt. Wie ein Roboter. Er hatte die Bürotür verschlossen, das Telefon auf die Warteschleife gestellt und sich an den Rechner gesetzt. Innerhalb der nächsten Stunde hatte er alle verdächtigen Daten, Bilder, Geldtransfers und Querverbindungen gelöscht, sodass eine erste Überprüfung durch Dritte keinerlei Hinweise auf seine Tätigkeiten ergeben hätte. Danach war er etwas ruhiger geworden.

Einen Tage später hatte ihm ein technisch versierter Mitarbeiter vom CSO die Festplatte ausgetauscht, nachdem die wichtigen Daten auf die neue Festplatte übertragen wurden. Das hatte ihn zwar einen ansehnlichen Betrag gekostet, der aber in keinem Vergleich zu dem drohenden Schaden stand. Danach hatte er seinen Plan geschmiedet und den Chef des CSO vom höchst gefährlichen Handeln eines Mitarbeiters in Kenntnis gesetzt, der gedroht hatte wichtige Einzelheiten über die Organisation und deren Sanktionsinstrumente der Presse und den Bildmedien mitzuteilen. Als es an kurz vor drei an der Tür klopft, löst er sich von seinen Gedanken. Ach ja, sein neuer Mitarbeiter. Nach seinen eingeholten Informationen weiß er, dass er es mit einem zuverlässigen Mann der Organisation zu tun haben wird. Und das ist sehr beruhigend.

In der Pathologie des Städtischen Krankenhauses in Lüneburg haben sich drei Männer und eine Frau eingefunden. Der große, weiß gekachelte Raum mit den hohen Glasschränken, die medizinisches Gerät und Materialien enthalten, und den zwei drehbaren Metalltischen vor den modernen Waschbecken ist an diesem grauen Aprilnachmittag hell ausgeleuchtet. Durch die sechs Milchglasfenster dringt nur diffuses Licht herein. Kühle vom gefliesten Fußboden und von der auf halber Kraft laufenden Klimaanlage dringt unangenehm an die Beine von Karin Lindholm. Frösteln erfüllt ihren Körper.

Neben ihr stehen der Pathologiepfleger in seinem hellgrünen Kittel und der ältere Chefarzt der Pathologie, Dr. Gerstenkorn. Er trägt einen makellos weißen Kittel, aber dieses Mal ohne das übliche Stethoskop. Wozu auch? Hier ist die Feststellung von Herztönen nicht mehr gefragt. Wer hier liegt, spürt nichts mehr, denkt Hauptkommissar Ehlers, als er das leichte Zittern bei der Indentifizierungszeugin registriert, die sich bei ihm eingehakt hat.

Die Frau tut ihm leid, wie jeder, der diese schwierige Aufgabe durchstehen muss. Immer noch ist da ein letztes Quäntchen Hoffnung, dass vielleicht doch ein unbekannter Mensch unter dem weißen Laken liegt.

 

„Sind Sie bereit, Frau Lindholm?“ Ehlers fragt es behutsam.

Diese blickt ihn an. In ihren Augen spiegeln sich Trauer und Angst. Sie nickt.

Ehlers drückt ihren Arm ein wenig stärker an sich, als sie an den Leichnam herantreten. Hoffentlich haben die Gerichtsmediziner die Leichentoilette ordentlich durchgeführt. Mit dem Pfleger hatte er telefonisch abgesprochen, dass nur Kopf und Hals aufgedeckt werden sollen, um der Zeugin den Anblick des mit groben Stichen zugenähten Torsos zu ersparen.

Vorsichtig schlägt der Pfleger das grüne Tuch zurück. Alle, bis auf den Pathologen, halten den Atem an. Karin Lindholm blickt starr in das Gesicht des toten Mannes vor ihr. Sekundenlang. Dann verkrampfen sich plötzlich Ihre Hände und sie presst stöhnend den Atem aus ihren Lungen. Ehlers bemerkt die sich ausbreitende unnatürliche Blässe in ihrem Gesicht. Doch ehe er reagieren kann bricht ein gellender Schrei aus ihrem Mund: „Das ist nicht Hansi! Nein! Niemals! Niemals!“

Mit einer schnellen Drehung wendet sich Lindholm von der Leiche ab. Ihr Blick fliegt von einem zum anderen. Hektisch weist sie mit einer Hand auf den Toten.

„Herr Ehlers, das ist nicht mein Mann. Helfen Sie mir!“

Lindholm zittert am ganzen Körper, schlägt die Hände vor ihr Gesicht und beginnt tief zu schluchzen.

„Wer ist das Herr Ehlers? Wer ist das? Wo ist mein Hansi?“

Ehlers überblickt blitzschnell die Lage. Er gibt den Medizinern ein Zeichen und legt schützend seinen Arm um Lindholms Schultern.

„Kommen Sie Frau Lindholm, alles wird sich klären. Ich bringe Sie nach nebenan. Da können Sie sich hinlegen.“

So geschieht es. Begleitet vom Chefarzt wird Karin Lindholm in das kleine Ärztebüro gebracht. Dort wird sie vom Mediziner auf eine Liege gebettet.

„Herr Ehlers, ich kümmere mich um Frau Lindholm.“

Und an diese gewandt: „Es tut mir furchtbar leid. Eine unentschuldbare Panne, die schnellstens zu klären ist.“

Dabei trifft sein vorwurfsvoller Blick den nun ebenso blassen Pathologiepfleger, der seine Hände knetend im offenen Türrahmen steht. Ehlers winkt dem Pfleger ihm zu folgen und schließt hinter ihm die Tür zum Büro.

„Was ist hier passiert, Herr Grebelau? Das ist eine unglaubliche Schweinerei!“

Dieser eilt, ohne zu antworten, zum Waschbecken, ergreift einen Pappbecher und lässt diesen voll laufen. So voll, dass das Wasser über seine zitternden Hände rinnt. Dann trinkt er mit hastigen Schlucken. Als er sich Ehlers zuwendet ist seine Stimme krächzend wie die eines heiseren Raben.

„Ich weiß es nicht, Herr Ehlers. Ich habe die Leiche aus dem Kühlfach gezogen, um sie für die Besichtigung vorzubereiten. Dabei habe ich wie immer auf die Beschriftung an der Tür geachtet. Und die lautete H.G. Lindholm.“

Ehlers schweigt betroffen, hört aber genau zu. Die Szene mit Lindholm hat ihn stark berührt. Gedanken kreisen hinter seiner Stirn.

„Ich werde jetzt meinen Chef in Kenntnis setzen und Sie sollten ganz fix mal Ihre Kühlfächer kontrollieren, ob alle Mann an Bord sind. In Ihrer Haut möchte ich nicht stecken, wenn Sie da was vermasselt haben.“

Ehlers verlässt eilig den Raum, wo noch immer still und stumm der Tote liegt, der Hans-Georg Lindholm sein sollte, es aber nicht ist. Auf dem leeren, weiß gefliesten Flur wählt er die Nummer seines Kommissariatsleiters.

„Bernhard, die Leiche von Hans-Georg Lindholm ist verschwunden! Wir haben hier erst mal abgebrochen.“

Ehlers Anruf löst bei Kluge und dem Rest der Mitarbeiter im Kommissariat zunächst Irritation, dann Verwunderung aus. Aber auch pietätlose Sprüche wie: Der wird doch nicht ausgerissen sein, als seine Frau auftauchte.

Kluge reagiert prompt und unwirsch darauf.

„Lass das sein Mike. Wir haben uns schlimm blamiert und müssen schnellstens klären, wie es zu der Panne gekommen ist und wie Frau Lindholm das aufgenommen hat.“

„Die arme Frau! Das muss man sich mal vorstellen. Die soll ihren Mann identifizieren und dann liegt da ein völlig Fremder auf der Bahre.“

Jutta Schneider formuliert treffend die Gedanken aller.

„Und es ist durchaus möglich, dass sie sich vielleicht wieder Hoffnung macht, ihren Mann doch noch lebend wieder zu sehen.“

Kluge nickt.

„In der Tat, das kommt noch hinzu. Also ich möchte, dass du, Jutta, dich um Frau Lindholm kümmerst und Mike um die Aufklärung des Sachverhaltes. Jens hat gesagt, dass Lindholm noch ärztlich betreut wird. Danach solltest du sie in ein Hotel begleiten und bis auf weiteres bei ihr bleiben.“

15 Stunden später hat sich alles geklärt.

Kluge sitzt mit Kriminalrat Tödter im Gespräch in dessen Dienstzimmer. Dieser erfährt, dass eine Verwechslung der Leichen zu der ungewöhnlichen Situation in der Pathologie geführt hatte. Bei den Befragungen des Personals durch KOK Gebert hatte sich schnell herausgestellt, dass den Pathologiepfleger kein direktes Verschulden getroffen hatte. In seiner Mittagspause waren zwei Männer vom Bestattungsinstitut aus Deutsch Evern erschienen, die die Leiche eines etwa gleichaltrigen Mannes abholen sollten. Da sie unter Zeitdruck gestanden und niemanden in den Räumen angetroffen hatten, waren sie selbst tätig geworden und hatten die Kühlfächer geöffnet. Dabei hatten sie die Leiche von Lindholm herausgezogen, diese in ihr Fahrzeug eingeladen und waren ohne Bescheid zu geben, davon gefahren. Nach diesen Feststellungen hatten die Telefonleitung zwischen der Polizeidienststelle und dem Bestattungsunternehmen geglüht und es war dem kühlen Kopf der Leiterin in der kleinen Firma zu verdanken, dass die Vertauschung der beiden Leichen wieder zügig gerade gerückt werden konnte. Gerade noch rechtzeitig, denn die Bestattung mit Trauerfeier hatte unmittelbar bevor gestanden. Nicht auszudenken, wenn es auch dazu noch gekommen wäre.

Später, nach einem eindringlichen Gespräch zwischen Ehlers und dem Pfleger, hatte der eingeräumt, dass er in der Eile, als er ans Telefon gerufen worden war, zwei Namenschildchen von den Türklinken der Kühlfächer, im Vorbeilaufen abgestreift hatte. Nach Ende des Telefonats hatte er in Gedanken die Schildchen an die Klinken gehängt, ohne sich vergewissert zu haben, dass jedes Namensschild zum Inhalt des Kühlfaches passte.

Als Kluge eine Stunde später in seinem Büro einen Vermerk diktiert, öffnet sich die Tür. Ehlers und Jutta Schneider kommen herein. In ihrer Mitte Karin Lindholm, die das zweite Mal in ihrem Leben und so kurz hintereinander die schweren Momente der Identifizierung durchleben und nun zur Kenntnis nehmen musste, dass ihr Mannwirklich tot war.

Die Frau sieht müde und blass aus denkt Kluge, der sich erhebt und sie mit Handschlag begrüßt.

„Frau Lindholm, es tut mir unendlich leid, dass Sie das belastende Procedere hier bei uns in Lüneburg erleben mussten. Wie geht es Ihnen jetzt?“

Die beiden blicken sich an. In den ausdrucksvollen dunkelbraunen Augen 0von Karin Lindholm schimmern Trauer und Enttäuschung.

„Mir geht es einigermaßen, Herr Kluge. Ihre beiden Leute haben sich rührend um mich gekümmert, besonders Frau Schneider. Aber es war sehr schlimm, was mir zugemutet wurde.“

„Ja, das kann ich nur bestätigen und ich wollte, Sie hätten so etwas nie erleben müssen. Bitte nehmen Sie doch Platz. Es gibt noch ein paar Dinge zu besprechen, wenn Sie in der Lage sind, zu folgen.“

Lindholm blickt ihn aufmerksam an und hört genau zu.

„Doch das geht; ich werde es versuchen.“

Für das wichtige Gespräch steht dieses Mal kein Kaffee auf dem Tisch, sondern vor jedem Anwesenden ein Glas Cognac. Kluge hat eine Flasche vor längerer Zeit in seinem Privatfach deponiert, für ganz harte Tage. Und so ein Tag ist heute.

Lindholms Gesichtszüge sind blass, und ihre rechte Hand zittert, als sie zum Glas greift und einen tiefen Schluck nimmt.

„Ich habe eine Frage an sie alle. Mein Mann ist ermordet worden. Und nun wollen Sie nicht weiter ermitteln Herr Kluge, wie Herr Ehlers mir erklärte? Das verstehe ich nicht. Sie dürfen sich doch damit nicht zufrieden geben, wenn Ihnen der Staatsanwalt sagt, die Ermittlungen müssen nach Hamburg abgegeben werden.“

Mit einer heftigen Bewegung setzt sie das Glas hart auf dem Besprechungstisch ab.

„Liebe Frau Lindholm, wir alle hier haben großes Verständnis für Ihre Situation. Aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir tatsächlich keine rechtliche Möglichkeit haben, weiter zu ermitteln.“

Hauptkommissar Ehlers ergänzt die Erklärung.

„Die Staatsanwaltschaften sind unsere vorgesetzten Ermittlungsbehörden. Deren Entscheidungen müssen wir uns beugen. Dazu kommen noch die unterschiedlichen Zuständigkeiten der Polizeibehörden in jedem Bundesland. Uns sind die Hände gebunden.“

Lindholm schaut Ehlers aufmerksam an und prägt sich jedes Wort ein. Das unruhige Reiben der Hände lässt ihre Anspannung erkennen.

„Sehen Sie hier, Frau Lindholm.“

Kluge steht auf und zeigt ihr an einer großen Landkarte von Norddeutschland wie die Elbe als Trennlinie zwischen den Bundesländern Hamburg und Niedersachsen verläuft.

„So stellt sich das geografisch dar.“

„Aber mein Mann ist doch ermordet worden, Herr Kluge. So hat es doch Herr Ehlers vorhin erklärt. Da muss man doch den Täter ermitteln, ohne auf bürokratische Hürden oder Ländergrenzen zu achten.“

Resignation und Verbitterung zeigen sich in ihrer Miene. Allseitige Stille, nur unterbrochen von leisem Schnäuzen.

Ehlers schaltet sich erneut ein.

„Das Einzige, was wir noch formell dürfen, ist, Sie zeugenschaftlich zu vernehmen. Die Begründung dafür ergibt sich aus dem Sachstand der bisherigen Ermittlungen und dem Ergebnis der Gegenüberstellung. Wären Sie damit einverstanden, Frau Lindholm?“

Abwesend nickt diese.

„Wann soll das sein? Sie sehen ja, im Augenblick geht es mir sehr schlecht. Und dann möchte ich auch wissen, wie es jetzt mit meinem Mann, ähm, ich meine mit der Überführung seiner Leiche nach Hause weitergeht.“

Dabei beginnt sie erneut zu weinen und schluchzt wieder leise vor sich hin. Die Ermittler blicken sich besorgt an. Mit der Vernehmung wird das heute nichts mehr. Kluge ergreift das Wort.

„Ich möchte Ihnen ein Vorschlag machen, Frau Lindholm. Zunächst sollten

Sie bei sich zu Hause mit einem Bestatter Ihrer Wahl sprechen. Der Leichnam Ihres Mannes ist bereits von der Staatsanwaltschaft freigegeben. Er kann nach Erledigung der Beurkundungen und so weiter – nach Hann. Münden überführt werden.“

Lindholm hat verstanden.

„Was Ihre Vernehmung angeht, können Sie den Zeitpunkt bestimmen. Ich, wir beide meinen“, er macht eine Bewegung zu Ehlers, „dass Sie sich damit ein paar Tage Zeit lassen sollten. Am besten bis nach der Beisetzung.“

Lindholm muss heftig schlucken. Erschöpft blickt sie in die Runde.

„Jens, hol’ bitte Frau Lindholm etwas zu trinken. In der Teeküche steht Mineralwasser.“

Wenig später kommt Ehlers mit einem vollen Glas zurück.

„Danke, meine Herren.“

Dann fährt ein Ruck durch ihren Körper.

„Ich schließe mich Ihren Vorschlägen an und werde einen Bestatter aus meiner Heimatstadt mit der Überführung beauftragen. Ist das möglich?“ Dabei blickt sie Kluge intensiv an, ähnlich wie beim Vorgespräch.

„Selbstverständlich. Die Bestatter sind allerorts mit den Abwicklungen vertraut, liebe Frau Lindholm.“

Da ist es wieder. Ein zweites Mal ist mir diese Anrede heraus gerutscht. Auch Ehlers blickt unauffällig zu seinem Chef. Der ist ja heute besonders höflich. Na ja, nach dieser Panne.

„Das beruhigt mich, Herr Kluge.“ Lindholms Miene ist beherrscht.

„Mit meiner Aussage würde ich gern bis nach der Beisetzung warten. Nur“, sie zögert einen Moment, „müssten Sie bitte mit mir abstimmen, wann und wo das erfolgen soll.“

Richtig, daran haben die Ermittler nicht gedacht. Die Zeugin wohnt nicht in der näheren Umgebung, sondern muss aus Hann. Münden anreisen. Das gibt Ärger mit der Verwaltung bei der Kostenübernahme. Kluge überlegt. Lindholm könnte auch von dem Kollegen in Hann. Münden vernommen werden, aber dem fehlt der Ermittlungshintergrund.

„Also, Frau Lindholm, ich denke, wenn Sie so weit sind, telefonieren wir und regeln, wo die Vernehmung stattfinden soll. Einverstanden?“

Kluge hat bewusst das zuvor gebrauchte Adjektiv bei der Anrede weggelassen.

Die intelligente Frau hat nicht nur den Sinn, sondern auch den geänderten Tonfall der Kluge’schen Erklärung verstanden. Ihre Wangen sind leicht gerötet.

 

„Damit bin ich einverstanden, Herr Hauptkommissar. So soll es sein.“

Überraschend steht sie auf, streicht den dunklen Rock glatt und blickt sich suchend um.

„Ach ja, mein Mantel.“

Höflich greift Ehlers zum Garderobenhaken.

„Würden Sie mich wohl zum Bahnhof bringen, Herr Ehlers?“

„Sehr gern. Das Wetter ist eh’ nicht so gut, um zu Fuß zu gehen. Außerdem ist es bis zum Bahnhof ein ordentliches Stück.“

Die Blicke aller wenden sich den Fenstern zu. Draußen hat das trübe Aprilwetter seinen Platz behauptet, passend zur Stimmung im Raum. Leichter Sprühregen stäubt gegen die Scheiben.

„Also Herr Kluge, vielen Dank für Ihre und die Hilfe Ihrer Mitarbeiter. Ich melde mich bei Ihnen. Haben Sie vielleicht eine Visitenkarte für mich?“

Schweigend greift dieser zu einem Kärtchen mit Dienstanschrift. Beim Abschiedsgruß verspürt Kluge deutliche Distanz.

„Ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt und viel Kraft in den nächsten Tagen.“

Die Identifizierungszeugin und der Chefermittler blicken sich einen Moment lang an. Etwas zu lange. Dann lässt der Druck der schmalen Hand nach, und nur der leichte Duft des unaufdringlichen Parfums bleibt im Raum zurück, als Lindholm dem voraneilenden Ehlers folgt.

Als die Schritte längst auf dem Flur verhallt sind, steht Kluge immer noch an derselben Stelle. Weiber, denkt er. Aus denen wird man nie schlau. Das scheint mir eine Witwe mit Krallen zu sein. Wie die die Scheißsituation überstanden hat. Chapeau. Aber irgendwo bin ich der schon mal vor langer Zeit begegnet.

Dann räumt er gedankenversunken das Geschirr zusammen und trägt es in die kleine Teeküche. Ronda kann das morgen abspülen. Ein Blick auf die Uhr.

Gleich halb sechs. Höchste Zeit, Feierabend zu machen, eigentlich. Aber vorher noch einen Blick ins Fach im dem die Neueingänge liegen. Tatsächlich, schon wieder einige neue Akten. Kluge überfliegt die beschriebenen Blätter.

Hat Zeit bis morgen. Halt. Da ist noch ein Fernschreiben vom LKA in Sachen Toter im ICE.

Der Kollege aus Hannover teilt mit, dass sich im Bundesgebiet im letzten Jahr ein halbes Dutzend Sterbefälle in Zügen der DB ereignet haben, darunter zwei Fälle mit Verdacht auf Fremdverschulden. Näheres sei bei der Bundespolizeiinspektion in Hannover zu erfahren. Kluge nickt zufrieden. Immerhin ein kleiner Ansatzpunkt für weitere Ermittlungen. Aber nicht mehr für uns. Wir sind den Vorgang los. Dabei stellt er plötzlich einen irrationalen Zwiespalt fest, den er am Morgen noch nicht gespürt hatte.

Scheibenkleister, das kommt von dieser Lindholm. Die hat mir den Floh ins Ohr gesetzt mit ihrem Meckern. Ihm fällt die zurückhaltende Reaktion seiner Mitarbeiter ein, als er sagte, dass das LKA in Hamburg den Fall übernimmt. Sie schienen nicht nur angetan davon gewesen zu sein. Er überprüft den Verteiler des Fernschreibens. Tatsächlich, wie erwartet. Das LKA 41 ist nicht angeschrieben worden. Rasch schreibt er einen Zettel an Ronda und heftet ihn an das FS.

1. Weiter steuern an HH – LKA 41

2. Original zu der Akte.

MfG

Kl./ 17.45 h

Nun ist es aber Zeit. Rasch verschließt er den Schreibtisch, fährt den Rechner herunter und verlässt einige Minuten später sein Büro. Als er vor das Dienstgebäude tritt und zum Parkplatz eilt, hat sich der Nieselregen in einen eintönigen Landregen verwandelt. Eben April. Wie das Wetter wohl in Hann. Münden ist?

Am selben Abend, fast fünf Tage nach dem Mord im ICE, ist der Hamburger Hauptbahnhof von Strömen hastender und gestresster Menschen ausgefüllt. Sie müssen sich nach Ende eines arbeitsreichen Tages in zu volle Züge quetschen, die den Großstadtbahnhof in vier Himmelsrichtungen verlassen. Dazwischen die mechanisch klingenden Stimmen der Lautsprecherdurchsagen, die angekündigten Verspätungen von Zügen für weiteren Unwillen der Fahrgäste beitragen. Eines aber haben die meisten Fahrgäste gemeinsam. Sie wollen nur noch nach Hause.

Nach Hause, denkt der inzwischen wieder angetrunkene Mann in seiner zerknautschen Thermojacke auf der Bank neben dem Kiosk. Was ist das überhaupt noch? Obwohl er in einem geschützten Winkel sitzt, lässt ihn der kalte Aprilwind zittern. Dazu kommt noch, dass seine „Gesprächspartner“ aus der Szene plötzlich weggeblieben sind. Beide, Jochen, genannt „Jo“ und Paul, genannt „Pelle“, wollten „auf Trebe“ gehen. Über die Elbe in südliche Richtung. Pelle hat von einem Heim geredet, Bodelschwingh oder ähnlich. Es soll in der Kreisstadt südlich der Elbe sein, und dort soll man immer einen Platz und eine warme Mahlzeit pro Tag bekommen. Er hat das freundliche Angebot der beiden Kumpels, mitzuziehen, abgelehnt, weil er befürchtet, dass er mit dem Sozialamt in der Curiostraße bei einer Ummeldung Schwierigkeiten bekommen würde. Die Sozialhilfe ist zwar nicht hoch, aber darauf verzichten kann er auf keinen Fall.

Wehmütig betrachtet er seine Hände. Computerhände. Sie sind eigentlich nicht für handwerkliche Tätigkeiten geeignet, aber er hat vor, sich in diesem Frühjahr eine Arbeit vermitteln zu lassen, bei der er in erster Linie seine Hände brauchen wird. Es muss nur ein bisschen wärmer werden. Vielleicht sollte ich auf einen Bauernhof gehen. Die Bauern im Alten Land oder auch im nahen Holstein suchen regelmäßig Erntehelfer beim Spargel stechen oder später bei der Kirschernte. Da gibt es wenigstens was zu essen. Erinnerungen aus seiner Schulzeit werden wach, wie er regelmäßig in den Ferien auf einem richtigen Bauernhof mit Pferden und Kühen geholfen hat. Unbewusst greift er in die Gesäßtasche. Dort steckt die abgegriffene Geldbörse. Mit klammen Fingern öffnet er den Reißverschluss. Zwanzig Mark sind noch drin. Damit muss ich die Woche lang kommen. Am besten, ich gehe in meine Bude. Da ist es wenigstens warm. Der Typ im Kiosk ist ein anderer als sonst; besonders freundlich sieht er nicht aus. Aber ich frage ihn trotzdem.

„Hallo Chef, haben Sie vielleicht noch ein oder zwei Resttanten für mich?“

Der Mann mit dem auf gequollenen Gesicht und der roten Nase hinter dem Tresen blickt irritiert.

„Was für Tanten, Kumpel? Keine Ahnung, was du meinst. Also noch mal von vorn, Alter.“

„Tschuldigung Chef, ich wollte Sie nicht verarschen. Der andere, der hier sonst verkauft, hat mir ab und zu mal ’ne „Bild“ oder ’ne andere Zeitung gegeben, die schon älter war.“

„Ach so, verstehe. Du meinst Zeitungen, die ich nicht losgeworden bin?“ Der Mann muss grinsen. Er bückt sich unter den Verkaufstresen, kramt dort herum und kommt mit rotem Gesicht wieder zum Vorschein.

„Da hast du Glück gehabt, Kumpel. Hier sind ’n paar alte Schwarten. Macht drei fünfzig.“

Als der Bittsteller erschrocken aufblickt, grinst der Verkäufer ein zweites Mal.

„Quatsch, war nur ein Scherz. Hier haste die Schmierenblätter. Kost’ dich nix Kumpel. Demnächst gibst du mal einen aus. Einverstanden?“

Der Mann in der Thermojacke hat bereits zur schmalen Börse gegriffen, hält aber erleichtert in der Bewegung inne, als ihm der Verkäufer ein halbes Dutzend alte Zeitungen und Illustrierte über den Verkaufstresen schiebt.

„Danke vielmals, danke.“

Der Bittsteller kommt ins Stottern.

„Verstehste denn, was da drin steht, so von Politik und Kultur, Kumpel?“

Bei der beleidigenden Frage blitzt es in den Augen des Gefragten auf. Einen Moment ist er geneigt, seinem Spender zu erzählen, was er vor seinem sozialen Absturz beruflich zu steuern und organisieren hatte. Doch er besinnt sich rechtzeitig und bleibt seiner Rolle treu.

„Na ja, ganz ehrlich nicht so viel. Aber ich habe dann was zu blättern, und die Zeit vergeht schneller.“

Blinzelnd schaut er sein Gegenüber an. Doch der nimmt die Antwort nur gleichgültig zur Kenntnis.

„Na denn schieb ab, Kumpel. Da kommen richtige Kunden. Ich muss auch zusehen, dass ich über die Runden komme.“