Trilogie des Mordens

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Der Beschenkte rollt mit klammen Händen die Zeitungen zusammen. Mühsam steckt er sie in seine Jacke. Damit hat er nicht gerechnet. Man kann sich doch immer noch in den Menschen täuschen. Jetzt aber nichts wie weg hier, raus aus der Kälte und dem Lärm. Zurück in seine Unterkunft, eine kleine Zweizimmerwohnung, die er sich mit einem weiteren Nichtsesshaften teilt. Trotz allem Glück gehabt. Die Frau im Sozialamt muss einen guten Tag gehabt haben, als sie mir die Unterkunft zugewiesen hat und nicht die Herberge „Herz Ass“, wo Tag und Nacht geklaut und gesoffen wird.

Als der frierende Mann nach gut zehn Minuten aus der Hektik des lärmenden Bahnhofs Richtung Steintorstraße einschwenkt, spürt er Müdigkeit und Hunger. Ich muss mir noch ein paar Scheiben Käse, Jagdwurst und ein Brot aus dem Backshop mitnehmen.

Auf dem breiten Bürgersteig hasten zur Feierabendzeit Menschen jedes Alters und Aussehens. Niemand kümmert sich um den ungepflegt aussehenden Mann mit den Zeitungen in seiner Jackentasche, der eigentlich viel jünger ist, als er aussieht. Warum sind bloß die beiden Kumpels plötzlich abgetaucht? Das ist ungewöhnlich. Der Bahnhofskiosk war immer ihr Treffpunkt gewesen. Dort gab es was zu spannen, und ab zu konnte man auch von den Reisenden ’ne Mark locker machen.

Die drei Männer hatten sich im Dezember des zurückliegenden Jahres bei der Weihnachtsfeier in der Stadtteilkirche kennengelernt und sich seitdem nicht mehr aus den Augen verloren. Jeder von ihnen hat sein eigenes Schicksal. Pelle hatte mal einige Wochen im Knast gesessen, weil er vor Hunger in eine Imbissbude eingestiegen war.

Mühsam versucht sich der einsame Mann auf seinem langen Heimweg an das letzte Treffen zu erinnern. Sie hatten auf dem beleuchteten Bahnsteig auf einer Bank gesessen und die abfahrenden Züge beobachtet. Er hatte sich einige „Lampen“ Gerstensaft rein gezogen, als auf dem Bahnsteig plötzlich Bambule war. Es hatte unangenehm gestunken, als der hell erleuchtete ICE, mit dem eleganten Speisewaggon in der Mitte, seine Fahrt aufnehmen wollte. Hastiges Gelaufe und lautes Geschrei waren zu hören gewesen, und die Bullen von der Bahnhofswache waren zu der keilförmigen Spitze des ICE gerannt. Pelle und Jo hatten ihn hastig weggezerrt, und er hatte sich hinter einer großen Fahrplantafel verschanzt. Nur nicht auffallen, war die Devise.

Plötzlich lautes Hupen von Autos und wüste Beschimpfungen der Passanten. Der in Gedanken versunkene Mann blickt erschrocken in die Runde.

„Idiot! Penner!“, schallt es von allen Seiten. Das runde, rote Licht der Fußgängerampel an der Langen Reihe dringt schlagartig in sein Bewusstsein. Verflixt! Schnell stolpert er zurück auf den sicheren Fußweg, weil der Verkehr wieder ins Rollen kommt.

Benommen blickt er sich um. Als die Ampel auf Grün umspringt, eilen die Menschen weiter, ohne noch einen Blick für den einsamen Mann zu haben. Davon gibt es genügend in der Großstadt an der Elbe, besonders in dem Stadtteil, der hinter dem Hauptbahnhof beginnt. Ich muss unbedingt darüber Klarheit gewinnen, was an diesem Abend auf dem Bahnsteig los war. Wenn es mir wieder einfallen sollte. Und warum die Kumpels weg sind.

Dienstagabend

Zwei Abende und Nächte waren die beiden Mieter aus der WG in Stellingen durch die Straßen von St. Pauli gezogen, dem berüchtigten Stadtteil der Hafenstadt an der Elbe, und hatten sich die Augen ausgepeilt und die Füße platt gelatscht. In den Tagen hatten sie mehr Kneipen, Clubs und Absteigen kennengelernt, als in ihrer bisherigen Hamburger Zeit. Keine Spur von den beiden Nutten, die sie so gelinkt haben. Fred, der eigentlich Betrogene, hat aber nicht nur Rache im Sinn; er achtet besonders auf die Veröffentlichungen in der Presse über den „Fall“, in der Kreisstadt südlich von Hamburg. In der „Bild“ war am Montag auf der fünften Seite ein Artikel mit der Schlagzeile „Mord an italienischem Gastronomen“ erschienen. Mit einer kurzen Meldung wurde auf die Tat eines Unbekannten eingegangen, der den Gastronomen in der Nacht zum Sonntag in dessen Reihenhaus in Winsen/Luhe erstochen hat. Mit Messerstichen in den Hals und Brust. Kein Wort über das geraubte Geld. Nur der Hinweis, dass zur Aufklärung des rätselhaften Falles eine Mordkommission eingerichtet wurde.

Er hatte mit Alex weiterhin kein Wort über das Geld gewechselt und ihm auch nicht den Zeitungsartikel aus der „Bild“ gezeigt, den er sorgfältig in einer Schrankschublade versteckte.

„Wir müssen die Nutten finden, die uns beklaut haben.“

Das ist sein einziger und ständig wiederholter Satz, mit dem er Alex wütend macht.

„Und dann, was willst du dann machen? Willst du sie fertig machen oder was?“

Das ist Alex’ genauso wütende Reaktion, als er ihn am Dienstagabend erneut zum Mitmachen auffordert.

„Das ist doch sinnlos. Die Schnallen haben längst die Kohle verbraten. Von denen siehst du keine müde Mark. Das gibt nur Ärger.“

Fred verzieht keine Miene.

„Was meinst du, wenn die ihre Loddel anschieben? Dann sehen wir beide alt aus, das sag’ ich dir!“

Fred sinnt einen Moment lang mit bitterbösem Gesicht über Alex’ Worte nach.

„Mit denen werden wir schon fertig!“

„Du spinnst! Und wo sollen wir denn die beiden Nutten noch suchen? Die ham sich doch längst verpisst. Meinst, die können nicht eins und eins zusammenzählen?“

„Dann suchen wir eben heute mal woanders. Ich habe gecheckt, dass hinter dem Bahnhof in St. Georg auch noch eine Strichermeile läuft. Inne Gegend um den Steindamm rum oder so ähnlich. Soll zwar ’n Drogenstrich sein, aber vielleicht ham die beiden Tussen sich dahin verzogen.“

„Also gut. Ich komme mit – unter einer Bedingung. Heute ist es das allerletzte Mal. Ich habe die Schnauze gestrichen voll. Scheiß auf die Kohle. Die ist sowieso im Arsch.“

Fred grinst hämisch.

„Du kannst nur so reden, weil es nicht deine Kohle war. Wenn du wüsstest, wie hart ich mir die erarbeiten musste, würdest du anders darüber denken. Aber nun gut. Wir ziehen das heute durch. Zum letzten Mal, versprochen.“

Alex nickt.

„Wir haben noch ein paar Stunden Zeit. Bevor es dunkel ist, brauchen wir nicht loszuziehen.“

„Okay, lass uns ’ne Dose von Aldi auslutschen. Ich glaube, in der Küche ist ein Rest von der Kartoffelsuppe übrig geblieben. Die sollten wir uns genehmigen.“

Fred steht auf. Langsam wird es draußen dämmerig. Doch der Himmel ist einigermaßen klar. Ein kleines Wunder für Hamburg – und das auch noch im April. Wenigstens kriegen wir keinen nassen Arsch. Alex ist in der Küche verschwunden und Fred hört ihn herumhantieren. Geschirr klappert. Minuten später breitet sich der Geruch der aufgewärmten Suppe aus, in der noch ein paar Würstchen schwimmen.

Weichling, denkt Fred gehässig. Dabei braucht er mir nur den Rücken freizuhalten, den Rest mach’ ich allein. Er streift mit der Hand über das rechte Bein. An der Wade hat er einen schmalen Lederholster befestigt. Darin steckt ein scharf geschliffenes „Buck Knife.“ Er hat es vormittags aus dem Fachgeschäft an der Reeperbahn gekauft. Ganz ähnlich wie das, das er vor ein paar Tagen in der Hand gehalten hat.

Als die beiden ihren Hunger gestillt haben, spendiert Alex eine Runde Bier. Die Aufreißlaschen der Halbliterdosen knacken und zischend entweicht die Kohlensäure.

„Ich hab ’ne Idee. Du bleibst im Hintergrund und spannst die Lage, und ich mach’ das mit den Nutten klar, wenn wir sie aufgetan haben.“

„Wenn“, raunt der vorsichtige Alex. Auch mit vollem Mund.

„Heute Abend erwischen wir sie. Das sagt mir mein Riecher.“

Beide Männer grinsen sich an. Der Streit ist beigelegt, und dann scheppern die Dosen so heftig, dass der helle Gerstensaft über ihre Hände schäumt. Also gut, heute der letzte Versuch.

Bei Kluges zu Hause ist Dienstagabend dicke Luft. Als der müde Kommissariatsleiter die Haustür hinter sich zuzieht und in der Diele seine Jacke sorgfältig auf den Bügel hängt, eilt seine Frau freudestrahlend aus der Küche heraus. Das ist eigentlich nichts Ungewöhnliches, nur das Strahlen in ihren Augen ist dieses Mal ein wenig anders.

„Stell’ dir mal vor, wer heute angerufen hat?“, sprudelt aufgeregt die Frau, die er immer noch so liebt wie in den ersten Jahren ihrer Ehe.

„Na wer schon, die Kinder endlich mal wieder?“ Brummelnd nimmt er seine Frau in die Arme und küsst sie auf beide Wangen. Nun ist sie es, die feinfühlig reagiert.

„Kluge, nur alte Tanten oder Kinder küsst man auf die Wangen, was ist los mit dir, heute? Hast du etwa eine neue Bekanntschaft gemacht? Im Dienst?“

Bernhard Kluge übergeht geflissentlich die den Kern treffende Frage.

„Nun sag endlich, wer angerufen hat. Ich habe einen Bärenhunger und würde gern zu Abend essen.“

„Alter Knöter jochen. Also hör zu. Heute vormittags rief mich ein Mann an. Seine Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. Als er dann seinen Namen Thann nannte, fiel mir sofort ein, wer er ist.“ Sie jucht vor sich hin.

„Und weißt du, wer er ist?“

Sie blickt ihn durchdringend an.

„Nein, du weißt es nicht. Ich sehe es dir an, obwohl ich es dir bereits ein Dutzend Mal erzählt habe.“

Da Kluge schweigsam zuhört, nimmt die fröhliche Gattin den Faden wieder auf.

„Jean-Luc war mein Jugendfreund. Er stammt auch aus dem Elsass und war irgendwie sehr entfernt verwandt mit unserer Familie.“

„Und nun?“

Kluges Stimme hat einen fast dienstlich klingenden Ton bekommen.

„Stell’ dir vor, Jean-Luc hat in geschäftlich in Hamburg zu tun. Er ist ein ziemlich großes Tier bei einer französischen Zeitung, wie er sagte.“

Aus ihrer Stimme ist deutlich Bewunderung herauszuhören. Kluge registriert das sehr bewusst.

 

„Du willst dich also mit ihm treffen, oder?“

„Richtig, mein geliebter Brummelbär.“

Sie hüpft freudig herum.

„Aber doch nicht in unserem Haus! Das würdest du unmöglich so blitzblank bekommen, wie es erforderlich wäre. Und denk bitte auch an unsere alte Garniture salon.”

Kluge wählt mit leichtem Spott den französischen Namen, so wie es seine geringen Sprachkenntnisse zulassen. Damit hat er bei seiner Gattin einen wunden Punkt getroffen. Schlagartig wird sie nachdenklich.

„Du hast recht, mon cher, wir bräuchten längst eine neue.“

Liebevoll lächelnd greift sie ihrem Mann unter den Arm und führt ihn in das große Wohn- und Esszimmer, wo sie ein französisches Käsebuffet mit Artischocken angerichtet hat. Ein dunkler Rotwein wartet schon im Dekantier.

„Keine Sorge, Jean-Luc hat mich in das Nobelrestaurant an der Ilmenau eingeladen. Zu einem feudalen Abendessen.“

Mit diesen Worten, die für Kluge auch nicht beruhigender sind, schiebt sie ihren nachdenklichen Gatten an den Platz. Nervös greift er zum Baguette, als seine besonders aufmerksame Gattin vom dunklen Rotwein aus dem Burgund einschenkt.

»Á ta santé et á notre amour, mon grand commissar.«

»Á la tienne.«

Kluge ist plötzlich einsilbig geworden.

„Wie lange sind wir eigentlich schon verheiratet? Drei Jahre oder 28?“

Gegenüber klirrt das Messer auf den Porzellanteller. Die Augenbrauen der eben noch liebevoll blickenden Ehefrau ziehen sich ärgerlich zusammen. Die kleine Nase rümpft sich verächtlich.

„Beim letzten Hochzeitstag, an den ich dich erinnern musste, waren es genau sechsundzwanzig, mon cher.“

„Siehst du!“

„Wenn ich mich jetzt schon bei unserer großen Liebe nicht daran erinnern kann, wie ozeangroß muss dann die Liebe zwischen Jean-Luc und dir gewesen sein? Und dass er sich dann noch nach, ich weiß nicht wie viel Jahren, plötzlich an dich erinnert.“

Seine Frau wird puterrot. Ihre Gesichtsfarbe ähnelt beinahe der des Weins, stellt Kluge besorgt fest. Dann klirrt das Besteck seiner Gattin erneut.

„Kluge, du Idiot.“

Dabei spricht sie jeden Konsonanten betont deutlich aus.

„Das war eine Jugendliebe in den Ferien. Mit ihm habe ich mich immer sehr gut verstanden. Unsere Wege hatten sich endgültig getrennt, als er das Studium in Paris aufgenommen und im Anschluss daran Marie Chantal, die Tochter eines Bankiers, geheiratet hat.“

„Verflixt, den ganzen Abend nicht als Jean-Luc. Ich wünsche dir viel Spaß beim Austausch eurer Jugenderinnerungen. Aber jetzt langt es mir.“

Ärgerlich schiebt der Eifersüchtige seinen halbvollen Teller zurück und legt das Besteck so hastig daneben, dass das glatte Silbermesser vom Tisch rutscht und klirrend auf das Parkett fällt.

„Verflixt, auch das noch.“

Schwungvoll befördert er das Messer wieder auf den Tisch, ergreift das halbvolle Glas Wein und ist im Nu auf dem Weg zu seinem Arbeitszimmer.

„Mit dem Hund kannst du heute gehen. Ich bin nicht in Stimmung. Sag ihm das!“

Sie ist betroffen. Mit diesem Abschluss hat sie nicht gerechnet. Da ist doch nun wirklich nichts dabei. Ich habe mich so über Jean-Lucs Anruf gefreut. Bilder aus gemeinsamen schönen Tagen nehmen Gestalt an. Ah, le bon vieux temps.

Ja, sie war damals richtig verknallt in ihn, den gut aussehenden Sohn einer Anwaltsfamilie. Aber als Partie im kleinstädtischen Städtchen Colmar kam sie für den Akademiker spross überhaupt nicht in Frage. Ihr Vater war zwar der Nachfolger eines alteingesessenen kleinen Familienbetriebes, einer Buchdruckerei. Aber damals erfolgte der Druck nur an veralteten Maschinen. Für die Anschaffung großer, moderner Zweifarben-Druckmaschinen fehlte dem Vater das nötige Kapital. Trotzdem war die aus Deutschland stammende Familie Mueller in Colmar anerkannt.

Eigentlich hätte sie den Betrieb übernehmen sollen, entschloss sich dann aber für eine künstlerische, handwerkliche Ausbildung als Dekorateurin mit dem Ziel, Innenarchitektur zu studieren. Dazu war es nicht mehr gekommen, leider, als sie den damals schlanken, dunkelhaarigen und humorvollen Versicherungskaufmann Bernhard Kluge in einem Straßencafé in Strasbourg kennen- und wenig später lieben gelernt hatte.

Sie seufzt tief. Mein Brummel Bernard, denkt sie liebevoll. Sollte der plötzlich eifersüchtig geworden sein oder ist er nur schlecht gelaunt? Wie auch immer. Trotzig gießt sie sich ein zweites Mal das bauchige Glas voll und stößt in Gedanken auf die morgige Begegnung mit ihrem unsichtbaren Gegenüber an.

„Á ta santé, Jugendfreund, au notre Rendezvous.“

Dann stellt sie das Glas vorsichtig ab. In Gedanken versunken bedient sie die Stereoanlage.

Mozarts „Kleine Nachtmusik“ schwingt durch den Raum. Was ziehe ich bloß an? Das muss ich nachher in aller Ruhe schauen. Und danach noch eine Runde mit Felix gehen. Aber nur eine kleine. Mit Bernard brauche ich heute nicht mehr zu reden. Der sitzt bestimmt vor seinem Computer.

Die Ermittlungsarbeit der neu eingerichteten Mordkommission „Falcone“ in der Kreisstadt Winsen findet in einem separaten Gebäude auf dem Gelände der Polizeiinspektion statt. Es gilt, den gewaltsamen Tod des italienischen Staatsangehörigen Giovanni Falcone aufzuklären. Zwei Tage hat die Einrichtung und Ausstattung mit PCs, Telefonen und Büromöbeln in Anspruch genommen, ehe die zusammengewürfelte Mannschaft unter der Leitung von Kriminalhauptkommissar Winfred Scharnhorst aus Lüneburg, richtig loslegen kann. Die persönliche Aversion des PI-Leiters, Polizeioberrat Haller, gegen den Moko-Leiter aus der Nachbar-PI, hat letztlich auch dazu beigetragen, dass es schier endlos dauerte, bis fünf Diensträume für die Kommission freigemacht werden konnten. Tags zuvor hat noch ein klärendes Gespräch der beiden PI-Leiter aus Lüneburg und Winsen/Luhe stattgefunden, bei der die Personalentscheidung getroffen wurde, dass Scharnhorst die Moko leiten soll.

Dieser liest nervös den Tatortbefundbericht zum vierten Mal, aber nun endlich in seinem Dienstzimmer. Neben den anderen Berichten liegen auch die vergrößerten Tatortfotos.

Verdammt, da sieht aus wie in einem Schlachthaus. Schauplatz ist das breite Bett, auf dem Blutspuren ein schauriges Muster ergeben.

Dann weitere, im Abstand von mehreren Metern auf dem weißen Flokati und den weißen Fliesen, bis zur Diele. Und blutige Trittspuren. Quer durch den Raum. Der Ermittler hat die Szene vor Augen, wie er verspätet mit den Kollegen die abgesperrte Doppelhaushälfte aufsucht. Der unangenehme Geruch des fauligen Blutes hatte ihn tags darauf noch begleitet. Inzwischen haben die ersten Befragungen und Vernehmungen ein deutliches Bild des ehemaligen Besitzers, eines italienischen Gastwirts ergeben. Giovanni Falcone, 46 Jahre, Junggeselle, geboren in Valle Percino, Piemont, dem nördlichsten Weinanbaugebiet in Italien, seit acht Jahren in der Bundesrepublik gemeldet. Gastwirt und Besitzer der Pizzeria Venezia in Winsen/Luhe. Vorstrafen keine, aber einige Strafanzeigen wegen Diebstahls und Körperverletzung an deutschen Gästen, aber auch eigenen Landsleuten. Nach Feststellungen der Polizeiwache war Falcones Lokal in der Tatnacht geschlossen. Der übliche Ruhetag. Der nach dem Brand wieder eröffnete Betrieb lief ganz ordentlich. Nun wird Scharnhorst stutzig. Er blättert den Hefter durch. Nichts über den Brand zu finden. Beunruhigt greift er zum Hörer.

„Hartmut, kannst du mal kommen?“

KOK Hartmut Weige ist ein „abgebuffter“ Ermittler der PI Winsen und jetzt sein Aktenführer. Die beiden kennen sich seit Jahren gut. Wenig später ist der Kollege da, eine sympathische Erscheinung in sportlichem Pullover und Jeans.

„Setze dich bitte.“ Fahrig reicht Scharnhorst ihm die Hand.

„Also, es betrifft Falcone. Hier ist ein Vermerk über einen Brand Ende 94 im Milano, jetzt Venezia, Du weißt. Aber ich finde keinen Vorgang oder irgendein Schriftstück über das Ganze. Kannst du mich aufklären?“

Weige blickt aufmerksam auf seinen offensichtlich nervösen Moko-Leiter. Er blättert sorgfältig den Hefter durch.

„Hmh, merkwürdig. Das sind doch unsere Unterlagen. Da müsste auf jeden Fall irgendetwas von einem Brand drin sein.“

Nachdenklich streicht er sich über seinen gepflegten Kinnbart.

„Ich kann mich noch genau an die Kiste erinnern. Das war zwischen Weihnachten und Neujahr. Die Pizzeria war nachweislich geschlossen und Falcone nicht da. Und trotzdem brannte es in der Nacht auf den 28.12. War ziemlich hoher Schaden und wäre wohl ein totaler geworden, wenn nicht die Jungs von Bergen-Retten-Löschen so schnell gewesen wären.“

„Es war reine Glückssache, dass die Brandschützer eine Einsatzbesprechung in Zugstärke hatten – wegen Silvester und Neujahr.“

„Und gab es ein Ermittlungsergebnis, damals?“

Scharnhorsts Stimme drückt Ungeduld aus.

„Ja, schon, aber das war ziemlich diffizil. Du weißt selbst, wie schwierig Brandermittlungen sind. Wir haben natürlich – auch wegen der Abwesenheit von Falcone – auf Brandstiftung getippt. Das übliche Muster. Eigentümer ist weg, hat ein gutes Alibi und die Bude fackelt ab.“

„Und weiter?“ Scharnhorst wird zunehmend ungeduldig.

„Der Elektrosachverständige fand im fabrikneuen Elektrobackofen – übrigens ein deutsches Fabrikat – eine Stelle, an der ganz offensichtlich zwei Kabelverbindungen gelöst worden waren. Das kann auf längere Sicht zu einer Erhitzung mit den bekannten Folgen führen.“

Scharnhorsts Gesicht zeigt nervöse Anspannung.

„Ich weiß, ich weiß, und weiter?“

„Aber das setzte eine bewusste technische Installation voraus, die nur von Insidern vorgenommen kann – oder auch einen werksseitigen Fehler.“

„Scheiße.“ Scharnhorst knurrt es.

„Genau, das fanden wir auch. Wir waren der Auffassung, dass Falcone sich jemanden hatte kommen lassen, denn unter dem Mikroskop waren im Schließzylinder des Nebeneinganges minimale Kratzer zu erkennen. Und das war alles.“

Der neue Moko-Leiter steht auf und geht unruhig hin und her.

„Falcone wurde im neuen Jahr vernommen. Er kam mit einem Rechtsanwalt und legte gleich eine schriftliche Erklärung mit der Aufzählung von einem halben Dutzend Alibizeugen in Italien vor. Und das war’s dann wirklich.“

„Und wie viel Kohle hatte er kassiert?“

„Na ja, das waren wohl so zweihundertachtzig Riesen für die Ruine, die er anschließend so richtig aufgemotzt hat. Kundschaft gab es genügend, weil der Mann gut kochen konnte.“

Die beiden Ermittler blicken sich nachdenklich an.

„Wenn die Mafia dahinter steckte, was nicht auszuschließen ist, wäre ein Ermittlungserfolg jetzt ziemlich unwahrscheinlich. Zeugen, die wirklich etwas sagen könnten, melden sich nicht.

„Also könnte der Mörder auch aus dieser Richtung kommen?“

Oberkommissar Weige schaut seinen Chef prüfend an.

„Zumindest müssen wir auch dieser Richtung nachgehen. Es könnte durchaus sein, dass sich Falcone aus irgendeinem Grund unbeliebt gemacht hat.“

Scharnhorst klappt unzufrieden den Hefter zu und blickt sorgenvoll auf die Tatortfotos.

„Hier, sieh dir schon mal die Bilder an. Und dann noch die von der Rekonstruktion des Fluchtweges. Ich habe sie eben vom Amt bekommen.“

Weige mustert die ausgebreiteten Fotos.

„Eigentlich sieht das nicht wie die Handschrift eines Killers aus. Mehr wie eine spontane Tathandlung, zumal auch Falcones Ledertasche mit Papieren und möglicherweise Bargeld fehlt.“

Es herrscht nachdenkliche Stille.

„Ich habe vor, die Umgebung des Tatortes morgen ein zweites Mal absuchen zu lassen. Mit Suchhunden von der Diensthundestaffel und einem Zug Bereitschaftspolizei.“

„Und was versprichst du dir davon?“

„Na ja, uns fehlt eben die Geldtasche von Falcone, wie du gerade sagtest. Die könnte ein wichtiger Spurenträger sein.“ Scharnhorst blickt gehetzt auf seine Armbanduhr.

„Sollten wir erfolgreich sein und eine leere Tasche auffinden, könnte das ein Indiz für einen Raubmord sein. Und das wäre nicht unbedingt die Art der Mafiosos.“

„Oder vielleicht gerade doch, um davon abzulenken?“

Scharnhorst fühlt sich übertrumpft.

„Da hast du vielleicht Recht. Jedes Ding hat zwei Seiten. Mal sehen. Also bis um 17.00 Uhr. In der Runde besprechen wir den morgigen Ablauf und das Obduktionsgutachten.“

Als Weige die Tür geschlossen hat, sinkt Scharnhorst auf seinen Stuhl. Das fehlt uns noch, dass Mafiosi dahinter stecken. Dann gute Nacht. Wo liegt das Motiv? Ich muss den Fall unbedingt aufklären. Das ist für mich sehr wichtig. Ich darf Bernhard Kluge nicht enttäuschen. Die vergangenen Tage waren schon stressig, aber jetzt geht es erst richtig los. Kaum ist dieser Gedanke zu Ende gedacht, fängt das Telefon wie wütend an zu klingeln. Aufgeschreckt reißt Scharnhorst den Hörer an sich. „Herr Scharnhorst, Meißner, Pathologiepfleger, Kreiskrankenhaus Winsen. Entschuldigen Sie die Störung. Hier bei mir ist der Teufel los. Es geht um die Leiche von Falcone. Die Italiener sind hier und wollen sie mitnehmen. Was soll ich machen?“

 

„Wer ist da und was soll mit der Leiche passieren, Herr Meißner?“

„Draußen auf dem Hof ist die gesamte Familie versammelt, Angehörige von Falcone. Und die machen ein Riesentheater. Sie wollen den Leichnam nach Italien mitnehmen. Was soll ich tun?“

„Ist ein Bestatter dabei – oder soll die Leiche hinten sitzen?“

Scharnhorst hört den Pfleger gequält lachen.

„Ja, nein, natürlich nicht. Der Bestatter steht neben mir. Er sagt, er kommt aus München und hat von Falcones Bruder den Auftrag, die Leiche abzuholen. Der Bruder ist auch hier und total sauer. Am liebsten würde er mir ein Messer in den Bauch rammen.“

„Na, na. Eine Leiche mit Stichverletzungen reicht doch! Aber gut, Herr Meißner. Ich schicke den Kollegen Weige raus. Der kümmert sich darum. Einverstanden?“

„Danke. Aber er soll so schnell wie möglich kommen, sonst gibt das hier noch ein Drama.“

Scharnhorst hört lautes Stimmengemurmel, bevor er auflegt. Auch das noch. Dann greift er zum Hörer.

„Hallo Hartmut, ich habe vor unserer Besprechung noch einen Auftrag für dich. Dauert nicht allzu lange.“

Als kurz nach 17 Uhr die Ermittler von Kripo und Schutzpolizei versammelt sind, summt aufdringlich das Telefon.

„Der PI-Leiter.“

Scharnhorst sieht es auf dem Display. Die lauschende Gruppe registriert es. Nach viermaligem Klingeln nimmt er endlich den Hörer auf, nachdem er auf „Mithören“ gestellt hat.

„Mordkommission Falcone, Scharnhorst am Apparat.“

„Hier Polizeioberrat Haller, Leiter PI Winsen. Haben Sie einen Moment Zeit, Herr Koll…, Herr Scharnhorst?“

„Tut mir leid, Herr Polizeioberrat. Wir haben gerade mit der Moko-Besprechung begonnen. Die wird länger dauern.“

„Aha.“

Ein Moment Stille.

„Meine Zeit ist natürlich sehr begrenzt, Herr Scharnhorst. Das können Sie sich ja denken. Aber ich würde trotzdem die Gelegenheit nutzen und mal in eine Mordkommission reinschauen. Ein Teil ihrer Ermittler sind Beamte meiner Inspektion. Da kann ich mir bei der Gelegenheit gleich einen Eindruck von deren Arbeit verschaffen.“

Scharnhorst schüttelt verwundert den Kopf.

„Wenn Sie unbedingt der Meinung sind. Ich kann Sie schließlich nicht daran hindern.“

„Gut, gut. Beginnen Sie ruhig schon. Ich bin in wenigen Minuten bei Ihnen.“

Scharnhorst legt resigniert auf.

„Ihr habt es mitgehört. Mir bleibt auch wirklich nichts erspart.“

Die Mitarbeiter grinsen ihrem Chef aufmunternd zu. Sie wissen um die Animositäten zwischen den beiden Männern. Weige, Scharnhorsts Aktenhalter und Vertreter, ergreift das Wort.

„Ich denke, ich spreche für alle. Folgender Vorschlag: Wir werden unserem Chef einen Einblick in richtige kriminalistische Arbeit geben. Ich denke, zu Anfang sollten wir uns das Gutachten der Rechtsmedizin vornehmen. Was meint ihr, Kollegen?“

Scharnhorst blickt überrascht auf. Die sechs Männer und zwei Frauen, die fast alle die unangenehmen Eigenarten des Inspektionsleiters kennengelernt haben, nicken zustimmend. Das ist so ganz nach ihrem Geschmack. Wenig später klopft es laut an der Tür.

„Herein“, kann Scharnhorst gerade noch sagen, als diese schon aufschwingt und der allseits bekannte Polizeioberrat Haller eintritt. Mit einem tadellosen Uniformhemd mit zwei goldenen Sterne auf den Schulterklappen, der nagelneuen Krawatte und einer messerscharf gebügelten Hose. Er könnte mit seinen 182 Zentimetern und dem schlanken, muskulösem Körperbau durchaus sympathisch wirken, wären da nicht der unruhige, manchmal auch zynisch wirkende Blick, die angeklatschten, fast schwarzen Haare und die nach oben gezwirbelten Augenbrauen. Böswillige nennen ihn „den mit dem Ramadeckel frisierten Mephisto“.

„Guten Tag, meine Damen und Herren von der Mordkommission, oder sollte ich schon ‚Guten Abend‘ sagen?“ Die übliche Ironie ist nicht zu überhören. Arrogant grinsend steht er mitten im Raum vor den schweigenden Ermittlern.

„Bitte, Herr Polizeioberrat, nehmen Sie Platz in unserer Runde.“

Scharnhorst hat blitzschnell geschaltet, um die Peinlichkeit nicht weiter ausufern zu lassen. Er stellt Haller einen Stuhl hin.

„Danke, sehr freundlich. Aber Sie dürfen den Dienstgrad jetzt weglassen. Wir ziehen doch alle an einem Strang. Nicht wahr, Kollegen?“

Scharnhorst bleibt reserviert. Was ist das für ein aalglattes Arschloch! Er nimmt den Faden wieder auf.

„Für Sie zur Kenntnis, Herr … ämh… Haller. Wir besprechen gerade den Obduktionsbericht im Fall Falcone.“

Polizeioberrat Haller nickt zustimmend, während Scharnhorst seinem Kollegen ein Zeichen gibt.

„Also Ralf, du kannst weitermachen.“

KOK Ralf Mestermann, ein tüchtiger Ermittler aus Buchholz, blättert ein paar Mal im mehrseitigen Bericht.

„Äußere Besichtigung, Doppelpunkt. Leichnam eines 46jährigen Mannes mit dünnem, schwarzem Kopfhaar und ausgeprägter Stirnglatze. Mittelkräftiger Körperbau, ein Meterachtundsechzig groß, 71,8 kg. An der Körperseite violette, unverrückbare Leichenflecken, Totenstarre vorhanden, an den Armen gelöst.“

Mestermann macht eine Pause und blickt in die Runde. Alles in Ordnung. Die Kollegen hören gespannt zu, jedenfalls macht es so den Eindruck.

„Defekte der Haut bzw. Körperoberfläche, Eröffnung der linken Halsseite durch Stich–Schnitt-Verletzung in die Tiefe gehend. Massive, breite, bereits getrocknete Blutabrinnspuren, senkrecht und horizontal verlaufend, zwei senkrechte Stiche in den Herzbeutel beziehungsweise in die Beutelspitze.

„Entschuldigung, Herr Kollege, das verstehe ich nicht ganz. Sie beschrieben eben verschiedene Formen der Abrinnspuren, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Wie reimt sich das zusammen, einmal vertikal und einmal horizontal?“

Mestermann blickt irritiert auf.

„Das erklärt sich dadurch, Herr Polizeioberrat, dass der Stich in die Halsregion nach unserer Rekonstruktion im aufrechten Stand des Opfers erfolgte. Dabei entstanden die vertikalen Abrinnspuren nach unten. Als dann Falcone zusammengebrochen ist und auf dem Boden lag, strömte weiter Blut aus der Wunde am Hals. Nun wieder in vertikale Richtung, was aber in der Beschreibung als horizontale Richtung erscheint. Ebenso die Blutungen der beiden Messerstichwunden in die Herzregion. Diese verlaufen auf der Bekleidung horizontal.“

Polizeioberrat Haller blickt den Vortragenden eine Weile nachdenklich an.

„Okay, jetzt ist mir das klar geworden. Es kann weiter gehen.“

Mestermann grinst säuerlich.

„Wenn Sie das sagen, nun denn.“

Dann zitiert er die von den Pathologen der Hamburger Rechtsmedizin niedergelegten Kapitel des Gutachtens und fährt mit der Inneren Besichtigung fort, der genauen Beschreibung der Organe und des Skelettsystems. Dabei vergehen beinahe zwanzig Minuten. Die eingeweihten Kollegen lassen sich nichts anmerken; im Prinzip sind die vorgetragenen Kapitel reine Routine für alle. Sie gönnen sich deshalb eine kurze Entspannung und beobachten unauffällig ihren Dienstvorgesetzten der deutlich blasser um die Nase geworden ist.

„Todesursache“ setzt gerade wieder Ralf Mestermann an, mit einem Seitenblick auf Haller.

„Todesursache sind zwei Stiche in die linke Herzkammer, Ventriculux dexter, mit Verbluten nach Durchtrennen der Arteria coronaris dexter, also der linken Herzschlagader und nachfolgendem Herzstillstand.“

Mestermann legt genüsslich eine Pause ein, um die lateinischen Bezeichnungen wirken zu lassen. Allgemeines Gemurmel setzt ein.

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