Wer die Geister stört

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Sari: Frank Begay #2
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Vor Schreck atmete er aus und sog sogleich die Luft reflexartig wieder ein. Der widerliche Verwesungsgestank schnitt ihm in die Lungen. Er sprang abermals auf und lief einige Schritte von der Leiche weg. Er drehte sich um und sah zu der Stelle hin. Dort lag Timmons mit eingeschlagenem Schädel. Ein lauer Wind spielte mit den Blättern und rauschte leise in den Zweigen. Ein friedliches Bild, zu dem der tote Mann, den Begay gefunden hatte, so gar nicht passte.

Begay hatte seine Aufgabe erfüllt und den Vermissten gefunden. Um die Bergung konnten sich jetzt andere kümmern. Er nahm sein Handy heraus und informierte Sheriff Lawson in Safford. Aber Begay war viel zu sehr Polizist, um jetzt aufzuhören und nach Hause zu fahren. Und er war viel zu sehr Navaho-Polizist, um nicht zu wissen, dass Lawson mit seinem Stab und der sogenannten Spurensuche hier bald alle brauchbaren Spuren zertrampelt haben würden. Timmons war ermordet und verscharrt worden, das war klar.

Begay machte sich daran, nach den Spuren seiner Mörder zu suchen. Es handelte sich auf jeden Fall um mehrere Personen, wahrscheinlich drei oder vier, so deutliche Spuren hatten sie hinterlassen. Dies waren sicher auch keine traditionellen Apachen, die wussten, wie man sich in der Wildnis bewegte ohne viel Spuren zurückzulassen. Es konnten natürlich aber sehr wohl „moderne“ Indianer gewesen sein oder sogar Stadtindianer, denen der Bau der Teleskopanlagen und die Straße, die dafür gebaut wurde, nicht passten. Viele junge Indianer nutzten die Chance, wenn wieder ein indianisches Heiligtum oder ein Friedhof zerstört wurde, sich in die erste Reihe zu stellen und ihre Frustration über die verhasste weiße Gesellschaft auszuleben.

Zwischen einzelnen kleineren Ästen und Laubbäumen, die auf dem Waldboden wuchsen, hindurch zwischen großen Tannen und Fichten bahnte Begay sich seinen Weg hangaufwärts. Die Mörder waren nicht zurückgegangen, von wo sie gekommen waren und wo sie auf Timmons Spuren gestoßen waren, sondern gingen zielsicher den Berg hinauf. Offensichtlich hatten sie eine sehr genaue Karte und wussten, dass die Straße in dieser Richtung in weniger als einer Meile Entfernung in einer Kehre sehr nahe kam. Begay wusste, dass Weißen, ebenso wie Stadtindianern, die Orientierung in wegloser Wildnis sehr schwer fiel und er nahm an, dass sie ein technisches Hilfsmittel gehabt haben mussten, um so genau zu wissen, in welche Richtung sie gehen sollten. Damit wusste Begay schon etwas über die Mörder. Sie waren offenbar mit Karte und Kompass gut ausgerüstet und waren zielgerichtet vorgegangen. Begay erreichte die Kehre an der eingezeichneten Stelle und konnte hier mit etwas Mühe auch noch feststellen, in welche Richtung die Gruppe sich von hier aus gewandt hatte.

Nachdem er der Straße etwa eine Stunde lang bergab gefolgt war, entdeckte er eine Stelle, an der offensichtlich zwei Autos geparkt worden waren, die die Mörder dort abgestellt hatten. Um die Autos von der Straße zu bekommen, hatten sie die Wagen weit in das Buschwerk fahren müssen und dabei weitere Spuren hinterlassen. An den Ausmaßen der Verwüstung konnte Begay ablesen, dass mindestens einer der Wagen ein Pick-up gewesen sein musste. Das engte den Kreis der Verdächtigen allerdings nicht sehr ein, da Pick-ups in dieser Gegend des Landes weitverbreitete Gefährte waren. Außerdem fand Begay winzige dunkelblaue Lackpartikel an den dornigen Zweigen, so dass damit die Farbe eines der Fahrzeuge geklärt war.

Auf dem Weg zurück telefonierte Begay noch einmal mit Lawson, der inzwischen mit seinem Tross auf dem Weg zum Mount Graham war, und teilte ihm mit, dass er bereits etwas über die Täter in Erfahrung gebracht hatte. Sie verabredeten sich für den Abend in Lawsons Büro.

SÜDEN/BLAU

V

Begay betrat Lawsons Büro gegen acht Uhr. Lawson bedeutete ihm, in einem Ledersessel Platz zu nehmen. Auf dem Schreibtisch stand ein Tablett mit einer Whiskeyflasche und zwei Gläsern.

„Nehmen Sie einen Drink?“, fragte Lawson.

„Nein, danke“, antwortete Begay, „nachdem ich ständig die Auswirkungen dieses Stoffes auf mein Volk vor Augen habe, trinke ich keinen Schluck davon.“

„Das verstehe ich“, sagte Lawson. „Stört es Sie, wenn ich …?“, fügte er hinzu und schielte zu der Flasche hin.

„Nein, natürlich nicht“, antwortete Begay.

„Frank, ich danke Ihnen herzlich für Ihre gute Arbeit“, fuhr Lawson fort, „ohne Sie hätten wir Timmons wahrscheinlich nie entdeckt!“

„Ist der Tote definitiv Timmons?“, fragte Begay.

„Ja“, antwortete Lawson, „nach den Fotos … Es gibt da keinen Zweifel mehr. Und er ist offensichtlich erschlagen worden. Wenn die Gerichtsmedizin Genaueres sagen kann, gebe ich Ihnen Bescheid. Ich habe die Kollegen in Tucson informiert, damit sie Mrs. Timmons die schlechte Nachricht überbringen.“

Begay holte das Tütchen mit den Resten der Dunhill-Zigarillos aus seiner Tasche. „Würden Sie Mrs. Timmons bitte fragen, ob ihr Mann diese Zigarillo-Marke geraucht hat? Ich habe die hier oben am Berg gefunden. Ich nehme an, dass es seine sind, aber wenn nicht, hätte einer der Mörder sie zurückgelassen.“

„Die rauchen hier bestimmt nicht viele Leute“, sagte Lawson.

„Eben“, meinte Begay. „Hat man die Witwe schon gefragt, ob Timmons Feinde hatte?“

„Yeah, der Kollege aus Tucson sagte, Mrs. Timmons hätte ausgesagt, dass ihr Mann öfter Affären mit anderen, verheirateten Frauen gehabt hätte. Er scheint auch von einem gehörnten Ehemann massiv bedroht worden zu sein.“

„Was ich an Hand der Spuren schon sagen kann, ist, dass es sich bei den Mördern um mindestens drei oder vier Personen handelt. Wenn es also ein gehörnter Ehemann gewesen wäre, müsste der einige sehr gute Freunde dabei gehabt haben.“

Lawson sah erstaunt auf. „Das konnten Sie so genau aus den Spuren herauslesen?“

„Ja“, sagte Begay. Wir wissen auch, das es sich bei den Tätern nicht um Zufallstäter oder Verrückte handeln kann.“

„Warum?“, fragte Lawson und spielte nachdenklich mit seinem Whiskeyglas.

„Sie haben Timmons zielgerichtet verfolgt oder gesucht und sind nach dem Mord den kürzesten Weg zur Straße zurückgegangen. Das heißt, sie waren vorbereitet und gut ausgerüstet. Haben mindestens eine gute Karte und einen Kompass dabei gehabt.“

„Aha“, machte Lawson, „also jemand, der ihn bewusst verfolgt und gestellt hat.“

„Ja“, sagte Begay, „da war kein Zufall im Spiel. Also hatten die Mörder entweder was gegen Timmons persönlich oder sie haben etwas gegen den Bau der Straße.“ Er goss sich etwas Mineralwasser aus einer auf dem Schreibtisch stehenden Flasche ein und fuhr dann fort: „Die Mörder waren mit zwei Wagen unterwegs. Ich habe die Spuren verfolgt und den Platz gefunden, an dem sie die Autos abgestellt hatten.“

Lawson schaute interessiert zu Begay hinüber.

„Der eine Wagen ist ein Pick-up und eins der Fahrzeuge ist dunkelblau.“

„Verdammt“, fluchte Lawson, „die Spurensicherung hat im Vergleich dazu nichts herausgefunden! Sie haben den Fall ja schon halb gelöst!“

Begay betrachtete seine gefalteten Hände.

„Das bestätigt mich nur noch mehr“, sagte Lawson und fuhr fort: „Frank, ich wollte Sie sowieso schon bitten, ob Sie uns nicht noch etwas helfen können.“

Begay sah von seinen Händen auf.

„Und nach dem, was wir wissen und was Sie mir jetzt erzählt haben, ist es ja durchaus möglich, dass die Täter von der San Carlos Apache Reservation stammen. Sie wissen, wie das ist: Wenn ich da ermittele, sagt man mir gar nichts. Deshalb wollte ich Sie bitten, ob Sie dort Ermittlungen aufnehmen könnten?“

„Ich wollte eigentlich morgen früh zurückfahren“, meinte Begay ausweichend. „Ich werde zurück im Dienst erwartet.“

„Mit Captain Blackhat rede ich schon“, schmunzelte Lawson, „aber ehrlich, wenn Sie die Ermittlungen auf der Reservation übernehmen könnten, würden wir da sicher leichter weiterkommen. Apachen und Navaho sind doch eng verwandt, oder nicht?“ fragte Lawson. „Ihnen würden Sie eher vertrauen!“

Begay überlegte. Natürlich interessierte es ihn, an der Sache dran zu bleiben. Außerdem war es keine wünschenswerte Vorstellung, dass weiße Sheriffs oder sogar FBI-Beamte auf der Apache Reservation ermittelten.

„Und wer sagt das meiner Frau?“, fragte er.

„Das kann ich Ihnen leider nicht abnehmen“, sagte Lawson mitfühlend. „Natürlich werden Sie weiter von uns bezahlt.“

Sie einigten sich, dass Begay am nächsten Tag zur San Carlos Reservation fahren sollte. Lawson klopfte Begay zum Abschied kumpelhaft auf die Schulter und Begays feine Antennen registrierten, dass der Sheriff bereits unter leichtem Alkoholeinfluss stand. Begay fuhr mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube zurück zum Hotel. Er wusste nicht, wie er Kathy beibringen sollte, dass er noch hier bleiben würde.

VI

Von Safford aus waren es auf der Bundesstraße 70 kaum dreißig Meilen bis zum Reservat. Als Begay die San Carlos Apache Reservation erreichte, bot sich ihm das Bild, dass er von vielen Indianerreservationen kannte. Das Reservatsgebiet bestand zum großen Teil aus wüstenartigem Tiefland. Wie fast überall im Westen hatte man den Indianern nur das unfruchtbarste und für die weißen Siedler wertloseste Land gelassen. Kein Wunder, dass die Chiricahua und andere Stämme ihre geliebte Bergheimat nicht freiwillig für dieses Stück Land verlassen hatten und dass es ihnen so schwer gefallen war, auf dieser trostlosen Erde zu Farmern zu werden.

Er passierte den San Carlos Lake, einen großen Stausee, der die umliegenden Gemeinden mit Wasser versorgen sollte und fuhr weiter durch weite, menschenleere Gegenden, in denen kaum etwas wuchs. Ab und zu kam er an kleinen Ansammlungen von Gebäuden vorbei, einfachen Holzhäusern oder Mobil Homes, um die herum die Reste alter Autowracks und allerlei anderer Zivilisationsmüll verrotteten. Wie in vielen indianischen Stämmen, in denen noch die Großeltern oder Urgroßeltern Jäger und Sammler gewesen waren, schienen auch bei den Apachen noch viele Menschen die alte Verhaltensweise an den Tag zu legen, die Abfälle einfach um das Lager herum zu entsorgen, wo sie dann verrotten konnten. Nur dass dieser neue Müll eben nicht so leicht verging und sich kaum ein Reservatsbewohner leisten konnte, das Abschleppen und Verschrotten eines alten Wagens zu bezahlen.

 

Begay bog in dem Ort Peridot auf eine Nebenstraße in Richtung San Carlos ab. Er hatte sich telefonisch beim Stammesrat in San Carlos angemeldet und als er das Gebäude der Stammesverwaltung erreichte, erwartete ihn schon ein Mitglied des Stammesrates. Edward Haosous führte Begay in eine Art Tagungsraum und bot ihm einen Platz an. Die Wände des Raumes zierten die Fotografien verschiedener Stammesmitglieder, von entzückenden Kindergesichtern über erwachsene Frauen und Männer bis hin zu den für viele Indianer typischen faltigen und wettergegerbten Gesichtern des Alters. Haosous bot Begay Kaffee aus einer bereitstehenden Thermoskanne und Kekse an.

„Sie arbeiten also für Sheriff Lawson?“, fragte er.

„Aber nur im Moment“, antwortete Begay. Er wand sich auf seinem Stuhl und fügte hinzu: „Vorübergehend. Kennen Sie Lawson?“

„Ja, ein anständiger Kerl“, erwiderte Haosous. „Er geht mit unseren jungen Leuten nicht so hart um, wenn sie mal in die Stadt kommen und Alkohol trinken.“ Er sah Begay fragend an und der nickte, um zu zeigen, dass er wusste, wovon Haosous redete.

„Lawson hat mir eine Mail geschickt“, fuhr Haosous fort. „Sie haben also einen Toten am Mount Graham entdeckt?“ Er grinste breit. „Jetzt denkt man natürlich, dass mal wieder die bösen Apachen dahinter stecken. Und Lawson schickt uns einen unserer alten Navaho-Verwandten in der Hoffnung, dass der hier eher etwas herausfindet als so ein weißer Sheriff.“

Begay fühlte sich zunehmend unwohl bei diesem Gespräch. „Zunächst wüsste ich gerne etwas mehr über den Mount Graham und seine spirituelle Bedeutung für die Apachen“, sagte er. „Ist es denn richtig, dass der Bau der Teleskopanlagen für die Apachen die Entweihung ihres wichtigsten Heiligtums bedeutet?“

Haosous sah einen Moment aus dem Fenster. „Wenn Sie mich persönlich fragen, ich finde es eine absolute Schweinerei, was da passiert. Aber natürlich gibt es darüber auch geteilte Meinungen: Einige der ‚modernen‘ Apachen“, sagte er und machte bei dem Wort „modern“ imaginäre Anführungszeichen in der Luft, „machen sich überhaupt nichts aus dem Mount Graham. Sie sind Christen, meist Katholiken, für die die alte Religion nur ein Hindernis auf dem Weg zur Gleichberechtigung ist. Sie machen daraus auch keinen Hehl und erzählen es jedem, der es hören will. Aber die Mehrheit der Apachen, besonders die traditionellen, sehen in der Bebauung eine empfindliche Störung unserer Religion.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine hochgewachsene junge Frau betrat den Raum. Sie hatte hüftlanges, blau-schwarz schimmerndes Haar, hoch liegende Wangenknochen und ausdrucksvolle schwarze Mandelaugen. Begay wurde in ihrer Anwesenheit sofort nervös. Haosous, der die Reaktion von Männern auf diese schöne Frau wohl schon kannte, sagte lächelnd: „Sie kommen genau im richtigen Moment! Setzen Sie sich doch.“ Zu Begay gewandt fuhr er fort „Das ist Lisa Yazza. Sie ist Mitglied im Stammesrat. Und sie ist auch ein Mitglied in der Apache Survival Coalition, einem Komitee zur Rettung des Mount Graham. Sie kann Ihnen sicher mehr erzählen als ich.“

Begay und Yazza gaben sich die Hand. Sie setzte sich ihm gegenüber, während Haosous ihr eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne einschenkte. Lisa Yazza hatte nicht nur ein auffallend schönes Gesicht, sondern auch einen ziemlich aufregenden Körper, wie Begay bemerkte.

„Sie sind also von der Navaho-Stammespolizei?“, fragte Yazza.

Begay nickte. „Und jetzt sollen Sie uns aushorchen für den Sheriff in Safford?“ Sie lächelte ihn offen an. Begay widerstand der Versuchung, sich wieder auf seinem Stuhl zu winden.

„Ich fürchte, da haben Sie Recht“, sagte er. „Mich würde die Bedeutung des Mount Graham für die traditionellen Apachen interessieren und auch der Widerstand gegen den Teleskopanlagenbau.“

„So radikal ist der Widerstand jedenfalls nicht, dass wir dafür Menschen umbringen“, zischte Yazza ihn an. „Die Zeiten der Überfälle und Raubzüge sind vorbei!“

„Leider“, lachte Haosous. „Das geht heute nur noch in den Casinos. Mit den Casinos nehmen wir den Weißen heute so viel ab, wie unsere Vorfahren es nie geschafft haben! Aber ich lasse euch beide jetzt allein. Ich habe noch eine Menge zu erledigen.“ Mit einem Blick auf seine Uhr stand Haosous auf und verabschiedete sich herzlich von Begay, der etwas unsicher und sprachlos mit dieser wunderschönen Frau allein zurückblieb.

Begay räusperte sich. „Erzählen Sie mir doch etwas über den Mount Graham und seine Bedeutung.“

Yazza sah ihn musternd an. „Das sollte ein Berufenerer als ich tun“, sagte sie. „Ich werde Sie mit meinem Großvater bekannt machen, der Ihnen mehr über die spirituelle Bedeutung des Berges für uns und über seine Geschichte erklären kann. Ich kann Ihnen von unserem Komitee und von der politischen Arbeit erzählen.“

Begay nickte erleichtert. Er wollte gerne hier sitzen und dieser Frau einfach nur zuhören.

„Schon vor circa zwanzig Jahren wurde beschlossen, auf dem Mount Graham Teleskopanlagen zu bauen“, berichtete Yazza.

„Warum ausgerechnet auf dem Mount Graham?“, fragte Begay.

„Gute Frage“, sagte Yazza. „Der Südwesten eignet sich natürlich für ein solches Projekt, weil es hier im Vergleich zu anderen Gebieten relativ menschenleere Gegenden gibt, dadurch gibt es nicht so viel Lichtverschmutzung durch die nächtlichen Lichter von Ortschaften. Außerdem sollten die Anlagen auf einem möglichst einzeln stehenden, sehr hohen Berg sein, um eine optimale Sicht zu ermöglichen.“

„Davon gibt es doch aber im Südwesten eine ganze Menge“, warf Begay ein.

„Ja“, antwortete Yazza, „ein unabhängiges Gutachten über die Eignung des Mount Graham für das Projekt kam auch zu dem Schluss, das er von allen Bergen im Südwesten nur auf Platz siebenunddreißig stand.“

Begay zog die Augenbrauen hoch.

„Sie fragen sich, warum dann ausgerechnet der Mount Graham ausgesucht wurde?“, sagte Yazza und fügte hinzu: „Wir uns auch.“

„Wer plant denn das Ganze?“, fragte Begay.

Yazza sah ihn anerkennend an. „Das ist der Punkt. Zunächst die University of Arizona und etliche andere amerikanische Hochschulen. Die meisten Universitäten sprangen dann aber ab oder distanzierten sich von dem Projekt, als sie von den Einwänden der Apachen und der Naturschützer erfuhren. Präsident Clinton hatte die Fördergelder in Höhe von 10 Millionen Dollar durch sein Veto blockiert, aber später wurden die Gelder wieder freigegeben. Die University of Arizona steht weiter hinter dem Projekt, ebenso das deutsche Max-Planck-Institut für Radioastronomie, das italienische Arcetri Observatorium und der Vatikan.“

Begay glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Wie bitte?“

„Sie haben mich schon richtig verstanden“, betonte Yazza. „Der Vatikan.“

Begay war total verblüfft. „Was will denn der Vatikan mit Teleskopanlagen“, fragte er ungläubig.

„Und das in dieser Gegend“, ergänzte Yazza. „Das haben wir uns auch gefragt! Aber es ist wahr. Der Vatikan ist einer der Hauptbetreiber und -geldgeber dieses Projektes. Eines der beiden fertiggestellten Teleskope auf dem Mount Graham gehört dem Vatikan und sie betreiben dort bereits ihr eigenes Forschungsprogramm.“

Begay war sprachlos.

Yazza sah ihn belustigt an. „Wie Sie vielleicht wissen, wurde 1992 Galileo Galilei von der römischen Kirche rehabilitiert.“

Begay nickte unsicher.

„Sie wissen doch: Galilei musste 1633 seiner Lehre vor dem heiligen Stuhl abschwören, sonst wäre er als Ketzer hingerichtet worden. Als er nun 1992 rehabilitiert wurde, erkannte die katholische Kirche damit die Möglichkeit seines Weltbildes an.“

„Ganz schön fix“, meinte Begay.

Yazza musste lachen. „Bis zur Rehabilitierung Galileis war nach der Auffassung der katholischen Kirche die Erde der Mittelpunkt des Universums. Die Sonne und alle Sterne drehten sich um die Erde und die Erde war sozusagen der Zweck der Schöpfung. Durch die Anerkennung des heliozentrischen Weltbildes von Galilei erkannte die Kirche erstmals an, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, sondern dass die Sonne das Zentrum unseres Sonnensystems ist und die Erde und andere Planeten sich um sie herum bewegen. Darüber hinaus erkennt jetzt auch der Vatikan die Möglichkeit an, dass es noch andere Sonnensysteme und damit Unmengen anderer Sterne und Planeten gibt. Das bedeutet, es dreht sich nicht alles nur um die Erde. Und daraus folgt für die katholische Kirche, dass erstmals der Gedanke möglich ist, dass es andere Planeten wie die Erde geben könnte und auch auf anderen Planeten vielleicht intelligentes Leben existieren könnte. Wenn es aber intelligentes Leben auf anderen Planeten gäbe, folgt daraus für die römische Kirche der Auftrag, dieses Leben zu missionieren.“

Begay war wie vom Donner gerührt. „Wie bitte?“, stammelte er.

„Sie haben richtig gehört. Mit der Möglichkeit, es könnte anderes intelligentes Leben im All geben, besteht für den Vatikan automatisch die Pflicht, dieses Leben zu missionieren.“

„Wer sagt das?“

„Der Vatikan.“

Begay starrte Yazza entgeistert an.

„Ich habe Artikel und Interviews von Pater George Coyne, dem Direktor des vatikanischen Astronomieprogramms, der bis vor kurzem auch Leiter des Vatican Advanced Technology Telescope auf dem Mount Graham war, in denen all das bestätigt wird. Ich gebe Ihnen nachher Kopien mit, damit sie das in Ruhe studieren können.“

„Das ist einfach unglaublich“, stöhnte Begay.

„Bemerkenswert, nicht?“, fragte Yazza und lächelte ihn an.

„Okay, aber was ich noch nicht verstehe“, sagte Begay, „ist, warum müssen diese Teleskopanlagen auf dem Mount Graham gebaut werden?“

„Das ist auch sehr interessant“, sagte Yazza zynisch. „Der Vatikan will hier offensichtlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Es ist so, dass die Apachen seit über hundert Jahren von der römisch-katholischen Kirche missioniert werden. Und das nicht sehr erfolgreich, wie ich sagen muss“, grinste Yazza.

„Oh nein“, sagte Begay, dem ein Licht aufging.

„Doch“, sagte Yazza. „Wenn der Mittelpunkt des spirituellen Lebens der Apachen zerstört wird, erhofft man sich wohl, dass die verlorenen Schäfchen in ihrer Verzweiflung sich eher dem Katholizismus zuwenden, als das bisher der Fall war. Eine Methode, die schon sehr alt ist. Vor tausend Jahren hat man die heiligen Eichen der Germanen gefällt, um ihnen zu zeigen, dass ihre Religion keine Macht hat. Und den Mount Graham zu bebauen ist als ob man den Felsendom in Jerusalem, den Petersdom in Rom oder die Kaaba in Mekka zerstören würde.“

Begay konnte nur noch den Kopf schütteln.

„So“, sagte Yazza und sah auf ihre Uhr, „jetzt wissen Sie schon mal im Groben, worum es hier geht, wer dahinter steckt und warum der Widerstand der Apachen so vehement ist.“

Begay nickte traurig.

„Wenn Sie wollen, würde ich Sie gerne mit meinem Großvater bekannt machen. Er ist so etwas wie ein spiritueller Führer des Widerstandes.“

Begay nahm das gerne an. Der Großvater von Lisa Yazza war ein Diyin, ein Schamane, wie sie ihm erklärte. Begay wusste, dass es bei den Apachen berufsmäßige Schamanen gab, aber auch viele Menschen, die eine oder einige wenige Zeremonien ausführen konnten. Die Fähigkeit, solche Rituale auszuüben, erhielt man in Visionen von bestimmten Tieren oder Naturphänomenen, nach denen die jeweiligen Zeremonien auch benannt wurden. Auch von dem legendären Geronimo war bekannt, dass er bestimmte Zeremonien ausgeführt hatte.

Nachdem ihm Yazza noch etliche Papiere gegeben hatte, fuhren sie in seinem Wagen los. „Sie kriegen das Benzin bezahlt“, hatte sie mit einem reizenden Lachen gesagt und ihre Haare zurückgeworfen.

VII

Die Luft flimmerte über dem flachen Wüstengebiet. Einzelne Kreosotbüsche und Kakteen duckten sich auf dem Boden. Am Horizont ragten bläulich in der Ferne verschwimmende Bergketten auf. Ein paar Gabelantilopen, die sie an der Straße aufgescheucht hatten, brachten sich mit großen Sprüngen in Sicherheit. Sie verließen die Staubstraße und fuhren über einen holprigen, mit tiefen Löchern zersetzten Weg. An manchen Stellen wurde er von sandigen Rinnen, die sich durch darüber fließendes Wasser gebildet hatten, zerschnitten. Begay kannte diese Wege nur zu gut von der Navaho Reservation.

 

Sie gelangten an das Haus von Yazzas Großvater. Es war ein einfaches Mobil Home, das hier vor langer Zeit abgeladen worden war. Die Farbe an den Außenwänden war von der Hitze des Sommers und der Kälte des Winters so verwittert, das man nicht mehr sagen konnte, ob es einmal weiß, beige oder grau gewesen war. Zwei gescheckte Ponys und einige Hunde duckten sich in den dürren Schatten einiger Tamariskenbäume. Etwas hinter dem Haus stand ein Wickeyup, von den Apachen selbst kowa genannt, die frühere traditionelle Behausung der nomadischen Apachen, die mit Zweigen und Gräsern gedeckt war.

Yazza bedeutete Begay, ihr zu der Hütte zu folgen. Während Begay vor dem Wickeyup stehen blieb, trat Yazza ein und er hörte, wie sie einige Worte auf Apache mit ihrem Großvater wechselte. Sie winkte ihn herein. Das Wickeyup war so niedrig, dass er in ihm nicht aufrecht stehen konnte. An der Rückwand der lichten Hütte saß auf einer Decke auf dem Boden ein sehr alter Mann mit unzähligen Runzeln im Gesicht, schneeweißen Haaren, die von einem breiten roten Stirnband gehalten wurden und hohen Ledermokassins. Er sah aus wie ein Apache aus einer anderen Zeit. Der alte Mann begrüßte ihn freundlich mit einigen Worten, die Begay nicht verstand. Da wurde ihm klar, dass dieser Mann womöglich kein Englisch verstand. Oder aber er wollte es nicht sprechen.

„Ya-ta-hey“, versuchte Begay es mit der traditionellen Begrüßungsformel der Dineh. ‚Tsikin‘, fügte er hinzu, das Navaho-Wort für ‚Freund‘ und kam sich augenblicklich blöd vor. Während Angehörige verschiedener Indianerstämme sich früher in der universalen Zeichensprache austauschen konnten, war die Verkehrssprache zwischen verschiedenen Gruppen heute Englisch, zumal viele Indianer ihre Stammessprache gar nicht mehr sprachen.

„Yaa‘ t‘eeh“, erwiderte der alte Mann und bedeutete Begay Platz zu nehmen.

Apachen und Navaho entstammten derselben athapaskischen Sprachfamilie. Ihre gemeinsamen Vorfahren waren aus dem Norden Kanadas in dieses Gebiet eingewandert, wie Begay von seinen Anthropologie-Studien wusste. Während die Indianer im Norden Kanadas sich Dene nannten, sprachen die Apachen von sich selbst als N‘de, Inde oder Tinneh und die Navaho hatten die Eigenbezeichnung Dineh. Begay wusste, dass Apachen und Navaho sich verständigen konnten. Ihre Worte und Grammatik waren sehr ähnlich und variierten zwischen den beiden Völkern nur etwa so wie zwischen den Unterstämmen der Apachen oder den verschiedenen Untergruppen der Navaho auch.

Als der alte Mann jetzt weitersprach, erschien es Begay, als ob jemand seine Sprache mit einem starken Dialekt spräche. Er musste sich sehr konzentrieren, um die Bedeutung zu verstehen. Begay begriff, dass der alte Mann sich vorstellte und reagierte darauf, indem er seinen Namen nannte und den Clan seiner Mutter, in den er geboren war und dann den Clan seines Vaters, für den er geboren war. Dieses traditionelle Vorstellung brachte ihm ein anerkennendes Nicken durch den alten Mann ein und er registrierte, dass auch der Blick seiner Enkeltochter auf ihm ruhte. Begay verstand, dass Yazza ihrem Großvater erklärte, dass ein erschlagener weißer Mann am Mount Graham gefunden worden sei und dass dieser für den Straßenbau auf den Berg zuständig gewesen sei.

„Das geschieht ihm recht“, sagte der alte Mann fröhlich. „Er hat seine Strafe bekommen.“

Yazza fuhr fort und erklärte ihrem Großvater, dass Begay beauftragt worden war herauszufinden, wer diesen Mann ermordet haben könnte.

„Ich war‘s nicht“, versicherte ihm der alte Mann und ließ grinsend eine unvollständige Reihe von Vorderzähnen erkennen.

„Ich möchte gerne mehr verstehen, Großvater“, sagte Begay und wandte damit die respektvolle Anrede der Navaho älteren Männern gegenüber an, „was der Mount Graham für die Apachen bedeutet.“ Begay sprach auf Dineh und hoffte, dass seine Gegenüber ihn ähnlich gut verstehen würden, wie er ihren Dialekt.

Der alte Mann sah an Begay vorbei durch die weite Öffnung der Hütte. Begay folgte seinem Blick und sah, dass man von der Rückwand des Wickeyups einen weiten Blick über die flirrende Wüste hatte bis zu fernen, hoch aufragenden Bergen. Er genoss das Flattern der Blätter an den Zweigen des Wickeyups und den sanften Wind, der ihn durch die lichten Äste hindurch liebkosend berührte. Tanzende Sonnenflecken durchsetzten in der Hütte die schattige Kühle in dieser mittäglichen Hitze.

„Der Dzil Nchaa Si‘An bedeutet uns sehr viel,“ sagte der alte Mann. „Er ist der Mittelpunkt unserer Religion. Yusen, der Schöpfer der Welt, gab uns dort die zweiunddreißig heiligen Gesänge des Lebens.“

Sein Blick ruhte auf den blauen Bergketten am Horizont oder dahinter während er das sagte. „Das sind unsere Gebote, nach denen wir bis heute leben. Jedenfalls die echten N‘de“, fügte er hinzu. Er schwieg wieder eine Weile und sah Begay eindringlich an. „Dort liegen die Gebeine unserer Ahnen. Unsere wichtigsten Zeremonien wurden dort ausgeführt. Früher gingen wir auf den Berg, um die Sonnenaufgangszeremonie zu begehen, durch die ein Mädchen zur Frau wird, zu Ehren von ‚sich wandelnder Frau‘.

Begay horchte auf. „Changing Woman“ spielte auch eine zentrale Rolle in der Mythologie der Navaho. Bei seinem Volk konnte die kinaalda, der Übergangsritus der jungen Mädchen, allerdings noch ungestört ausgeführt werden. „Changing Woman“ stand dafür, dass im Leben alles sich änderte und ständig im Wandel und im Fluss begriffen war, auch wenn das alles zu einem letztlich immer andauernden Gleichgewicht im Kosmos gehörte.

„Ich gehe auch heute noch auf den Berg, um für den Fortbestand der Welt und die Heilung unseres Volkes zu beten“, fuhr der alte Mann fort. „Der Berg gibt mir noch immer alles, was ich für meine Heilungszeremonien benötige.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist, als ob wir ihre Kirchen entweihen und ihnen auf den Altar scheißen würden!“ Er grinste. „Schuld sind diese Katholiken, die unbedingt wollen, dass wir unsere Religion verlieren und ihre dafür annehmen! Und sie denken, sie erreichen das, indem sie unsere Kirche zerstören.“

„Father Coyne, der Chef des vatikanischen Weltraumprogramms, von dem ich Ihnen die Unterlagen mitgegeben habe, sagt, die katholische Kirche würde den Mount Graham als religiöses Heiligtum anerkennen, wenn dort Überreste von Kirchen oder Schreinen nachweisbar wären. Damit sagt er ganz klar, dass eine Religion, die keine Tempel baut, für sie keine Religion ist“, sagte Yazza.

„Wir haben den Schöpfer immer in seiner Schöpfung, in der Natur, verehrt. Und wir haben auch keine Götzenbilder angebetet und keine Tempel errichtet“, sagte der alte Mann, jedes Wort genau wählend.

„Gräber der Apachen sind auf dem Berg durch Archäologen nachgewiesen, aber das reicht der Kirche nicht“, ergänzte seine Enkelin.

„Und wenn sie mit ihren Scheiß-Teleskopen jetzt kleine grüne Männchen im All entdecken, werden sie auch versuchen, denen ihre Religion aufzuzwingen“, kicherte der alte Mann.

„Das ist wirklich kaum zu glauben“, sagte Begay und starrte auf die festgetretene Erde auf dem Boden des Wickeyups.

„Du solltest die jungen Leute kennenlernen, die für den Berg kämpfen“, sagte der alte Mann. „So wie meine Enkeltochter hier.“ Er sah sie an und Begay konnte den Stolz auf sie in seinen Augen sehen.

„Ich bin alt! Ich kann nur ab und zu einen Ratschlag geben. Aber die Jungen setzen ihre ganze Kraft dafür ein, um den Berg zu erhalten.“