Wege zur Rechtsgeschichte: Römisches Erbrecht

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[…] unsere Erbschaften stehen aber nicht denjenigen Frauen zu, die gradferner als Geschwister von der Vaterseite (consanguinei) verwandt sind. Daher ist eine Schwester gegenüber ihrem Bruder oder ihrer Schwester gesetzliche Erbin, eine Vaterschwester aber und eine Tochter des Bruders kann nicht gesetzliche Erbin sein; im Verhältnis einer Schwester aber steht mir gegenüber auch die Mutter oder Stiefmutter, die dadurch, dass sie in die Ehegewalt gekommen ist, bei meinem Vater die Rechte einer Tochter erlangt hat.

Frauen, die gradferner als Geschwister von der Vaterseite (consanguinei) waren, konnten einer juristischen Interpretation des Intestaterbrechts zufolge nicht als agnatus proximus erben. Somit waren Frauen, die mit dem Erblasser im dritten Grad verwandt waren, nicht zur Erbfolge berufen.

Auf diese Weise konnte zwar eine Schwester des Erblassers als agnatisch Verwandte erben; dagegen wurde eine Tante von der Vaterseite ebenso ausgeschlossen wie etwa eine Nichte des Erblassers, obwohl Onkel und Neffen von der Vaterseite zur Erbfolge zugelassen waren.

3.1.5 Das Erbrecht der Gentilen

Die dritte Stufe der Intestaterbfolge wird im Zwölftafelgesetz von den Gentilen (Angehörigen der gens = „Sippe“) begründet.

Gai. 3,17Si nullus agnatus sit, eadem lex XII tabularum gentiles ad hereditatem vocat. Qui sint autem gentiles, primo commentario rettulimus; et cum illic admonuerimus totum gentilicium ius in desuetudinem abisse, supervacuum est hoc quoque loco de eadem re curiosius tractare.

Wenn es keinen Agnaten gibt, beruft dasselbe Zwölftafelgesetz die Angehörigen der Sippe (gens) zur Erbschaft. Wer aber die Sippenangehörigen sind, habe ich im ersten Buch berichtet; und weil ich dort darauf hingewiesen habe, dass das gesamte Sippenrecht außer Gebrauch gekommen ist, ist es überflüssig, auch an dieser Stelle dieselbe Sache allzu sorgfältig zu behandeln.

Dieses Erbrecht der Sippe (gens) ist zur Zeit des Gaius (2. Jahrhundert n. Chr.) bereits aus der Übung gekommen. Da der Zwölftafelsatz formell fortbestand, musste Gaius in seinem Anfängerlehrbuch auf die Veränderung der Rechtslage hinweisen.

Weitergehende Veränderungen der Intestaterbfolge nach ius civile beruhen auf dem prätorischen Recht, das sich neben dem Intestaterbrecht des ius civile ausbildete.

3.2 Die Intestaterbfolge des ius praetorium

Genau wie das Erbrecht nach ius civile unterscheidet auch das prätorische Edikt danach, ob der Antragsteller den Nachlass als Testamentserbe oder als Intestaterbe beansprucht. Während das ius civile den Übergang der Rechtsinhaberschaft anordnet, erlaubt das ius praetorium dem Berechtigten zunächst nur eine faktische Inhaberschaft am Nachlass. Diese wird als Nachlassbesitz (bonorum possessio) bezeichnet und verschafft dem Inhaber durch das Wirken des Prätors den Besitz sowie alle wirtschaftlichen Vorteile der Erbschaft. Der Prätor kann aber „keinen Erben schaffen“ (Kap. 4.2.2). Grundlage der prätorischen Zuweisung des Nachlassbesitzes ohne Testament (bonorum possessio ab intestato) ist das Edikt: „Wenn keine Testamentstafeln vorhanden sein werden“ (si tabulae testamenti nullae extabunt).10 In diesem Edikt nennt der Prätor die Antragsberechtigten, die bei Fehlen eines Testaments die Einweisung in den Nachlassbesitz verlangen können. Dabei unterscheidet das Edikt verschiedene Klassen von Intestaterben:

D. 38.6.1.1 Ulpianus 44 ad edictumSed successionem ab intestato in plures partes divisit: Fecit enim gradus varios, primum liberorum, secundum legitimorum, tertium cognatorum, deinde viri et uxoris.

Er [der Prätor] hat die Erbfolge ab intestato aber in mehrere Gruppen aufgeteilt: Er hat nämlich verschiedene Klassen geschaffen: als erste die der Kinder, als zweite die der nach ius civile zur Erbfolge Berufenen, als dritte die der Blutsverwandten und sodann die von Ehemann und Ehefrau.

In der ersten Klasse des prätorischen Edikts sind die Abkömmlinge (liberi) berufen; in der zweiten Klasse die gesetzlichen Erben (legitimi); in der dritten die Blutsverwandten (cognati) und in der vierten sind Eheleute berechtigt (vir et uxor). Die Juristen verweisen auf diese im Edikt genannten Klassen unter Hinzufügung des Wortes „woher“ (unde), um die Grundlage der jeweiligen Berechtigung zum Nachlassbesitz anzuzeigen.

Die genannten vier Klassen sind nacheinander zum Antrag des Nachlassbesitzes berechtigt; zu beachten ist, dass der Antrag für die Berechtigten einer Klasse nur innerhalb einer bestimmten Frist möglich ist: Die Frist beträgt für Eltern und Kinder ein Jahr, in allen anderen Fällen 100 Tage. Mit Verstreichen der Frist ist die nächste Klasse antragsberechtigt.

Die vom Prätor gebildeten Klassen greifen teilweise auf das ius civile zurück; teilweise werden Personen in die Intestaterbfolge aufgenommen, die nach ius civile keine Erbberechtigung haben.

3.2.1 Die erste Klasse der prätorischen Erben

In der ersten Klasse unde liberi beruft der Prätor alle Abkömmlinge des Erblassers:

Gai. 3,26Nam liberos omnes, qui legitimo iure deficiuntur, vocat ad hereditatem, proinde ac si in potestate parentis mortis tempore fuissent, sive soli sint, sive etiam sui heredes, id est qui in potestate patris fuerunt, concurrant.

Denn er beruft alle Abkömmlinge (liberi), die nach ius civile im Stich gelassen werden, ebenso zur Erbschaft, wie wenn sie zum Zeitpunkt des Todes ihres Vorfahren in seiner Hausgewalt gestanden hätten, sei es, dass sie alleine vorhanden sind, sei es, dass auch Hauserben, das heißt diejenigen, die in der Hausgewalt des Vaters gestanden haben, den Anspruch mit ihnen teilen.

Unter die Abkömmlinge (liberi) fallen nicht nur die ohnehin nach ius civile berechtigten Hauserben (sui heredes), sondern auch diejenigen Abkömmlinge, die durch emancipatio aus der Hausgewalt ausgeschieden sind (Kap. 3.1.2). Genau wie nach ius civile gilt diese Berechtigung gleichermaßen für männliche wie für weibliche Nachkommen. Sind mehrere Generationen von Abkömmlingen vorhanden, also zum Beispiel Enkel neben Kindern, stellt sich die Frage, wie innerhalb eines Stammes zu verfahren ist. Nach ius civile führt die emancipatio des Haussohnes zum Nachrücken der Enkel (Kap. 3.1.3); da aber das ius praetorium auch den emanzipierten Sohn zur Intestaterbfolge beruft, kann hier das Stammesprinzip nicht in gleicher Weise Anwendung finden:

D. 38.6.5.2 Pomponius 4 ad SabinumSi filius emancipatus non petierit bonorum possessionem, ita integra sunt omnia nepotibus, atque si filius non fuisset, ut quod filius habiturus esset petita bonorum possessione, hoc nepotibus ex eo solis, non etiam reliquis adcrescat.

Wenn der emanzipierte Haussohn die bonorum possessio nicht verlangt hat, so ist alles ungeschmälert für die Enkel vorhanden, wie wenn es keinen Sohn gegeben hätte, so dass dies, was der Sohn erhalten hätte, nachdem er die bonorum possessio verlangt hätte, allein den Enkeln, die von ihm abstammen, nicht auch den übrigen anwächst.

Ein Nachrücken der Enkel an die Stelle des emanzipierten Sohnes kommt nach ius praetorium nur in Betracht, wenn der Sohn keinen Antrag auf Erteilung der bonorum possessio ab intestato gestellt hat. Sind die Enkel in der Hausgewalt des Großvaters verblieben und damit Hauserben nach ius civile geworden, ergibt sich mithin ein Konflikt zwischen dem Intestaterbrecht des ius civile und dem ius praetorium: Nach ius civile sind allein die Enkel, nach ius praetorium dagegen nur der emanzipierte Haussohn zur Intestaterbfolge berufen. Dieser Widerspruch zwischen vorrangigen Intestaterben nach ius civile und erstklassig berufenen Intestaterben nach ius praetorium wird erst durch eine Neuerung des prätorischen Edikts in der Kaiserzeit überwunden. Diese wird als nova clausula Iuliani bezeichnet (Kap. 3.3.2).

3.2.2 Die zweite und dritte Klasse der prätorischen Erben

Die zweite Klasse der prätorischen Intestaterbfolge unde legitimi verweist auf das ius civile:

D. 38.7.2.4 Ulpianus 46 ad edictumHaec autem bonorum possessio omnem vocat, qui ab intestato potuit esse heres, sive lex duodecim tabularum eum legitimum heredem faciat sive alia lex senatusve consultum. […].

Diese bonorum possessio aber beruft jeden, der Intestaterbe sein konnte, sei es, dass das Zwölftafelgesetz ihn zum gesetzlichen Erben macht, sei es ein anderes Gesetz oder ein Senatsbeschluss. […].

Nach der zweiten Klasse sind all diejenigen zur bonorum possessio ab intestato berufen, die Intestaterben nach ius civile sind. Antragsberechtigt sind also die Hauserben und die gradnächsten Agnaten. Die prätorische Anordnung hat zur Folge, dass die gewaltunterworfenen Kinder des Erblassers sowohl in der ersten Klasse (als liberi) als auch in der zweiten Klasse (als legitimi) den Nachlassbesitz ab intestato beantragen können. Erst nach ihnen steht unde legitimi genau wie nach ius civile auch dem proximus agnatus der Nachlassbesitz ab intestato zu. Kein Antragsrecht haben die Gentilen, deren Berechtigung im ius praetorium genau wie im späteren ius civile als überholt angesehen wird. Dafür treten im Laufe der Kaiserzeit durch Senatsbeschluss begründete gesetzliche Erbrechte hinzu, die den Berechtigten genauso das Antragsrecht auf die bonorum possessio ab intestato vermitteln wie es den Erbberechtigten der Zwölftafeln zusteht (Kap. 3.4).

 

Da die zweite Klasse der prätorischen Intestaterben nur die nach ius civile Berufenen zum Antrag berechtigt, sind emanzipierte Hauskinder in dieser Klasse ausgeschlossen. Da sie ihre Familienzugehörigkeit durch capitis deminutio verloren haben, sind sie weder als Hauserben noch als Agnaten zur Intestaterbfolge nach ius civile zugelassen. Auch der durch Interpretation des ius civile bewirkte Ausschluss von agnatisch verwandten Frauen über den zweiten Grad der consanguinitas hinaus (Kap. 3.1.4) wird vom Prätor beachtet.

Diese in der zweiten Klasse ausgeschlossenen Personen werden erst in der dritten Klasse unde cognati vom Prätor als Intestaterben berufen. In dieser Klasse beruft der Prätor die Blutsverwandten (cognati, von cognatus = „blutsverwandt“) zur Intestaterbfolge. Die Blutsverwandtschaft ist von der agnatischen Verwandtschaft zu unterscheiden:

D. 38.10.4.2 Modestinus 12 pandectarumCognationis substantia bifariam apud Romanos intellegitur: Nam quaedam cognationes iure civili, quaedam naturali conectuntur, nonnumquam utroque iure concurrente et naturali et civili copulatur cognatio. Et quidem naturalis cognatio per se sine civili cognatione intellegitur quae per feminas descendit, quae vulgo liberos peperit. Civilis autem per se, quae etiam legitima dicitur, sine iure naturali cognatio consistit per adoptionem. Utroque iure consistit cognatio, cum iustis nuptiis contractis copulatur. […].

Das Wesen der Verwandtschaft wird bei den Römern auf zweifache Weise verstanden, denn einige Verwandtschaften werden durch ius civile, einige durch ius naturale begründet, bisweilen wird die Verwandtschaft durch das Zusammentreffen beider Rechte, sowohl des ius naturale, als auch des ius civile, begründet. Und zwar wird die natürliche (kognatische) Verwandtschaft für sich ohne zivilrechtliche (agnatische) Verwandtschaft als diejenige verstanden, die durch Frauen vermittelt wird, die Kinder außerhalb einer Ehe auf die Welt gebracht haben. Die Verwandtschaft nach ius civile aber, die auch als legitime Verwandtschaft bezeichnet wird, tritt für sich ohne Verwandtschaft nach ius naturale durch Adoption ein. Eine Verwandtschaft nach beiderlei Recht besteht, wenn sie aufgrund einer rechtmäßigen Eheschließung begründet wird. […].

Die beiden Verwandtschaftsformen bilden ein Beispiel für unterschiedliche Rechtsschichten: Die cognatio wird von Modestinus (3. Jahrhundert n. Chr.) als Anwendungsfall des ius naturale dargestellt (Kap. 2.2.1), während die Agnation dem ius civile zuzuordnen ist. Beide Verwandtschaftsformen können getrennt oder in Kombination vorkommen: Nur kognatisch verwandt sind Mütter und ihre Kinder, weil es für die Agnation am Gewaltverhältnis fehlt. Dagegen findet sich eine Agnation ohne Blutsverwandtschaft bei der Annahme eines Kindes durch Adoption, da der Adoptivvater Hausgewalt über das angenommene Kind begründet.11 Sowohl kognatische als auch agnatische Verwandtschaft besteht, wenn ein Kind in einer römischen Ehe geboren wird, da durch das Gewaltverhältnis zum Vater eine agnatische Verwandtschaft, durch die Tatsache der Geburt eine Blutsverwandtschaft zu Mutter und Vater begründet wird.

Das prätorische Intestaterbrecht unde cognati erlaubt die Berücksichtigung der natürlichen Verwandtschaft, das heißt der Blutsverwandtschaft, im Erbrecht:

Gai. 3,27Adgnatos autem capite deminutos non secundo gradu post suos heredes vocat, id est, non eo gradu vocat, quo per legem vocarentur, si capite minuti non essent, sed tertio proximitatis nomine. Licet enim capitis deminutione ius legitimum perdiderint, certe cognationis iura retinent. […].

Agnaten hingegen, deren Rechtsstellung geschmälert worden ist, beruft er [der Prätor] nicht in der zweiten Klasse nach den Hauserben; das heißt, er beruft sie nicht in derjenigen Klasse, in der sie von Gesetzes wegen berufen wären, wenn ihre Rechtsstellung nicht geschmälert worden wäre, sondern in der dritten Klasse aufgrund der nahen Verwandtschaft. Wenngleich sie durch die Schmälerung der Rechtsstellung zwar ihr gesetzliches Recht verloren haben, behalten sie nämlich die Rechte der Blutsverwandtschaft. […].

Ein Sohn ist durch emancipatio aus der Gewalt des Vaters ausgeschieden und hat damit auch seine agnatische Verwandtschaft in der Familie verloren. Dieser Statusverlust (capitis deminutio minima) betrifft nur die agnatische Verwandtschaft. Dagegen bleibt die einfache Blutsverwandtschaft auch nach der emancipatio bestehen. Aus diesem Grund können aus der Familie ausgeschiedene Personen die bonorum possessio ab intestato in der dritten Klasse unde cognati erhalten.

Auch die Frauen, die wegen der Gradferne ihres Verwandtschaftsverhältnisses zum Erblasser nach ius civile nicht zur Intestaterbfolge der Agnaten zugelassen werden, werden vom Prätor in der Klasse unde cognati geschützt:

Gai. 3,29Feminae certe agnatae, quae consanguineorum gradum excedunt, tertio gradu vocantur, id est, si neque suus heres neque agnatus erit.

Auf jeden Fall werden agnatische Frauen, die gradferner als Geschwister von der Vaterseite sind, in der dritten Klasse berufen, das heißt, wenn es weder einen Hauserben noch einen Agnaten geben wird.

Wie gesehen, werden Frauen nach ius civile ab dem dritten Grad nicht mehr als erbberechtigte Agnaten angesehen (Kap. 3.1.4). Dagegen können sie den Nachlassbesitz unde cognati erlangen. Auf diese Weise erhalten sie die bonorum possessio ab intestato zwar erst nach den Hauserben und nach dem agnatus proximus, sind aber nicht wie nach ius civile vollständig ausgeschlossen. Noch bedeutsamer ist die in der Klasse unde cognati vollzogene Anerkennung der durch Frauen vermittelten Verwandtschaft:

Gai. 3,30Eodem gradu vocantur etiam eae personae, quae per feminini sexus personas copulatae sunt.

In derselben Klasse werden auch diejenigen Personen berufen, die durch Personen weiblichen Geschlechts [verwandtschaftlich] verbunden worden sind.

In der dritten Klasse des prätorischen Intestaterbrechts können auch Personen den Nachlassbesitz erlangen, die nicht im Mannesstamm mit dem Erblasser verwandt sind, sondern von einer mit dem Erblasser verwandten Frau abstammen. Entgegen der Ordnung des ius civile werden damit auch die Abkömmlinge von Frauen als erbberechtigte Verwandte anerkannt. Diese Berücksichtigung der kognatischen Verwandtschaft bedeutete einen Paradigmenwechsel im römischen Familien- und Erbrecht:

D. 38.8.1pr. Ulpianus 46 ad edictumHaec bonorum possessio nudam habet praetoris indulgentiam neque ex iure civili originem habet: Nam eos invitat ad bonorum possessionem, qui iure civili ad successionem admitti non possunt, id est cognatos.

Dieser Nachlassbesitz beruht auf bloßer Nachsicht des Prätors und hat seinen Ursprung nicht im ius civile. Denn er lädt diejenigen zur bonorum possessio ein, die nach ius civile nicht zur Erbfolge zugelassen werden können, das heißt die Kognaten.

Ulpian betont, dass allein das prätorische Recht eine Intestaterbfolge aufgrund der Blutsverwandtschaft kenne und zulasse, was er als bedeutende Neuerung gegenüber dem ius civile ansieht. Auch mit Blick auf die Ehegatten bringt die prätorische Intestaterbfolge bedeutsame Neuerungen.

3.2.3 Das prätorische Ehegattenerbrecht

Wie gesehen, konnten sich Ehegatten nach ius civile nur im Rahmen einer manusEhe ab intestato beerben (Kap. 3.1.4). Waren die Ehegatten – wie es seit dem Ende der Republik üblich war – in einer freien Ehe verheiratet, bestand zwischen ihnen weder ein Verwandtschaftsverhältnis nach ius civile noch eine Erbberechtigung der Witwe oder des Witwers ab intestato.

Das so gezeichnete Bild ist um die Regelungen der Mitgift (dos) zu ergänzen: Die Mitgift wurde der Ehefrau von Seiten ihrer Familie in die Ehe mitgegeben und diente während des Bestands der Ehe zum Unterhalt der Ehegatten, nach dem Ende der Ehe zur Versorgung der Frau. Das fehlende Erbrecht der Witwe nach ihrem Mann wurde daher teilweise durch die Klage auf Herausgabe der dos (actio rei uxoriae, wörtlich: „Klage auf das Frauengut“) ersetzt. Zwar erhielt die Frau auf diese Weise eine Unterhaltssicherung, gelangte aber nicht in den Genuss des Vermögens des Ehemanns. Auch der Witwer ging – wenn eine gewaltfreie Frau ohne Testament verstarb – nach ius civile leer aus.

In diese Lücke trat das prätorische Recht, das subsidiär zu den drei genannten Klassen des prätorischen Intestaterbrechts auch den Ehegatten ein Antragsrecht auf die bonorum possessio ab intestato zuerkannte:

D. 38.11.1pr.-1 Ulpianus 47 ad edictumpr. Ut bonorum possessio peti possit unde vir et uxor, iustum esse matrimonium oportet. […].

1 Ut autem haec bonorum possessio locum habeat, uxorem esse oportet mortis tempore. […].

pr. Damit der Nachlassbesitz unde vir et uxor verlangt werden kann, muss eine rechtsgültige Ehe vorliegen. […]. 1 Damit aber diese bonorum possessio zur Anwendung kommt, muss die Betroffene zum Zeitpunkt des Todes die Ehefrau sein. […].

Einzige Zulassungsbedingung für die bonorum possessio ab intestato in der Klasse unde vir et uxor ist die nach ius civile wirksame Ehe im Zeitpunkt des Todes. Mit dieser Anerkennung eines Ehegattenerbrechts verzichtet der Prätor auf eine bis dahin unentbehrliche Voraussetzung der Intestaterbfolge: die Verwandtschaft.

Als Rechtfertigung für die gegenüber dem ius civile veränderten Standards des prätorischen Rechts gilt den Juristen die Billigkeit (aequitas):

D. 37.1.6.1 Paulus 41 ad edictumBonorum possessionis beneficium multiplex est: Nam quaedam bonorum possessiones competunt contra voluntatem, quaedam secundum voluntatem defunctorum, nec non ab intestato habentibus ius legitimum vel non habentibus propter capitis deminutionem. Quamvis enim iure civili deficiant liberi, qui propter capitis deminutionem desierunt sui heredes esse, propter aequitatem tamen rescindit eorum capitis deminutionem praetor. […].

Der Vorteil des Nachlassbesitzes ist vielgestaltig: Denn einige Arten der bonorum possessio stehen gegen den Willen, einige in Übereinstimmung mit dem Willen der Verstorbenen zu; und sie stehen gewiss denjenigen zu, die ohne Testament ein gesetzliches Erbrecht haben, aber auch denjenigen, die wegen eines Statusverlusts (capitis deminutio) kein solches Recht haben. Obwohl nämlich nach ius civile die Kinder, die wegen eines Statusverlustes (capitis deminutio) aufgehört haben, Hauserben zu sein, kein Recht haben, hebt der Prätor wegen der Billigkeit gleichwohl den Statusverlust auf. […].

Die Zulassung der emanzipierten Kinder zur Intestaterbfolge bildet die wichtigste Abweichung des prätorischen Erbrechts von der Ordnung des ius civile. Sie wird von Paulus (3. Jahrhundert n. Chr.) als „billig und gerecht“ angesehen, weil der Prätor alle Abkömmlinge gleich behandelt und sie unabhängig vom Vorliegen eines Gewaltverhältnisses zur Erbfolge nach ihrem Vater zulässt. Die im ius civile selbstverständliche Bindung des Erbrechts der Kinder an die Hausgewalt ist damit aufgehoben. Maßgeblich ist fortan das Kindschaftsverhältnis zwischen Erblasser und Erbe.

Die unterschiedlichen Vorgaben der Intestaterbfolge nach ius civile und ius praetorium können im Einzelfall zu Widersprüchen führen.

 

3.3 Konkurrenz zwischen ius civile und ius praetorium

Zwar besteht aus einer formalistischen Sicht keine Konkurrenz zwischen der prätorischen und der zivilen Erbfolge, weil der Prätor – wie gesehen (Kap. 3.2) – keinen Erben im Sinne des ius civile schaffen kann. Die Einweisung in den Nachlassbesitz eröffnet dem Berechtigten aber die Möglichkeit, die Erbenstellung nach ius civile zu ersitzen (Kap. 4.1.4). Weist der Prätor mithin einen nach ius civile nicht berechtigten Antragsteller in den Nachlassbesitz ein, gefährdet dies die Rechtsposition des zivilen Erben, da er nach Fristablauf seine Erbenstellung verliert. Da die Erbberechtigungen nach ius civile und ius praetorium nicht übereinstimmen, muss jeweils festgestellt werden, ob die Einweisung in den Nachlassbesitz Ersitzungsfolgen hat oder nicht, der Nachlassbesitz sich also im Ergebnis gegenüber dem Erbrecht nach ius civile durchsetzt oder dem zivilen Erben nicht entgegengehalten werden kann.

Kann der Nachlassbesitzer dem zivilen Erben die Erbenstellung tatsächlich streitig machen, sprechen die Juristen von einer bonorum possessio mit Sachzugriff (cum re); ist die Einweisung in den Nachlassbesitz dem zivilen Erben gegenüber dagegen ohne Wirkung, ist die bonorum possessio ab intestato ohne Sachzugriff (sine re) erteilt worden.

3.3.1 Bonorum possessio sine recum re

Die bonorum possessio ab intestato ohne Sachzugriff (sine re) bedeutet, dass der Prätor den Vorrang des zivilen Erbrechts anerkennt. Dies gilt vor allem dann, wenn der nach ius civile Berechtigte auch nach ius praetorium Vorrang vor dem bonorum possessor genießen würde:

Gai. 3,36Nam si verbi gratia iure facto testamento heres institutus creverit hereditatem, sed bonorum possessionem secundum tabulas testamenti petere noluerit, contentus eo, quod iure civili heres sit, nihilo minus ii, qui nullo facto testamento ad intestati bona vocantur, possunt petere bonorum possessionem; sed sine re ad eos hereditas pertinet, cum testamento scriptus heres evincere hereditatem possit.

Wenn nämlich zum Beispiel ein Erbe, der in einem wirksam errichteten Testament eingesetzt worden ist, die Erbschaft förmlich angenommen hat, aber den Nachlassbesitz gemäß dem Testament nicht beantragen wollte, weil er mit der Erbenstellung nach ius civile zufrieden war, so können trotzdem diejenigen, die zur Erbschaft berufen wären, wenn kein Testament errichtet worden wäre, den Nachlassbesitz beantragen; jedoch steht ihnen die Erbschaft ohne Sachzugriff (sine re) zu, da ihnen der Testamentserbe die Erbschaft entziehen kann.

Hat sich der nach ius civile berufene Testamentserbe mit der Erbenstellung nach ius civile begnügt, also auf die Beantragung der bonorum possessio verzichtet, steht den prätorischen Intestaterben der Antrag auf Erteilung der bonorum possessio ab intestato offen. Da kein vorrangiger Antrag auf den Nachlassbesitz nach dem Testament vorliegt, wird der Prätor dem Antrag der Intestaterben entsprechen, denn formal sind die Voraussetzungen der prätorischen Intestaterbfolge erfüllt. Allerdings wird der Prätor den Intestaterben nur die bonorum possessio sine re erteilen, da auch nach ius praetorium die testamentarische Erbfolge der Intestaterbfolge vorgeht.12

Zugunsten des ius civile entscheidet der Prätor auch dann, wenn der bonorum possessor ab intestato mit einem vorrangig berechtigten Intestaterben konkurriert:

Gai. 3,37Idem iuris est, si intestato aliquo mortuo suus heres noluerit petere bonorum possessionem, contentus legitimo iure. Nam et agnato competit quidem bonorum possessio, sed sine re, quia evinci hereditas a suo herede potest. Et illud convenienter: si ad agnatum iure civili pertinet hereditas et is adierit hereditatem, sed si bonorum possessionem petere noluerit, et si quis ex proximis cognatis petierit, sine re habebit bonorum possessionem propter eandem rationem.

Dasselbe Recht gilt, wenn jemand ohne Testament verstorben war und sein Hauserbe den Nachlassbesitz nicht beantragen wollte, weil er mit dem gesetzlichen Erbrecht zufrieden war. Denn auch dem Agnaten steht der Nachlassbesitz zwar zu, aber ohne Sachzugriff (sine re), weil ihm die Erbschaft von seinem Hauserben entzogen werden kann. Und jenes trifft in gleicher Weise zu, wenn die Erbschaft einem Agnaten nach ius civile zusteht und dieser die Erbschaft angetreten hat, er aber den Nachlassbesitz nicht beantragen wollte. Und wenn einer von den nächsten Kognaten den Antrag gestellt hat, so wird er den Nachlassbesitz aus demselben Grund ohne Sachzugriff (sine re) haben.

Auch dieser Konflikt kommt dadurch zustande, dass sich der Erbe mit der zivilrechtlichen Position zufriedengegeben, also auf die Beantragung der bonorum possessio ab intestato verzichtet hat. In casu handelt es sich um Hauserben, die auch nach ius praetorium, und zwar sowohl in der ersten als auch in der zweiten Klasse, zum Nachlassbesitz berechtigt gewesen wären. Angesichts ihrer Untätigkeit beantragt nun der nachrangig berechtigte agnatus proximus die bonorum possessio ab intestato. Da kein vorrangig zu berücksichtigender Antrag vorliegt, wird der Prätor diesem Antrag entsprechen. Allerdings wird er die vorrangige zivilrechtliche Stellung der Hauserben berücksichtigen und dem gradnächsten Agnaten nur die bonorum possessio ab intestato ohne Sachzugriff (sine re) zuweisen.

Während in den geschilderten Fällen ein klarer Vorrang der zivilen Erbenstellung vor dem prätorischen Recht besteht, führt das Zusammentreffen zwischen nachrückenden Hauserben (Enkeln) und dem emancipatus (Sohn) des Erblassers zu einer Spaltung der Intestaterbfolge nach ius civile und ius praetorium (Kap. 3.2.2). Dieser Konflikt wird erst im Kaiserrecht im Rahmen der Ediktsredaktion unter Kaiser Hadrian (130 n. Chr.) einer Lösung zugeführt. Der Terminologie der römischen Juristen entsprechend (Kap. 2.2.3), ist diese Neuerung im Rahmen des ius praetorium zu behandeln.

3.3.2 Nova clausula Iuliani im Intestaterbrecht

Der in Kaiser Hadrians Reform eingeführte Abschnitt des prätorischen Edikts wird als neue Klausel Julians (nova clausula Iuliani) bezeichnet, was auf den Urheber der Regelung, den Juristen Julian (2. Jahrhundert n. Chr.), verweist.

D. 38.6.5pr. Pomponius 4 ad SabinumSi quis ex his, quibus bonorum possessionem praetor pollicetur, in potestate parentis, de cuius bonis agitur, cum is moritur, non fuerit, ei liberisque, quos in eiusdem familia habebit, si ad eos hereditas suo nomine pertinebit neque nominatim exheredes scripti erunt, bonorum possessio eius partis datur, quae ad eum pertineret, si in potestate permansisset […].

Wenn sich jemand von denjenigen, denen der Prätor die bonorum possessio verspricht, nicht in der Gewalt des Vaters, um dessen Nachlass es geht, befand, als jener verstarb, wird ihm und den Kindern, die er in der Familie desselben [Vaters] haben wird, wenn diesen die Erbschaft in seinem Namen zustehen wird und sie nicht ausdrücklich enterbt worden sind, die bonorum possessio für diesen Anteil erteilt, der ihm gehören würde, wenn er in der Gewalt verblieben wäre […].

Die Klausel sieht vor, dass bei Zusammentreffen eines emanzipierten Sohnes (als vorrangig Berechtigtem nach ius praetorium) mit den in der Gewalt des Großvaters verbliebenen Enkeln (als Hauserben nach ius civile) der (fiktive) Erbteil des Sohnes zwischen dem Sohn und seinen Kindern zu teilen ist. Somit sind sowohl der prätorische als auch der zivile Intestaterbe zur Erbfolge berufen. Diese innovative Lösung, die nur als Aufteilung der bonorum possessio ab intestato zwischen Enkeln und Sohn vorstellbar ist, bedeutet einen Kompromiss zwischen den Anforderungen des ius civile und denen des ius praetorium: So wird dem ius civile dadurch Genüge getan, dass die in die Position von Hauserben nachrückenden Enkel am Erbteil ihres Vaters beteiligt werden; dem ius praetorium dagegen entspricht, dass der emancipatus gleichberechtigt mit den in der Gewalt verbliebenen Abkömmlingen berufen ist. Gleichzeitig wahrt die nova clausula Iuliani die Interessen der weiteren Abkömmlinge, etwa der weiteren Geschwister des emancipatus, indem sie den emancipatus und seine Kinder nur auf den fiktiven Erbteil des Sohnes beruft. Somit bleibt das Stammesprinzip gewahrt, das für die Geschwister sowohl nach ius civile als auch nach ius praetorium Gültigkeit beansprucht.

Übersicht 10: Nova clausula Iuliani


Die nova clausula Iuliani belegt, dass die Juristen der Kaiserzeit nicht nur Einzelfallentscheidungen trafen, sondern auch versuchten, ein kohärentes System des Intestaterbrechts zu schaffen und Widersprüche zwischen ius civile und ius praetorium aufzulösen.

Über diese Korrekturen des ius praetorium hinaus ordnen zwei Reformen des Kaiserrechts auch ein Intestaterbrecht der Mutter nach ihren Kindern sowie ein Intestaterbrecht der Kinder nach ihrer Mutter an.

3.4 Kaiserrechtliche Korrekturen

Nach ius civile sind Mütter und ihre Kinder nicht (agnatisch) verwandt und daher nicht gegenseitig erbberechtigt (Kap. 3.1.4); nach prätorischem Recht können sie den Nachlassbesitz voneinander erst im Rahmen der dritten Klasse als Blutsverwandte (unde cognati) verlangen (Kap. 3.2.2). Diese Möglichkeit hilft allerdings dann nicht, wenn zivile Erben vorhanden sind, die aufgrund der ersten Klasse (unde liberi) oder der zweiten Klasse (unde legitimi) des ius praetorium vorrangig zum Zuge kommen. Die fehlende Intestaterbfolge zwischen Mutter und Kindern wird durch zwei Senatsbeschlüsse aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. eingeführt.