Neu-Rosen im Paradiesgärtlein

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Neu-Rosen im Paradiesgärtlein
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Ulrike Blatter

Neu-Rosen im Paradiesgärtlein

Texte, die gut tun: ein Stundenbuch zum Gartenjahr

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Frühling

Rosen im März

Tanz der Apfelbäume

Verweile doch!

Frühlingsnacht

Wildwuchs

vergissmeinnicht

Blümchensex

der alte apfelbaum

In meinem Garten wird geschossen - oder: es gibt kein Wenn ohne Aber

Immigranten im Garten

Ich kann nicht Nein sagen

Sommer

Garten im Juni

Die Gärten meiner Kindheit

juli

blühende linde

Dies ist ein schöner Sommer

fünfe gerade sein lassen

Ein Sprengstoff der besonderen Art

Mittsommer

Wurzeln

Bauerngarten

Herbst

Platane im Herbst

Erntezeit

lebenslust

Spieleinsatz

Schnuckliger Schneck

Regentag im Oktober

Allerseelen

Herbstgedanken

lebensretter

Winter

Winterweg

Geh-Schichten - Geschichten

im november

Weihnachten der Tiere

Bärenwinter

Winterschmetterling

Augensterne

Im Januar spricht alles eine andere Sprache

Februar

Die Autorinnen

Impressum neobooks

Vorwort

Dies ist kein Sachbuch!

Wenn ich ein Problem habe, gehe ich in die Buchhandlung. Ich weiß auch schon in welche Abteilung: dorthin, wo mich auf vielen Regalmetern und bis unter die Decke hochgestapelt, die Sachbücher erwarten. Sachbücher dienen der Sache – sie sind sachdienlich. Kenne ich diesen Ausdruck nicht auch von polizeilichen Ermittlungen? Und wie hoch diese Regale sind! Um an die oberen Etagen zu kommen, müsste man auf eine Leiter steigen. Buchhändler als Hochstapler? Was sind das für seltsame Gedanken, die mir durch den Kopf gehen! Kurzentschlossen schlage ich einen dieser Ratgeber auf – irgendeinen. Dieser hier kommt ausgesprochen seriös daher, sozusagen in Nadelstreifen. Ich blättere und fahnde nach sachdienlichen Hinweisen zu meinem Problem. Oder vielleicht nehme ich doch lieber dieses quietschbunte Exemplar mit den vielen lustigen Karikaturen? Schon nach flüchtigem Herumblättern finde ich mein Problem: Ihm wurde sogar ein ganzes Kapitel gewidmet. Sofort geht es mir besser – endlich fühle ich mich ernstgenommen. Dieses Buch erschien schon in der fünften Auflage – Wahnsinn! Jedenfalls bin ich mit meinem Problem nicht allein. Ich kaufe das bunte Sachbuch und zur Sicherheit nehme ich auch das seriöse gleich mit. An der Kasse erschrecke ich, aber nur kurz. Qualität hat eben ihren Preis.

Daheim setze ich mich an den Schreibtisch und beginne das Sachbuch zu lesen. Systematisch und mit einem Textmarker in der Hand. Seltsamerweise finde ich nun mein Problem nicht mehr wieder, obwohl ich dieselben Seiten aufgeschlagen habe, wie in der Buchhandlung. Na ja, ich finde mein Problem schon, aber irgendwie auch wieder nicht. Es ist so, als ob es nicht mehr meines wäre, was dort beschrieben wird. Und eine Lösung finde ich schon gar nicht. Am Abend nehme ich das Buch mit ins Bett – und schlafe prompt nach zwei Seiten ein. Ich kaufe mir den Ratgeber als Hörbuch und höre es beim Bügeln. Ich bügle und das Telefon klingelt. Meine Freundin ist dran. Sie hat ein Problem. Ich tröste sie, suche gemeinsam mit ihr nach einer Lösung. Als ich auflege, ist das Hörbuch bei Kapitel vier angekommen und ich habe vom Inhalt nichts mitbekommen. Ich höre es im Auto und verpasse eine Abzweigung, ärgere mich über den Typ hinter mir, der viel zu dicht auffährt und das Hörbuch ist bei Kapitel sieben und ich habe wieder nichts mitbekommen.

Ich nehme das Buch und gehe in den Garten. Ich setze mich auf die Terrasse und beginne zu lesen. Ich höre das Summen der Bienen im Kirschbaum und bestaune die weiße Blütenpracht. Letzte Woche waren die Blüten doch noch nicht da? Ich lege das Buch zur Seite und gehe zum Baum. Ein ganz zarter, kaum wahrnehmbarer Duft hüllt mich ein. Mein Blick wandert den Baumstamm auf und ab. Letzte Woche waren auch die Ameisen noch nicht da. Ich muss etwas tun. Gegen mein Problem? Gegen die Ameisen? Irgendwo muss doch noch die Dose mit dem Ameisengift stehen. Ich suche in der Kiste mit Gartenutensilien und beginne, ganz nebenbei, aufzuräumen. Ich sichte eine Unzahl Papiertüten mit Sämereien. Die bunten Bilder versprechen einen Sommer voller Duft und Farben: Tagetes, Sonnenblumen und Wicken – alles wartet nur noch darauf in die Erde gesteckt zu werden. In einer Tüte, deren Aufdruck verblichen ist, raschelt es verheißungsvoll. Ich leere die Samen in meine Handfläche und das Wasser läuft mir im Mund zusammen: Eigene Zucchini – das wäre doch mal wieder etwas! Gemüse, so zart und jung, wie man es im Laden niemals bekommt. Oder gar die Zucchiniblüten. Kurz angebraten in der Pfanne, mit leckerer Füllung oder solo: eine Sommer-Delikatesse. Aber eigene müssen es sein – taufrisch aus dem Garten direkt in die Küche. Dafür muss man sie aber erst einmal selber heranziehen. Ich betrachte die bleichen, flachen Kerne, die darauf warten, zum Leben erweckt zu werden. Eine einzige Zucchinipflanze ernährt eine ganze Familie, sagt ein italienisches Sprichwort. Bei meinem letzten Versuch haben die Schnecken alle zehn Setzlinge mit Stumpf und Stiel gefressen. Irgendwo hatte ich doch noch Schneckenkörner? Aber die töten nicht nur die ekligen verfressenen Nacktschnecken, sondern auch die geliebten Weinbergschnecken. Ich muss mich erkundigen, ob es nicht eine andere Methode gibt. Bierfallen sind jedenfalls keine Lösung. Die Schnecken feiern im Alkohol lediglich eine Party und fressen dann besoffen noch einmal so viel. Das weiß doch jeder Fußballfan: Bier macht Appetit! Vielleicht sollte ich neben die Bierfallen Kartoffelchips legen? Salz ist ja auch ein bewährtes Hausmittel gegen Schnecken.

Versonnen wickle ich Schnüre auf ein abgegriffenes Holzbrettchen, sortiere Bambusstecken, an denen ich schwächliche Pflanzen hochbinden werde, suche meine Gartenhandschuhe zusammen, die ich regelmäßig neu kaufe und die der gleichen Magie unterliegen, wie Socken in der Waschmaschine: nie hat man ein zusammenpassendes Paar. Und bei Handschuhen ist es ganz schlimm: oft gibt es nur rechte – oder nur linke – oder solche, die meinem Mann passen und mir mit viel zu viel Leerlauf um die Finger schlackern. Einmal hat auch eine Wespe im Daumen eines Handschuhs überwintert. Sie war ärgerlich, als ich sie aufstörte. Sehr ärgerlich … Endlich finde ich die Dose mit dem Ameisengift und gehe zum Kirschbaum. Ich öffne den Streuer und schütte kräftig. Nichts. Das Zeug ist verklumpt. Ich sehe den Ameisen zu, die am Stamm auf und ab rennen. In wenigen Wochen werden sie florierende Blattlauskolonien angelegt haben.

 

Die Ameisen wollen auch leben, denke ich und werfe die Dose in den Müll.

Ich gehe zurück ins Haus und öffne die Fenster weit. Draußen singt eine Amsel. Ich lächle und öffne den Kühlschrank. Zeit fürs Abendbrot.

Am nächsten Tag finde ich auf der Terrasse mein Sachbuch. Es ist ein wenig feucht vom Tau. Sachbücher bündeln Erfahrung, sammeln haufenweise Wissen und erklären mir die Welt. Sachbücher neigen ein bisschen dazu sich aufzuplustern. Sie tun so, als ob es ohne sie nicht ginge. Nicht im Alltag, nicht in der Liebe und in Krisen schon gar nicht.

Dieses Buch ist kein Sachbuch. Dieses Buch ist entstanden aus einer Zettelsammlung. Zettel, die ich in einer Schublade gehortet habe; teils unleserlich, weil ein plötzlicher Regenguss sich durchweicht hatte oder weil sie in der Waschmaschine zusammen mit meiner Arbeitshose und meinen nie zusammenpassenden Socken gewaschen wurden. Zettel mit Erdflecken, Grasflecken, zerknittert und eng beschrieben – mit Querverweisen, Pfeilen und Ausrufezeichen. Textfragmente, die nicht ausformuliert wurden, aber beim Durchlesen trotzdem – auch nach Jahren noch – etwas in mir zum Klingen bringen. Gedanken, die entstanden sind beim, Jäten, Umtopfen, Rasenmähen. Die Texte in diesem Buch beschreiben mein ganz persönliches Gartenjahr. Dieses Buch ist kein Sachbuch. Denn Pflanzen sind keine Sachen. Tiere sind es nicht. Und Menschen erst recht nicht – dieses Buch erzählt vom Leben.

Es beschreibt die Freude und auch die Trauer.

Es beschreibt Kreisläufe, aber auch Einschnitte, den Stillstand und wie alles zur Ruhe kommt.

Es beschreibt die Kraft, die weitermachen lässt.

Es gibt einen Ort, an dem Menschen seit Jahrtausenden immer wieder versuchen, die Sprache der Seele in Bilder aus der Natur zu übersetzen: Dieser Ort ist ein Garten.

Das Urbild einer idealen Welt ist das Paradies: der Garten Eden.

Wenn ich ein Problem habe, gehe ich – ich weiß schon wohin: in meinen Garten.

Mein Garten nimmt alle Probleme. Er nimmt nicht ernst, er nimmt nicht ab, er nimmt nicht leicht – er nimmt ganz einfach. Und dann lächelt er mir zu.

Frühling


Rosen im März

Ein Rosenhag im März

Ist nicht viel mehr als ein Versprechen.

Ein wintermüder Schmetterling

Sich in seinem Dickicht fing.

Rücklings hing er dort.

Zitternd.

Blasser Staub auf vernarbtem Flügel.

Greife ich zwischen die Dornen

Um ihn hervorzuholen

Ein Insekt, das all´ seine Farben verloren

Überhaucht meine Finger

Staub

Wie von Rosen.

Was ich liebe

Fürchte ich

Zu zerstören.

Tanz der Apfelbäume

Die Apfelbäume sich neigen

Sie fassen sich an den Zweigen

Sie beginnen sich zu bewegen

Und Apfelblüten regnen

Im Tanz

Der Kreis

schließt sich

ganz.

Verweile doch!

Faust verkauft Mephisto seine Seele für den perfekten Augenblick – für diesen einen Moment, zu dem er sagen will: ‚Verweile doch, du bist so schön!‘

Eine bekannte Luftfahrtlinie hat dieses Zitat zum Werbeslogan verballhornt: Alles für diesen Moment!

Und der Gärtner? Auch der Gärtner verkauft seine Seele, indem er diesem einen Augenblick nachjagt – der Augen-Blick im wortwörtlichen Sinne, dieser eine Moment, in dem der Blick des Gärtners mit Wohlgefallen auf seinem Werk ruht und alles, bis ins letzte Detail ist stimmig und perfekt. Doch halt! Ein Bild, eine Skulptur, meinetwegen auch ein Streuselkuchen – all dies sind mit eigenen Händen – eigenhändig – geschaffene Werke. Oft sogar Kunstwerke – ganz besonders ein gelungener Streuselkuchen. Aber ein Garten? Mein Garten? Französische Schlossgärten kommen vielleicht der Idee des Gesamtkunstwerkes noch am nächsten: Diese streng durchkomponierten von Buchshecken begrenzten Anlagen, die, von oben betrachtet, bunten Perserteppichen gleichen. Ja, französische Gärten sind ein Werk des Gärtners. Nein, das Werk vieler Gärtner, denn um den unbändigen Wildwuchs lebensfroher Pflanzen dermaßen in Form zu bringen, bedarf es vieler Hände. Wahrscheinlich wird mein Garten nur deshalb nicht zu meinem Werk, weil ich nur zwei Hände habe? Immer wieder streifen meine unzufriedenen Blicke Abgestorbenes, Geknicktes, Verwelktes. Schimmel und Blattläuse machen sich breit, vom Unkraut erst gar nicht zu reden. Und immer, immer bin ich mit meinen Gedanken schon weit in der Zukunft. Das ist mein Sündenfall.

An einer sonnendurchwärmten Stelle grüßen mich dicke Büschel ganz früher Schneeglöckchen, obwohl es nachts noch oft Frost gibt. Und ich? Grüße ich zurück? Ich streife dieses Wunder nur flüchtig. Mein Blick irrt durch die Zukunft und sucht Krokusse und Winterling. Das wäre doch ein schönes Bild, denke ich: Weiße Schneeglöckchen, lila Krokusse und die sattgelben Rasen der verwilderten Winterlinge. Doch meine Winterlinge verwildern nicht, sondern sind ausgesprochene Einzelkämpfer. Und die Krokusse zieren sich in diesem Jahr unglaublich. Zimperlich wagen sie sich erst dann hervor, wenn die Schneeglöckchen schon fast verblüht sind. Aber vier Wochen später reibe ich mir die Augen: Märzbecher und Anemonen sind auch ein schönes Paar, die zögerlichen Krokusse haben sich unterirdisch vermehrt und bilden dicke lilafarbene Kleckse, während die vereinzelt hervorleuchtenden Winterlinge ein optimistisches Gelb ins Bild tupfen – es sieht so ganz anders aus, als ich es mir vorstellte, aber, als ein Sonnenstrahl durch die Wolken bricht, die Farben kräftig aufleuchten und im Haselstrauch eine Amsel frühlingsselig zu glucksen beginnt – oh, Augenblick, wie bist du schön!

Solch ein Moment scheint geschenkt. Zu schön, um wahr zu sein. Und ist doch eigentlich nichts Besonderes: ein wenig Sonne, Amselgesang und Blütenzauber. Es ist leicht das zu übersehen. Noch leichter es geringzuschätzen. Und ich klopfe den Lehm von den Gummistiefeln, fasse die Hacke wieder fester und wende mich ernsthafter Arbeit zu. Ich begebe mich wieder in die Zukunft. Wie wird dieses Stückchen Erde in vier Wochen aussehen, in zwei Monaten, nächstes Jahr? Was wird hier wachsen, was droht überwuchert zu werden, wo sind die Nester der Schnecken? Der Farbklang verstummt, die Wärme im Vogelgesang spüre ich nicht mehr, das Sonnenlicht verduftet. Sündenfall.

Als Kind konnte ich einem einzelnen Grashalm beim Wachsen zuschauen, entdeckte den wimmelnden Mikrokosmos in einem Stückchen Wiese, kaum größer als meine Handfläche, lag mit geschlossenen Augen auf dem Bauch, drehte mich nach endlosen Minuten träge auf den Rücken. Ich spürte, wie mich die warme Erdkruste trug. Ich hörte das Zirpen der Grillen und das Fallen der Tautropfen. Ich roch den Blumenduft. Jede Jahreszeit schmeckte anders. Ich nahm wahr mit allen Sinnen. Ob ich das noch kann? Ich werfe mich auf den Boden. Keine Sommerwiese, sondern filziger, vom Winter zutiefst verschüchterter Rasen. Ich schließe die Augen. Der Winter krallt sich meinen Rücken. Ich werde mich erkälten, denke ich und die Amsel schluchzt melancholisch. Ich muss noch die Triebe des Schneeballs kontrollieren, denke ich; da sitzen immer so fiese kleine Würmchen drauf, die fressen Löcher in die Blätter und ein Windhauch kitzelt meine Nase und bringt einen Duft nach Erde und Wachstum mit. Ich denke, solange ich diesen Duft noch wahrnehmen kann, will ich nicht sterben und überlege, ob ich das in meine Patientenverfügung schreiben soll. Ein Sonnenstrahl streichelt meine Augenlider, wandert zu meinen Händen und ich seufze. Meine Vorderseite ist angenehm durchwärmt, während der Rücken im Wintergriff allmählich erstarrt. Ich rapple mich hoch und rücke meine schockgekühlte Hinterseite ins rechte Licht: Wie neu belichtet schweift mein Blick durch den Garten und ich merke: der Augenblick ist mein eigentliches Zuhause. Die Vergangenheit besteht nur aus Kellerregalen, vollgestopft mit Konserven, deren Haltbarkeitsdatum schon längst abgelaufen ist. Und die Zukunft wirft mir Schatten entgegen, die sich meist als Trugbilder herausstellen, aber immer wieder das Jetzt verdunkeln, den einzigen Augenblick, in dem ich wirklich lebe – die einzige Heimstatt, die mir bleibt auf meiner Reise durch die Zeit.

In der Musik erlebe ich solche Augenblicke, im Tanz, im Gebet – und im Garten. Sie sind kostbar. So kostbar, wie es eigentlich jeder Augenblick unseres Lebens ist. Wir vergessen das nur allzu oft, gehen in den Keller, öffnen Erinnerungskonserven und wundern uns über ihren faden Geschmack. Oder wir verlieren uns in einer Zukunft, die nichts anzubieten hat außer leeren Versprechungen und furchteinflößenden Schatten.

Es ist eine hohe Kunst zu lernen, den Augenblick zu leben. Es gibt dafür kein Patentrezept. Man muss es immer wieder ausprobieren und darf auch neue Wege nicht scheuen. Kinder können es noch – wenn die Erwachsenen den Mut aufbringen, Kindern immer wieder einmal den Zumutungen der Langeweile auszusetzen. Wenn Kinder gelangweilt in flache Bildschirme starren, werden sie wenig Neues entdecken. Aber wenn Kinder gelangweilt aus Fenstern starren, werden sie den Blick zum Himmel wenden und eine neue Welt aus den Wolken erschaffen, sie werden hinausgehen und sich rücklings in eine Wiese fallen lassen (wenn die Großen es ihnen erlauben) oder schließlich den Blick nach innen wenden und die verwirrende Vielfalt der eigenen Seele entdecken. Wenn wir ganz viel Glück haben, dann werden gelangweilte Kinder vielleicht sogar einmal freiwillig einen Blick in ein Buch werfen – aber das ist eine ganz andere Geschichte. Jedenfalls ist es ein großer Fehler, Kinder zu Tode zu bespaßen – und das meine ich wörtlich: wenn die Wahrnehmung des Augenblickes stirbt, dann stirbt das Leben.

Um den Augenblick zu leben, braucht es Achtsamkeit in seiner doppelten Bedeutung: auf etwas achten, im Sinne einer verbesserten Wahrnehmung. Es heißt aber auch: etwas achten, ihm Achtung entgegenbringen. Wir nennen das auch Wertschätzung. Also sehe ich nicht nur die verwelkten Tulpenstängel, die, ohne Blütenkrone, wahrhaftig keine Zierde sind. Ich weiß, dass ich sie stehenlassen muss, damit die Zwiebel im Boden neue Kraft schöpfen kann. Ich wende meinen Blick zu Pfingstrose und Blaukissen, übersehe bewusst die welken Tulpenstängel – auch dies eine Form der gelenkten Achtsamkeit. Einige Wochen später finde ich kantige Samenkapseln auf holzigen Stängeln. Jetzt wäre es an der Zeit die alten Tulpenreste wegzuräumen, auch die Samenkapseln sind für die Pflanze nur unnötiger Ballast. Aber ich lasse sie stehen. Sie gefallen mir. Oh, Augenblick …

In Frankreich besuchte ich viele Schlösser und ihre Gärten. Ich irrte durch Buchslabyrinthe und bewunderte die hohe Kunst des Barockgartenbaus: diese Wandelgänge, Schattenlauben, die Rosen- und Kräutergärten und ganz besonders den Blick von oben, wenn vor meinen Augen alles zu einem einzigen riesigen Teppich verschwamm. Das war Gartenkunst vom Feinsten. Bis zur Vollkommenheit gezähmte Gärten. Aber bei genauer Betrachtung zeigte sich: auch diese sorgfältig gepflegten und zurechtgestutzten Teppiche fransten manchmal an den Rändern etwas aus. An Stellen, wo das strenge Regiment auch nur kurzfristig gelockert wurde, dort schoss es sofort undiszipliniert ins Kraut. An diesen Stellen war der Garten nicht mehr sorgfältig dressiert, da wirkte er eher wie ein aufsässiges Kind, das mit aufgeschlagenen Knien und frechen Sprüchen im Mund die feine Verwandtschaft brüskiert. Wie erholsam waren dagegen die Spaziergänge in englischen Gärten. Sicher steckte auch in ihnen viel Arbeit, aber sie sind der Natur viel näher, sie scheinen mir sanft geleitet und nicht gezüchtigt – es wird dort vieles ausprobiert und noch mehr einfach zugelassen. Wobei die sanfte Leitung offensichtlich einmal in den Händen des Gärtners lag und an anderer Stelle und zu anderer Zeit in den Händen (?!) der Pflanzen.

 

Bevor ich England bereiste, wusste ich gar nicht, dass ich einen englischen Garten habe (wenn man einmal vom Rasen absieht, der partout nicht englisch werden will). Zugegeben, es ist ein sehr, sehr kleiner englischer Garten, aber es gibt keinen Zweifel: nicht nur ich pflege so machen Spleen, meine Pflanzen tun es auch.

Mein größter Spleen ist es, das Gartengerät einfach mal zur Seite zu legen und in manchen Ecken den Pflanzen das Regiment zu überlassen. Zugegeben, es ist nicht einfach, Dinge zuzulassen, die Hände in den Schoß zu legen, sich führen zu lassen, zu atmen und einfach einmal innezuhalten um wahrzunehmen. Den Augenblick zu leben ist hohe Kunst. Lebenskunst. Aber wenn es einfach wäre, dann wäre es auch keine Kunst.


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