DAS GRANDHOTEL

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Sari: Mystery #1
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Märgi loetuks
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Da gab es doch diesen Schlager von Heidi Brühl: „Wir werden niemals auseinandergehen, wir werden immer zueinander stehen…, erinnert sich keiner daran?“, meldete sie sich wieder zu Wort. Dann summte sie die Melodie leise vor sich hin. An den toten Axel Lehmann dachte sie dabei allerdings gar nicht, sondern an diese liebe Heidi Brühl, die diesen Song so herzergreifend sang, dass einem dabei immer die Tränen kamen. Auch sie war nun schon viele Jahre tot, bedauerte Ulla Sommer.

Vanessa und Vincent hatten auch schon alles abgeräumt, es gab nichts mehr zu essen, ein paar Gläser standen noch auf den Tischen und es gab auch noch Wein. Doch niemand hatte noch Lust im Grand Salon zu verweilen. Und so gingen dann die ersten Gäste auch gleich nach oben in ihre Zimmer, denn zum Feiern oder Zusammensitzen war nach diesem tragischen Mord niemand zumute.

Auch Ulla Sommer ging in ihr Zimmer, setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch und rief ihren Mann zu Hause an. Doch damit hatte sie kein Glück, es war niemand zu erreichen.

„Wilhelm liegt sicherlich schon längst im Bett, während ich hier noch mit einem Toten vorliebnehmen muss“, jammerte sie und zog sich langsam aus. Draußen war eine klare, mondhelle Nacht, die gar nicht zu diesem ganzen Hexenzauber in diesem altertümlichen Hotel passen wollte.

Dann löschte Ulla Sommer das Licht und schlief bis zum anderen Morgen durch.

Kapitel 3

Mit großem Schmerz wachte sie in der Klinik auf. Sie sah nur überall Schläuche und immer wieder Schläuche. Eigentlich konnte sie diese Schläuche nicht zuordnen. Die Tür öffnete sich und eine freundliche, ganz in weiß gekleidete Frau kam herein. Langsam kehrte ihr Bewusstsein wieder zurück. Aber sie wollte gar nicht aufwachen. Schlafen, das war das Beste was ihr geschehen konnte. Einfach einen Winterschlaf halten. Sie wusste gar nicht, wo sie sich befand, war sie in einer Klinik oder in der Reha? Sprechen konnte sie nicht. Ihre Augen bewegten sich ganz mechanisch. Sie wollte sprechen, aber ein Kloß in ihrem Hals ließ es nicht zu. Auch ihren Mund konnte sie nicht öffnen.

Sie dachte nur an das Messer in ihrer Brust. So langsam strich sie mit ihren Händen, die einfach ihren Armen mechanisch folgten an ihren Brüsten entlang. Sie fühlten sich ganz hart an, gar nicht weich wie sonst. Sie bemerkte nicht die straff gezogenen Verbände, die um ihre Brüste lagen.

Irgendwas stimmte nicht mit ihrem Kopf. Sie fühlte es deutlich. Sie hatte einen Kopfverband. Doch wie dieser zustande gekommen war, konnte sie auch nicht einordnen. Sie forschte in ihrem Gedächtnis nach. Aber da war nichts. Sie wusste nicht mal mehr ihren Namen. Wer war sie?

Sie erinnerte sich nur daran, dass sie plötzlich einen Stich und einen großen Schmerz verspürte und mehr wusste sie nicht mehr.

Sie erinnerte sich auch noch an einen bestialischen Gestank. Was war geschehen? Wo bin ich? Als sie ihre Augen wieder aufschlug, sah sie nur ein milchig-weißes Glas vor ihren Augen. Wo war der Himmel geblieben? Es gab keinen Himmel mehr. Es war nur alles milchig-weiß. Sie schloss wieder ihre Augen, dann wollte sie lieber einen Winterschlaf halten, als dieses milchig-weiße Zimmer zu sehen, das bei ihr Angstschweiß auslöste. War sie tatsächlich in einem Krankenhaus gelandet?

Sie wollte einfach nur weiterschlafen, ihre Augen schließen und nur nicht wieder in dieses milchig-weiße Zimmer schauen.

Sie hörte ein leises Klopfen an der Tür. Sie konnte jedoch keinen Laut von sich geben. Sie sah, wie sich die Tür öffnete und herein kam eine Person, die sie nur schemenhaft sehen konnte. Diese Person war nicht weiß gekleidet, sondern sie hatte leuchtendrote Blumen auf ihrer Bluse, das erkannte sie sofort. Sie sahen aus wie Lotosblüten oder wie Klatschmohn. Ja, Klatschmohn, den mochte sie als Kind sehr, und er wuchs auf den Feldern zwischen dem Weizen und den blauen Kornblumen. Das war schön anzusehen, dieser leuchtendrote Klatschmohn, der hellgelbe Weizen und das dunkle Blau der Kornblumen. Sie bemerkte nur noch, dass diese Frau mit den Lotosblüten auf der Bluse sie unentwegt anstarrte. Wer war das? Ihre Tochter?

Doch auch von dieser Person kam kein Laut über ihre Lippen. Sie spürte nur, wie diese Person ihr über das Gesicht strich. Sie spürte, dass die Person zusammenzuckte und sie sah auch die Tränen, die unaufhörlich über das Gesicht dieser Person liefen. Was war nur geschehen? Dann ging diese Person zur Tür und drückte die Klinke an der Tür nieder. Dann war sie verschwunden. Es herrschte wieder eine gespenstische Stille im Raum.

Kapitel 4

Mit hastigen Schritten lief Ulla Sommer die Treppen hinunter in das Kaminzimmer, denn diesmal sollte das Frühstück im Kaminzimmer stattfinden. Draußen schneite es immerfort. Sie konnte es gar nicht glauben, als sie diesen Schnee sah. Es war zwar etwas ungewöhnlich für Ende August. Doch in den Alpen kann es auch schon im August schneien. Dicke Flocken setzten sich auf Wiesen und Bäumen fest. Überall war kein Durchkommen mehr, so viel nasser Schnee war in der Nacht gefallen, Ende August. Ganz viel weißer Schnee, der matschig war, Schneeballen hätte man daraus keine formen können, denn dann wären sie einfach zusammengefallen. Sie erinnerte sich an die Schneemänner, die sie als Kind, dann später mit ihren Kindern und mit ihren Enkeln, auch in ihrem Paradies gebaut hatte, das ihr nicht mehr gehörte. Doch daran wollte sie nicht denken. Das war Vergangenheit, auch wenn es sehr schmerzhaft war. Sie wollte in die Zukunft schauen, wenn es für sie, in ihrem Alter, überhaupt noch eine Zukunft gab.

Vanessa und Vincent hatten den Gästen im Kaminzimmer schon erklärt, dass noch nie so viel Schnee in dieser Jahreszeit gefallen war. Dass der Winter schon so früh in dieses Alpental gekommen war, fand sie sehr merkwürdig, aber es passte zu diesem altertümlichen Hotel und dieser fragwürdigen Mordgeschichte des Ölmillionärs. Nun war doch tatsächlich noch ein Mord geschehen. Weshalb wurde dieser Axel Lehmann ermordet? Diesen Ansgar Hoch, der doch mit ihm gekommen war, hatte sie auch nicht mehr gesehen.

Ulla Sommer erinnerte sich an eine Zeit, als der Winter im Schwarzwald auch immer schon früh einkehrte, manchmal schon Ende September. Nicht selten schneite es auch im Oktober. Und manchmal blieb er auch ein halbes Jahr bis in den April hinein liegen.

Sie setzte sich nachdenklich auf einen Stuhl im Kaminzimmer. Wohlig knisterte es im Kamin, denn dort wurde nun mit Holz geheizt. Es roch gut, auch wenn manchmal etwas Rauch aufzog und der Abzug nicht richtig klappte.

„Gut, dass es noch so altmodische Kamine gibt und wir nun nicht ganz erfrieren werden in dieser Kälte“, sagte sie zu Karl Feistel, der mit Claudine Meister das Kaminzimmer betreten hatte. Irgendwie waren ihr die beiden unsympathisch. Sie hatten so einen lauernden Blick.

Beide setzten sich allerdings nicht zu ihr, was ihr auch gefiel, denn mit den beiden wollte sie nichts zu tun haben. Dann kam Sonja Netter in den Raum, spazierte erst auf Ulla Sommer zu, grüßte und lief dann aber doch auch zu Claudine Meister und Karl Feistel.

So langsam füllte sich das Kaminzimmer mit den Gästen, die aber alle ziemlich bleich und mit schwarzumrandeten Augen, richtig übernächtigt, den Raum betraten. Sie vermutete, dass sie alle nicht gut geschlafen hatten. Doch sie hatte sehr gut geschlafen, wie sie fand. Allerdings hatte sie wieder diesen seltsamen Traum, der bei ihr schon früher immer wiederkehrte und nun auch in diesem Schweizer Hotel. Sie lag in einem Krankenhaus, alles war weiß um sie herum und sie wollte nur ihren Winterschlaf halten. Bis heute konnte sie sich die Bedeutung dieses Traums nicht erklären.

Im Kaminzimmer war es wohlig warm und sie dachte nicht mehr an ihren Traum, der sie einfach wieder beschäftigte, wobei sie sich doch nach einer schönen, guten Zukunft sehnte, einer Zukunft ohne ihre quälenden Träume, auch wenn ihr Paradies für immer verschwunden und verloren war.

Im Raum herrschte wieder eine bedrückende Stille. Niemand sagte ein Wort, nur ein kurzes „Guten Morgen“ kam von den zusammengepressten Lippen der Gäste, die so langsam das Kaminzimmer füllten.

„Was ist denn das für eine Gesellschaft, eine richtige Trauergesellschaft?“, meinte Ulla Sommer mehr zu sich selbst.

Dann kam auch Albert Rehlein herein, der sich auch nur mit müden Augen umblickte und Ulla Sommer suchte. Auch er hatte nicht gut geschlafen und war an einem Traum aufgewacht, den er jedoch nicht so richtig einordnen konnte. Er hatte schon oft von seiner Mutter geträumt, die ihm immer noch etwas sagen wollte. Diesmal war sie ihm nur kurz im Traum erschienen. Dafür erschien ihm der Hoteldirektor, der einen Toten nach dem anderen in diesen Eiskeller brachte und immer wieder bei jedem Toten so ein krächzendes Lachen hervorbrachte. Es war direkt gruselig und bei diesem Gedanken an diesen Traum lief es ihm eiskalt den Rücken herunter.

Dann servierten Vanessa und Vincent Kaffee und Tee. Das Frühstücksbuffet war sehr reichhaltig. Käse, Schinken, Salami, Eier und kleine Würstchen luden zu einem herrlichen Mahl ein. Auch Obst und verschiedene Jog-hurtspezialitäten, Müsli u.v.m. konnten sich die Gäste auf ihre Teller häufen.

Ulla Sommer liebte das französische Frühstück mit verschiedenen Marmeladesorten. Zum Schluss gönnte sie sich jedoch auch noch den herrlich duftenden Schinken, denn zu Mittag gab es ja nichts zu essen.

Nach dem Frühstück ging sie in die Bibliothek und suchte sich ein Buch aus. Auch Ansgar Hoch sah sie wieder. Also war er nicht abhandengekommen, überlegte sie und lächelte ein bisschen. Er holte sich auch ein Buch und setzte sich zu Ulla Sommer, die in einem tiefen Ohrensessel Platz genommen hatte. Auch in der Bibliothek war es wohlig warm. Allerdings wusste sie nicht wie hier geheizt wurde, denn einen Holzkamin sah sie nicht. Das wäre auch für die Bücher nicht optimal gewesen.

 

Dabei fiel ihr wieder ein, dass doch die beiden, Ansgar Hoch und der tote Axel Lehmann, zusammen im Hotel eingetroffen waren. Deshalb hatte sie sich auch eine kurze Konversation mit diesem Ansgar Hoch überlegt, denn sie hatte ihn ja nicht explizit am gestrigen Abend, nach dem Mord an Axel Lehmann, mehr gesehen.

„Konnten Sie irgendwie schlafen?“, fing sie das Gespräch schon mal harmlos an.

„Sie kannten sich doch, hatte ich den Eindruck, zumindest sind sie doch auch zusammen gekommen?“

„Ja, wir waren mal früher Kollegen“, antwortete Ansgar Hoch einsilbig.

„Kollegen?“, kam es ziemlich gedehnt von ihren Lippen.

„Wo war das denn?“, fragte sie neugierig nach.

Doch darauf gab Ansgar Hoch keine Antwort.

Ulla Sommer beteiligte sich dann auch nicht mehr weiter an diesem Gespräch, weil sie bemerkte, dass dieser Ansgar Hoch gar nicht gesprächig war. Sie wandte sich wieder ihrem Buch mit dem Titel „Von Wölfen und Schafen“ zu, das selbst in dieser Schweizer Bibliothek vorhanden war. Sie hatte es ja vor langer Zeit selbst geschrieben.

Ansgar Hoch war doch etwas niedergeschlagen, denn mit dem Tod von Axel Lehmann hatte er nicht gerechnet. Sie waren zwar nicht zusammen gekommen, wie Ulla Sommer vermutete, aber sie trafen zusammen ein und jeder erkannte den anderen sofort. Deshalb war er auch etwas verunsichert, was er dieser neugierigen Person, dieser Ulla Sommer, erzählen sollte über seinen toten Kollegen.

Am besten, ich schweige dazu, denn sagen kann ich eh nicht viel, überlegte er und wandte sich auch dem Bücherschrank zu. Auch er holte sich einen Krimi. Allerdings fing er gar nicht zu lesen an, er wirkte irgendwie abwesend, vielmehr waren seine Gedanken mit dem Datum des 23. August beschäftigt. Er erinnerte sich vage an dieses Datum, doch er hatte auch noch den 31. August im Kopf. Das war damals ein großer Fehler, dieses Datum zu nennen und hatte es nicht auch dieser Sachverständige noch in seinem Gutachten veröffentlicht. Ansgar Hochs Gesicht verfinsterte sich zusehends, als er an diese Geschichte zurückdachte.

„Irgendwie muss ich mich einfach mehr konzentrieren“, meinte er zu sich, denn er sah wie diese Ulla Sommer immer mal wieder zu ihm herüberblickte, obschon sie vorgab, ganz vertieft in ihren Krimi zu sein.

Manchmal schreibt das Leben eben auch einfach die echten Krimis, dachte er und blätterte eifrig in seinem Taschenbuch, das er sich ausgesucht hatte und das von einem Schwarzwälder Kommissar Kirsch handelte. Fast sah es für Ulla Sommer so aus, als sollten die Seiten von Ansgar Hoch schnell umgeblättert werden, weil sie ihn vielleicht an Vergangenes erinnerten. Zurückkehren in die Vergangenheit wollte er nicht, die Vergangenheit sollte keine Chance erhalten, diesen Eindruck vermittelte er Ulla Sommer.

Aus ihren grünen Augen beäugte sie diesen merkwürdigen Mann, der mehr wusste, als er sagte, das war ihr sofort aufgefallen.

Doch sie wollte ihm nicht zeigen, dass sie ihn beobachtete, sondern las eifrig weiter, wobei auch sie die Seiten einfach nur überflog. Vertiefen in diesen Krimi konnte sie sich auch nicht, der von diesen menschlichen ‚Wölfen und Schafen‘ handelte. Sie hatte genügend menschliche Wölfe und menschliche Schafe erlebt, wobei ihr die menschlichen Schafe natürlich lieber waren, auch wenn sie etwas naiv waren. Eigentlich hatte sie gar keine Lust mehr auf das Schreiben von Krimis, fiel ihr auch noch ein. Seit diesem Tag, als sie ihren Autounfall hatte und dieser katastrophalen Begegnung, als ihr ein Messer in ihre Brust gerammt wurde, hatte sie das Schreiben von Krimis ad acta gelegt. Auch sie dachte an das schreckliche Erlebnis zurück und an diesen Tag, der Schuld daran hatte, dass sie lange Zeit in diesem Krankenhaus lag und sie ihren Winterschlaf hielt.

Vanessa blickte kurz in die Bibliothek herein und sah die beiden, die ganz alleine dort saßen, und dabei vorgaben, als würden sie lesen. Dabei kreisten doch ihrer beider Gedanken um diesen gestrigen Mord und um den 23. August, an dem schon einmal ein Mord geschehen war.

„Soll ich Ihnen noch einen Kaffee oder Tee bringen?“, hörte Ulla Sommer plötzlich die Stimme von Vanessa.

„Ja, danke!“, hauchte sie nur und hob kurz ihren Kopf, blickte Vanessa freundlich lächelnd an, obwohl es in ihr brodelte.

„Was weiß die Kleine, was weiß dieser Hoteldirektor und was weiß dieser Ansgar Hoch?“, grübelte sie. Er kam ihr alles nicht geheuer vor. Aber vielleicht verdächtigte sie alle auch zu Unrecht, überlegte sie. Doch dann schüttelte sie ihren Kopf, denn ungerecht wollte sie nicht sein. Dann lieber Winterschlaf halten oder wie die meisten Gäste, die Zeit, zwischen dem Frühstück und dem Dinner am Abend, mit Spaziergängen, Lesen oder mit Spielen verbringen.

Doch an Spazierengehen war bei diesem Wetter, diesem Schneetreiben, das da hereingebraust war wie ein Unwetter zur Unzeit, nicht zu denken. Vom Fenster der Bibliothek aus konnte man in den Garten blicken, der jedoch ganz in Weiß gehüllt war und ein eisiger Wind fegte über Bäume und Wiesen. Es war richtig gespenstisch anzusehen, wie dieser Sturm sich zu einem Orkan zusammenbraute. Ulla Sommer erinnerte sich, dass die Natur sich immer wieder alles zurückholt, was ihr genommen wurde.

Dieses Schneeweiß machte sie ganz traurig und diese Naturgewalt auch. Was haben wir verbrochen, dass alles nun über uns zusammenbricht?, dachte sie. Ansgar Hoch blickte nur kurz auf, als hätte er ihre Gedanken lesen können. Auch ihm ging es wie seiner Nachbarin, auch ihn machte dieses Schneeweiß traurig und er musste an seinen ehemaligen Kollegen, Axel Lehmann, denken, der nun in diesem Eiskeller im Hotel lag, während er noch am Leben war. Weshalb wurde er ermordet und nicht ich?, überlegte er kurz. Das Leben ist doch manchmal ungerecht, dachte er und wandte sich dann aber mit all seinen Gedanken wieder seinem Krimi zu.

Kapitel 5

An diesem Abend wählte Ulla Sommer einen dunkelblauen Hosenanzug und ein smaragdgrünes Oberteil, das sehr gut zum Blazer passte. Irgendwie wollte sie auch mit ihrer dunklen Kleidung, dem toten Axel Lehmann im Eiskeller ihre Reverenz erweisen, obwohl sie ihn eigentlich nicht kannte.

Doch sie hatte schon den ganzen Tag über ein mulmiges Gefühl, denn nicht nur ihre Stimmung war getrübt, auch der Himmel war tagsüber dunkel verhangen und das hieß, dass noch mehr Schnee in dieses Davoser Tal einkehren würde.

Als sie dann nach unten zum Dinner ging, hörte sie nur wie Vanessa zu Vincent sagte, dass das Telefon immer noch nicht gehen würde. Als sie das hörte, wurde ihre Laune auch nicht besser. Doch sie wollte ihre schlechte Laune vor den anderen Gästen nicht zeigen.

Weshalb hat uns dieser Millionär nur in dieses gottverlassene Nest zu dieser Jahreszeit eingeladen?, überlegte sie wieder, kam aber zu keinem Ergebnis.

„Doch die Handys müssten doch funktionieren, da könnte doch die Polizei in Zürich informiert werden“, machte sie sich weitere Gedanken.

Dieser Hoteldirektor, Philippe Laurent, kam ihr auch wie eine Schnecke vor, weil er alles schleifen ließ und sich nicht richtig um den Mordfall kümmerte. Bei Ulla Sommer musste alles schnell gehen und diese behäbige Schweizer Art von diesem Holzklotz eines Hoteldirektors gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie tröstete sich dann aber mit dem Gedanken, dass die anderen Gäste dieser OIL-Gruppe ja auch noch anwesend waren und insofern beruhigte sie sich wieder etwas und harrte, wie alle, der Dinge, die da noch kommen würden.

Im Grand Salon saßen schon Albert Rehlein und Sonja Netter, versunken in den tiefen samtroten Fauteuils. Fast hätte man sie nicht erkennen können in diesen altmodischen Sesseln, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatten. Anscheinend hatten sich die beiden auch schon angefreundet, wie Ulla Sommer feststellte. Als sie hinzutrat, verstummte plötzlich ihr Gespräch. Das fiel ihr gleich auf. Aber sie machte sich darüber keine weiteren Gedanken und dachte wieder an ihren Winterschlaf. Sich einfach nicht einmischen und sich nicht ärgern lassen, das war die Devise, die sie nach ihrem Autounfall beherzigte, obwohl es ihr eigentlich gegen den Strich ging.

Peter Bloch und Norbert Neurer kamen etwas später. Auch Dominik John, Karl Feistel und Claudine Meister sowie Renate und Arnim Hermann standen in Grüppchen wieder zusammen. Annette Fischer und Josef Haas vertraten sich im hinteren Drittel des Raumes ihre Beine. Sie machten auf Ulla Sommer einen etwas verlorenen Eindruck.

Plötzlich kam Philippe Laurent zu den Gästen und führte sie wieder in die Bibliothek. Im Zimmer brannte diesmal das elektrische Kaminfeuer, das magische Schatten an die Wände warf.

Als das grelle Neonlicht anging, war auch schon der riesengroße Fernsehapparat wieder eingeschaltet und der undurchsichtige Millionär zu erkennen, der wieder rückwärts zu den Gästen gewandt saß.

Ulla Sommer lief es eiskalt den Rücken hinunter, denn der bullige Nacken dieses Mannes, der anscheinend alles wusste und nichts verlauten ließ, jagte ihr eine gewisse Angst ein und sie konnte auch die Rücksichtslosigkeit dieses Menschen spüren, obwohl sie ihn noch nie live zu Gesicht bekommen hatte.

„Manchmal kann man von der Gestalt her auch auf das Gemüt eines Menschen schließen“, erinnerte sie sich an die Worte ihres Arztes. Doch an die Klinik wollte sie jetzt nicht denken. Nicht in diesem Augenblick.

Auch die anderen Personen dieser willkürlich zusammengewürfelten Gruppe machten keinen glücklichen Eindruck auf sie.

Dann ertönte wieder die blecherne Stimme dieses Millionärs, der diesmal nur den Namen, Timo, nannte.

„Thilo oder Timo!“, rief Ulla Sommer fragend aus, die den Namen nicht richtig verstanden hatte. Claudine Meister zuckte dabei förmlich zusammen, und sie schaute wieder mit einem verstohlenen Blick zu Ulla Sommer, die diesen Blick aufnahm, aber kein freundliches Lächeln zurückgab.

Dieser Blick gefällt mir gar nicht, dachte sie nur.

Man spürte förmlich wie es in der Bibliothek knisterte, und das kam nicht durch das elektrische Feuer im Kamin zustande. Manche Gäste schauten sich nur vielsagend an. Wieder andere lachten hysterisch auf und es gab welche, die nur zu Boden blickten, kein Wort sprachen. Es lag etwas Geheimnisvolles, Mysteriöses und auch viel Unausgesprochenes in diesem Raum. Ulla Sommer kroch es wieder eiskalt über ihren Rücken, weil sie ahnte, dass wieder ein Mörder oder eine Mörderin unterwegs war in diesem verlorenen Hotel.

Dann wurde es zunächst wieder dunkel im Saal, und auch der Fernsehapparat war wieder dunkel wie der Himmel und die Nacht draußen vor der Tür, wo nur der weiße Schnee im Licht des Mondes glänzte. Ruckartig ging das warme Licht am Kandelaber an und überall gab es nur bestürzte Gesichter. Die Gäste hatten nur diesen geheimnisvollen Namen ‚Thilo‘ oder ‚Timo‘ vernommen. Wer das sein sollte, hatte nicht mal Ulla Sommer gehört. Mit herausfordernden Blicken musterte sie ihr Umfeld und sagte immer wieder diese beiden Namen laut vor sich hin. Den anderen fiel es schon auf. Aber keiner hielt sie zurück.

Der Hoteldirektor lud dann wieder zum Essen ein.

„Timo oder Thilo!, das ist hier die Gretchenfrage“, sagte Ulla Sommer laut, damit es ja jeder hören konnte. Sie hatte nämlich dieses Affentheater mit dem Neonlicht satt. Dieses grelle Neonlicht wollte sie am liebsten abstellen, es schadete ihren Augen, die seit dem Autounfall in Mitleidenschaft gezogen waren. Manchmal fing das rechte Auge zu tränen an und dann wieder das linke. Dann sah sie nur verschwommen ihre Umgebung. Und das nervte sie gewaltig.

„Wissen Sie, was dieser Name zu bedeuten hat?“, warf sie in die Tischrunde ein, als alle beisammen saßen.

Am Tisch gab es auch nur einsilbige Gespräche, denn alle hingen ihren Gedanken nach oder diesen beiden Namen, mit denen niemand etwas richtig anfangen konnte und die dieser Ölmillionär ihnen mit einem merkwürdigen Unterton genannt hatte.

Serviert wurden dann von Vanessa und Vincent eine badische Hochzeitssuppe mit dreierlei Einlagen, wie Eierstich, Markklößchen und Suppennudeln. Dazu wurde ein Kerner, ein vollmundiger Weißwein aus Württemberg kredenzt.

 

„Das sind wir unserem Sponsor, dem Millionär, einfach schuldig, auch einen Württemberger zu servieren“, hörte Ulla Sommer den Hoteldirektor am Nebentisch sagen. „Kenner trinken Württemberger, diesen Slogan kenne ich doch!“, murmelte sie gesprächsbereit zu ihren Nachbarn hin. Doch reagiert wurde gar nicht.

Als Hauptgang gab es einen pochierten Steinbutt mit Beurre. Dazu wurde ein Silvaner aus der Ortenau gereicht. Dieser passte wunderbar zum pochierten Steinbutt, weil er leicht und fruchtig war. Ulla Sommer fand diesen Wein sehr ansprechend, denn sie kannte sich ja mit den Weinen aus, war sie doch früher schon mal in der Organisation des Offenburger Weinmarkts oder der Badischen Weinmesse tätig gewesen.

Langsam kehrte bei diesen Köstlichkeiten bei der OIL-Gruppe wieder etwas Leben ein und hin und wieder hörte man auch ein leises Kichern. Zu späterer Stunde war es dann auch ein lautes Lachen. An Winterschlaf war nicht zu denken, fand Ulla Sommer.

Zum Nachtisch gab es ein wunderbares Soufflé mit Früchten, Eis und Sahne und dazu eine Gewürztraminer-Auslese. Ein wirklich einmaliges Bukett zeichnete diese Auslese aus, die honiggelb im Glas schlummerte und auf der Zunge wie ein samtig-warmes Zückerle schmeckte. Ulla musste unwillkürlich an ihre Kindheitserinnerung mit einer süßen, rahmigen Speise in der Dose, dem ‚Milchmädchen‘ denken, das zum Nachtisch oder für den Kaffeegenuss gereicht wurde. Dieses ‚Milchmädchen‘ weckte in ihr Heimatgefühle und irgendwie brachte diese Auslese auch so eine wunderbare Süße auf ihren Gaumen, die so ein wohlig-warmes Gefühl bei ihr auslöste. „Ach, wie schön wäre es jetzt im Paradies zu sitzen und dazu diese herrliche Gewürztraminer-Auslese zu genießen. Ihr Mann Wilhelm mochte diese edelsüßen Weine nicht. Viel davon trinken kann man nicht, aber einfach daran nippen, wie an verbotenen Früchten, das war schon ein himmlischer Genuss.

„Ob es diese ‚Milchmädchen-Dose‘ überhaupt noch gibt?“, fragte sie sich und ein paar Tränen traten in ihre Augen, als sie an ihre Jugendzeit dachte. Doch zu ihrer Zufriedenheit hatten die paar Tränentropfen niemand bemerkt, denn alle waren mit dieser Gewürztraminer-Auslese beschäftigt, die die Zunge vielleicht weiter öffnete.

So machten alle nur verzückte Augen, keiner sprach ein Wort und diese ausgezeichnete Auslese löste aber auch nicht die Zunge, obwohl dies in dieser vertrackten Situation vielleicht besser gewesen wäre. Keiner dachte mehr an den toten Axel Lehmann, der in diesem Eiskeller lag und keiner wollte auch nur daran erinnert werden an diesen Namen Thilo oder Timo. Diese Gewürztraminer-Auslese hatte es auch in sich. Der Wein benetzte nur zaghaft die Lippen von Ulla Sommer.

Den Gästen ging es, was das königliche Menü und die dazu ausgewählten Weine betraf, einfach hervorragend, wie sie feststellte. Doch was in ihren Seelen vorging, das konnte niemand erkennen. Selbst wenn ein Seelsorger hier gewesen wäre, er hätte nie sagen können, ob die Menschen ausnahmsweise alle glücklich waren. Selbst die herrlichsten Speisen und die bestens ausgesuchten Weine hatten nicht vermocht, die Seelen dieser Gäste zu lockern. Darauf hatte wohl der Millionär gehofft, gewartet und spekuliert, überlegte sie weiter.

„Dieser Koch ist geradezu genial“, murmelte sie zu den Herren Bloch, Rehlein und Neurer.

Alle nickten nur mit ihren Köpfen und widmeten sich der herrlichen Nachspeise und dieser einmalig genussvollen Gewürztraminer-Auslese.

Als es gerade so schön und wohlig-warm in diesem Grand Salon war, alle Gäste nun gemütlich beisammen saßen, stürzte wieder dieser unbeholfene Hoteldirektor unheilverkündend herein. Wie ein Unglücksrabe wirkte er mit seiner leichenblassen Miene, die nur auf eine rabenschwarze Botschaft schließen ließ.

Ulla Sommer sah nur den Hoteldirektor taumelnd hereinkommen, oder taumelte sie selbst ein bisschen von dieser glückseligen Auslese, als sie aufstehen wollte beim Anblick des Hoteldirektors. Sie wollte schon einen Schrei ausführen, als fast ihr letztes Stück Soufflé noch in ihrem Hals steckengeblieben war. Dann musste sie kräftig husten und niesen und fast wäre ihr dieses letzte köstliche Soufflé-Stück auch noch aus dem Mund gefallen.

Sie hob nur leicht ihren Finger und deutete auf Monsieur Laurent. Doch da hatten auch schon die anderen Gäste den leichenblassen Philippe Laurent erblickt.

„Es gibt wieder einen Mord!“, flüsterte Laurent nur, der stumm auf einen leeren Platz an Tisch Eins deutete. Wieder fehlte eine Person an Tisch Eins.

Sie hatte gar nicht bemerkt, dass überhaupt jemand an ihrem Tisch aufgestanden war. Sie war so mit ihrem Nachtisch und der Auslese beschäftigt gewesen und mit ihren Gedanken, die sie mit der Badischen Weinmesse in Erinnerung brachte, dass sie überhaupt nichts bemerkt hatte. Sie schwelgte noch ein bisschen in ihren Erinnerungen, die ihr noch geblieben waren.

Fast wie damals bei dem herrlichen Menu oenologique bei der Badischen Weinmesse!, dachte sie nur. Doch dann wurden ihre Gedanken durch den leichenblassen Monsieur Laurent abrupt unterbrochen.

„Das ist doch Arnim Hermann, der fehlt“, bemerkte sie leise zu ihrem Nachbarn Albert Rehlein. Sie starrte nur auf seine im Rollstuhl sitzende Frau Renate, die anscheinend auch nichts mitbekommen hatte.

„Mein Mann ist nur kurz auf die Toilette gegangen!“, entgegnete Renate Hermann und schaute bestürzt und etwas vorwurfsvoll zu den Anwesenden, als hätten sie Schuld an diesem zweiten Mord.

„Wer sollte denn meinen Mann umbringen wollen?“, ereiferte sie sich.

Auch Ulla Sommer dachte, dass dieser Arnim Hermann doch eine unscheinbare Person war mit seinem Lockenkopf. Weshalb sollte man diesen Mann umbringen, war auch ihr erster Gedanke?

Wie am Abend zuvor sprangen wieder Rehlein und Bloch auf und wollten den toten Hermann sehen.

Dann marschierten wieder alle gemeinsam zum Tatort.

Eine blutrote Lache gab es direkt am Eingang zur Toilette und in dieser lag Arnim Hermann. Diesmal hatte der Mörder wohl kräftiger und mehrmals zugestochen, so dass diese Blutlache viel größer war als beim ersten Mord, und er hatte wieder von hinten zugestochen. Und das mit großer Wucht.

„Wir müssen die Leiche wieder in den Eiskeller schaffen“, ordnete der Hoteldirektor stereotyp an. Also ging das ganze Procedere genauso wieder los wie am vorigen Abend. Ulla Sommer und auch die umstehenden Gäste, wie Claudine Meister oder Karl Feistel, Annette Fischer und Ansgar Hoch, schauten alle nur bestürzt drein. Keiner konnte diese groteske Situation richtig einschätzen.

Aber diesmal wollte sich Ulla Sommer nicht damit zufrieden geben, dass keine Polizei gerufen werden sollte.

„Sie sagen jetzt nicht wieder, dass Sie die Polizei in Zürich nicht erreichen können!“, rief sie lautstark zum Hoteldirektor, der sich ihr zuwandte und sie mit kritischen Augen musterte, sodass sie sich richtig duckte und Angst vor diesem Blick bekam.

„Es gibt noch Handys und damit können Sie anrufen“, meinte sie nur kurz und holte schon gleich ihr Handy etwas provozierend hervor.

„Probieren Sie doch mal Ihr Handy aus, Madame!“, fügte er anzüglich hinzu. „Es geht nicht. Wir haben seit heute keine Verbindung mehr. Es hat einen heftigen Sturm gegeben und dieser Handy-Mast steht nicht mehr, er ist umgeknickt, wie eine faule Banane.“

Ulla Sommer wurde es schwarz vor ihren Augen, als sie dies vernommen hatte.

„Was können wir tun?“, brachte sie mühsam hervor.

Laurent schüttelte nur seinen Kopf und meinte, dass man gar nichts tun könne. Die Naturgewalten haben nun die Oberhand, damit müssen wir uns abfinden. Hoffentlich gehen nicht noch weitere Muren und Moränen ab und treffen direkt auf unser Hotel. Solche Naturgewalten gab es immer schon und wird es immer wieder geben. Denken Sie doch nur an die Wasserfluten im Ahrtal. Da ist kein Haus stehengeblieben. Oder in den Alpen. Wie oft musste man sein Hab und Gut zurücklassen und irgendwo neu wieder anfangen. Wenn einmal diese Gewalt über uns hereinbricht, dann sind wir Menschen gegen die Natur hilflos. Die Natur holt sich immer wieder zurück, was wir ihr entrissen haben.