Die Füchsin

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4 Juni

Va­le­rie klopft, war­tet aber nicht auf ein Her­ein, be­vor sie die Tür öff­net. Vik­tor sitzt hin­ter sei­nem rie­si­gen, un­auf­ge­räum­ten Schreib­tisch. Das Büro ist an­ge­nehm kühl. Er er­hebt sich und schließt sein zwei­fel­los nicht von der Stan­ge ge­kauf­tes Ja­ckett, als sie ein­tritt.

Wie gut er aus­sieht, denkt sie.

Mit ei­nem kaum un­ter­drück­ten Ta­del in der Stim­me sagt er: »Du hast es mal wie­der ge­schafft, uns alle in Atem zu hal­ten.«

Va­le­rie ver­zieht die Lip­pen.

»Das hält dich so un­ver­schämt jung.«

Sie strahlt ihn an. Sie weiß, dass er sich är­gert, wenn sie Ter­mi­ne nicht ein­hält.

Er geht drei Schrit­te auf sie zu, küsst sie auf den Mund und legt eine Hand be­sitz­er­grei­fend auf ih­ren Rü­cken. »Wann se­hen wir uns mal wie­der au­ßer­halb die­ses Bü­ros? Ich könn­te heu­te in der Stadt blei­ben.«

Zu forsch für ih­ren Ge­schmack. Sie löst sich von ihm und nimmt Platz auf dem Stuhl vor sei­nem Schreib­tisch. Das gibt ihr die nö­ti­ge Di­stanz. Sie will sich nicht noch ein­mal mit ihm ein­las­sen. Er war nichts als eine Af­fä­re, re­det sie sich ein, und doch hat die Tren­nung von ihm Spu­ren hin­ter­las­sen. Sie will nicht an sei­ne Frau und sei­ne Kin­der den­ken. Ihr fällt den­noch die wei­ße Vil­la an der Elb­chaus­see ein, mit ei­nem traum­haft schö­nen Blick auf die Elbe. Va­le­rie hat kein schlech­tes Ge­wis­sen. Sie lä­chelt. Ihre mo­ra­li­schen Stan­dards sind nicht ge­ra­de an­ti­quiert. Wenn sie ehr­lich ist, zieht sie Af­fä­ren mit ver­hei­ra­te­ten Män­nern vor. Sie re­den nicht über ihre Er­obe­run­gen und ge­hen nach an­ge­mes­se­ner Zeit wie­der. Nichts von Dau­er.

»Wie geht es dei­ner Frau und den Kin­dern?«, fragt sie, statt sei­ne Fra­ge zu be­ant­wor­ten.

»Ich hab’s ver­stan­den«, sagt er lä­chelnd. »Wie geht es dei­nem Kat­zen­mann?«

Nur noch Kat­ze, kein Mann, denkt sie. Sie ant­wor­tet nicht.

Er nimmt das neue Ex­posé vom Tisch. »Du bist ja flei­ßig. Ich lese es durch. Hat Ruth es schon ge­se­hen?«

»Wir ha­ben kurz dar­über ge­spro­chen.« Va­le­rie weiß, wie viel Vik­tor von der Mei­nung sei­ner Chef­lek­to­rin hält. Ruth hat ein gu­tes Ge­spür für die The­men der Zeit und eine untrüg­li­che Nase, was bei Va­le­ries Le­se­r­in­nen an­kommt.

Er nimmt einen Bo­gen Pa­pier aus ei­ner Schub­la­de und legt einen Fül­ler dar­auf. Va­le­rie un­ter­schreibt einen wei­te­ren Ver­trag.

Vik­tor be­ob­ach­tet sie beim Schrei­ben. Sie sieht be­zau­bernd aus, denkt er, und sie ist ver­dammt an­zie­hend. Va­le­rie ist ei­nes der Zug­pfer­de sei­nes Ver­la­ges. Je­des ih­rer Bü­cher wird zum Best­sel­ler. Sie be­sitzt eine ge­schlif­fe­ne Spra­che, und ihre Tex­te sind vol­ler Hu­mor. In­ter­es­sant ist die Dis­kre­panz zwi­schen den Ro­ma­nen und den Ar­ti­keln, die sie in ver­schie­de­nen Zeit­schrif­ten ver­öf­fent­licht. Dort ver­wan­delt sie sich in eine Zy­ni­ke­rin, die zwei­felt, fragt und ver­blüf­fen­de Zu­sam­men­hän­ge auf­deckt. Er liest sie aus­nahms­los.

»Dan­ke«, sagt er, als sie das Pa­pier über die Tisch­plat­te reicht. »Sagst du mir et­was über den In­halt?«

»Nein.«

Va­le­rie er­hebt sich. Der schma­le Rock ih­res är­mel­lo­sen Lei­nen­klei­des lässt nur die Fes­seln se­hen. Beim Ge­hen öff­net er sich bis zu den Kni­en. Vik­tor er­hebt sich eben­falls. Sie ist be­reits an der Tür, als er sie er­reicht.

»Lies es durch«, sagt sie, »und sag mir, was du da­von hältst.«

Vik­tor nimmt ihre Hand und haucht einen Kuss dar­auf.

»Mach ich. War schön dich zu se­hen.«

Va­le­rie ver­lässt das Ver­lags­haus. Sie geht lang­sam den Ha­r­ve­ste­hu­der­weg ent­lang. Zu ih­rer Lin­ken glit­zert die Als­ter im Son­nen­licht. Se­gel­boo­te.

Eine Post­kar­te, denkt sie, biegt in die Als­ter­chaus­see ein, über­quert den Mit­tel­weg und läuft bis zur Hal­ler­stra­ße. Die Gär­ten und Häu­ser nimmt sie kaum wahr. Am U-Bahn­hof gibt sie auf. Die neu­en Riem­chen­san­da­len drü­cken und sind nicht halb so be­quem, wie sie aus­se­hen.

»Paul­sen­platz«, ächzt sie, wirft sich in die Pols­ter des Ta­xis und löst die Riem­chen an ih­ren Fü­ßen.

»Bleibt es da­bei?« Der Ta­xi­fah­rer grinst.

»Ver­spro­chen«, sagt sie.

Den Nach­mit­tag ver­bringt sie auf dem Bal­kon. Die Pflan­zen duf­ten und glän­zen vor Näs­se. Sie träumt von ei­nem küh­len Glas Wein, ei­nem Stück Käse am Abend nur mit ih­rer Kat­ze. Aber sie ist mit Ruth ver­ab­re­det.

Va­le­rie trifft ihre Freun­din in der wei­ten Hal­le, in der auch die Le­sung vor ei­ni­gen Ta­gen statt­ge­fun­den hat. Ruth hat Kar­ten für ein afri­ka­ni­sches Tanz­the­a­ter in der Fa­brik. Tanz in­ter­es­siert sie nicht, sie geht ih­rer Freun­din zu­lie­be mit. Ruths Arm­rei­fen klir­ren, wenn sie ihr Glas zum Mund führt. Sie ste­hen an der The­ke, wo man in der Pau­se oder nach der Vor­füh­rung ein Glas Wein oder Pro­sec­co trin­ken kann.

»Er­war­test du je­man­den?« Ruth sieht sich um.

»Nein. Wie kommst du dar­auf?«

»Weil du mich den gan­zen Abend über noch nicht an­ge­se­hen hast. Statt­des­sen hast du die­sen su­chen­den Blick.«

Va­le­rie hat tat­säch­lich an ihn ge­dacht. Viel­leicht kommt er ja öf­ter hier­her?

Sie spürt eine leich­te Wär­me auf den Wan­gen und be­schließt, die hal­be Wahr­heit zu er­zäh­len. Dann denkt sie, dass es über­haupt kei­ne Wahr­heit gibt, kei­ne hal­be und auch kei­ne gan­ze. Un­wil­lig über sich selbst schüt­telt sie den Kopf.

»Also was ist?« Ruth lässt nicht lo­cker.

»Gar nichts. Ich habe bei der Le­sung neu­lich hier einen Mann ge­se­hen.«

»Aha.« Ruths Brau­en fah­ren in­ter­es­siert in die Höhe. Arm­rei­fen und Ket­ten klin­geln bei je­der Be­we­gung.

Sie sieht aus, als habe sie sich für die­sen Abend mit bun­ten Per­len und Rei­fen folk­lo­ris­tisch auf­ge­peppt, aber es steht ihr gut. Ruth kann al­les tra­gen, und sie ist un­be­streit­bar sexy. Kein Mann, der nicht einen Blick ris­ki­ert, denkt Va­le­rie.

Sie sieht an ih­rem ei­ge­nen schlich­ten schwa­r­zen Kleid hin­ab. Dazu trägt sie eine lan­ge schma­le Sil­ber­ket­te und rote Pumps. An ihr klin­gelt nichts. Sie lä­chelt. Ruth sen­det Si­gna­le an ihre Um­ge­bung: Hey Leu­te, hier spielt die Mu­sik. Und das tut sie mit Er­folg.

»Er war etwa zwei Jah­re alt«, sagt Va­le­rie jetzt »und saß auf dem Schoß sei­nes Va­ters. Ich neh­me je­den­falls an, dass es sich um den Va­ter han­del­te. Kei­ne Ah­nung, wir ha­ben nicht mit­ein­an­der ge­spro­chen.«

Sie weiß nicht, war­um sie Ruth ver­schweigt, dass sie doch mit­ein­an­der ge­spro­chen ha­ben. Es ist nicht wich­tig, denkt sie. War­um kann sie sich dann an je­des Wort er­in­nern? Adam und Ben.

Ruth, denkt sie, hat nicht be­son­ders vie­le Freun­de, aber gan­ze Ru­del von Be­kann­ten. Sie weiß nicht mehr, wie oft ihre Freun­din heu­te schon ge­grüßt wor­den ist. Ruth kennt Gott und die Welt, weiß aber ihr Pri­vat­le­ben sehr sorg­fäl­tig zu schüt­zen. Al­ler­dings kann sie mit Ge­füh­len bes­ser um­ge­hen als sie selbst.

Va­le­rie fällt plötz­lich ein, dass sie ihre Ko­lum­ne für eine Zeit­schrift nicht län­ger auf­schie­ben kann. Die Re­dak­ti­on braucht ih­ren Text mor­gen, und sie hat noch nicht ein­mal da­mit an­ge­fan­gen. Aus­ge­rech­net über Ge­füh­le soll sie schrei­ben.

»Ich muss ge­hen.«

In Ge­dan­ken ist sie schon bei der Ar­beit, die vor ihr liegt. Va­le­rie lässt sich von Ruth in den Arm neh­men, eine Kör­per­lich­keit, die sie nur we­ni­gen er­laubt. Die­se künst­li­che Herz­lich­keit hat ihr nie ge­fal­len.

5 Juli

Adam stu­diert alte Re­zep­te. In der Nacht, wenn Ben fest schläft, sitzt er über sei­nen Bü­chern. Sein kost­bars­ter Be­sitz ist ein ab­ge­grif­fe­nes schwa­r­zes Büch­lein mit der schlich­ten Auf­schrift Gift-Buch. Kein ge­druck­tes Buch, son­dern eine Klad­de, hand­ge­schrie­ben von 1534. Er liest: Step­pen­rau­te, Toll­kir­sche, Queck­sil­ber, Gift­pil­ze, Gei­fer und Gal­le von Gift­tie­ren. An Be­täu­bungs­mit­teln (me­di­ci­nae stu­pe­fac­to­riae) nennt der Ver­fas­ser: Bil­sen­kraut, Al­rau­ne, Opi­um, Gift­lat­tich und Mohn; die­se tö­ten nur bei Über­do­sie­rung. Sehr be­ru­hi­gend, denkt er.

Adam schaut auf, als Bel­la ein lei­ses Knur­ren von sich gibt. In den Ju­li­näch­ten wird es nicht wirk­lich dun­kel. Adam legt sein Heft zur Sei­te und tritt ans ge­öff­ne­te Fens­ter. Viel­leicht ein Fuchs oder ein an­de­res Tier, das sich an sei­nem Haus vor­bei­s­tiehlt. Bel­la sieht auf­merk­sam zu ihm auf.

Ist da ein Schat­ten, eine ver­stoh­le­ne Be­we­gung? Eine Wei­le bleibt er noch am Fens­ter ste­hen, aber nichts rührt sich.

»Da ist nichts, Bel­la«, sagt er.

Die Hün­din trot­tet zu­rück zum Tisch und lässt sich seuf­zend auf den küh­len Stein­bo­den fal­len. Adam nimmt eine an­ge­bro­che­ne Fla­sche Gavi aus dem Kühl­schrank, schenkt sich ein Glas ein und geht da­mit an den Kü­chen­tisch. Er setzt die Kopf­hö­rer auf und lauscht dem un­fass­bar sü­ßen So­pran der Sän­ge­rin: »Por­gi Amor … Hör mein Flehn, o Gott der Lie­be …«

Er denkt an die Frau ohne Na­men. Sie hat sich in sei­ne See­le ge­brannt. Im­mer wie­der hört er sie lei­se la­chen. Sieht ih­ren for­schen­den Blick.

Seit er Ben bei sich hat, ist Adam oft al­lein. Es über­rascht ihn, wie sehr ihm die­ses Le­ben ge­fällt. Sein Han­dy leuch­tet auf. Chris­ti­na! Auf dem Bild­schirm er­scheint ihr Ge­sicht. Das Foto hat er selbst ge­macht. Sie lacht ihn an, ihr lan­ges Haar flat­tert im Wind und ver­schwimmt im glei­ßen­den Gelb des Raps­fel­des im Hin­ter­grund. Er hat sie nicht ver­ges­sen, sie passt nur nicht mehr in sein Le­ben. Kei­ne Frau der Welt hält einen Mann aus, auf des­sen Hüf­te oder Schul­tern über Wo­chen ein klei­nes Kind hockt. Das hat sie ihm bei ih­rer letz­ten Be­geg­nung sehr deut­lich ge­macht. Er setzt die Kopf­hö­rer ab und nimmt den An­ruf an.

 

»Adam, bist du das?« Ihre Zun­ge stol­pert.

Sie ist be­trun­ken, denkt er. »Chris­ti­na.«

»Ich will dich wie­der­se­hen.«

Er denkt an die letz­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen. »Ich glau­be, das ist kei­ne gute Idee.«

»Aber ich ver­mis­se dich.«

Die­ses an­de­re Ge­sicht schiebt sich über das Chris­ti­nas, nicht so jung, aber fas­zi­nie­rend. Das Ge­sicht ei­ner Frau, die so prä­sent ist wie kei­ne, die er kennt. Er hört sie lei­se la­chen, die Na­men­lo­se. Ihr glän­zen­des Haar. Sein Puls be­schleu­nigt sich.

»Adam, bist du noch dran?«

»Was?«

»Ich könn­te mor­gen zu dir raus­fah­ren. Lass uns re­den.«

Er gibt nach. Dann legt er auf. Es ist fair, denkt er, mit ihr zu re­den.

Adam starrt auf das Han­dy. Ei­gent­lich weiß er, dass es nichts mehr zu sa­gen gibt. Als er auf­schaut, steht Ben in der ge­öff­ne­ten Kü­chen­tür.

Adam nimmt den Jun­gen auf den Arm und geht mit ihm zum Fens­ter. Sie se­hen bei­de hin­aus auf die Ap­fel­wie­sen. Ein durch­sich­ti­ger Schlei­er aus Dunst liegt über al­lem. Die frü­hen Äp­fel sind reif.

»Mor­gen pflü­cken wir Äp­fel, Ben.«

Der Jun­ge nickt ver­stän­dig.

»Und jetzt ge­hen wir bei­de schla­fen.«

Adam legt Ben in das alt­mo­di­sche Dop­pel­bett, in dem sei­ne El­tern schon ge­schla­fen ha­ben. Als er ins Bett kriecht, spürt er Bens tas­ten­de Hand auf sei­nem Ge­sicht. »Ich bin da, mein Klei­ner.«

Gleich dar­auf hört er Bens ru­hi­ge Atem­zü­ge.

Auf dem Die­len­bo­den lei­ses Kla­cken von Bel­las Kral­len. Ein Mann, ein Jun­ge und ein klei­ner Hund. Mit den Ge­dan­ken an die Ar­beit mor­gen schläft er ein.

Das Rat­tern des Trak­tors weckt Adam in der Frü­he. Er hält di­rekt vor der Haus­tür.

Das muss Han­nah sein. Han­nah ist Hin­nerks Toch­ter. Sie ist neun­zehn. Ein hüb­sches, kräf­ti­ges Mäd­chen, das nie weit über die Marsch hin­aus­ge­kom­men ist. Sie ist ei­gen­wil­lig und wiss­be­gie­rig. Ihr Va­ter hält sie für schwer er­zieh­bar. Seit dem Tod der Mut­ter ver­sorgt sie ih­ren Va­ter und hilft Adam bei der Ern­te. Hin­nerk ist ihm dank­bar, dass er sei­ne Toch­ter be­schäf­tigt. Han­nah kennt sich aus mit Pflan­zen und weiß, wie man Äp­fel pflückt, ohne den Baum zu be­schä­di­gen. Al­ler­dings ist ihm ihre An­häng­lich­keit manch­mal zu viel.

Lei­se steht er auf. Ben schläft zu­sam­men­ge­rollt wie ein Wel­pe. Adam steigt in sei­ne Ho­sen und läuft ba­r­fuß zur Tür.

Han­nah schenkt ihm ein strah­len­des Lä­cheln. Der Wind zerrt an ih­rem wei­ten Blau­mann und reißt ihr fast das Tuch vom Kopf. »Moin, Adam.«

»Moin, Han­nah.«

Er hebt den Kopf. Wei­ße Som­mer­wol­ken zie­hen schnell über den Him­mel. »Wenn wir Glück ha­ben, hält das Wet­ter.« Adam be­grüßt auch die bei­den Män­ner, die vom Trak­tor sprin­gen.

»Piet, Jan.«

»Moin.«

»Fangt auf der hin­te­ren Wie­se an und nehmt den Hän­ger aus der Scheu­ne. Ich bin in ei­ner hal­b­en Stun­de bei euch.«

Ben wird gleich auf­wa­chen. Adam geht in die Kü­che, setzt Kaf­fee­was­ser auf und nimmt Jo­ghurt und Milch aus dem Kühl­schrank. Da­nach schält er einen Ap­fel und schnei­det ihn in klei­ne Stü­cke. Die Milch füllt er in einen Be­cher. Jo­ghurt und Ap­fel­stü­cke mischt er in ei­ner Schüs­sel und gibt eine Hand­voll Ro­si­nen dar­über.

»Dada!« Ben nennt ihn sel­ten beim Na­men.

Adam lä­chelt. Dada klingt wie eine Mi­schung aus Papa und Adam.

»Moin, Klei­ner. Aus­ge­schla­fen?« Er nimmt Ben auf den Arm und geht mit ihm ins Ba­de­zim­mer. Die Win­del ist seit ein paar Ta­gen tro­cken. Er wagt nicht, es an­zu­spre­chen, des­halb fragt er ihn: »Möch­test du eine neue Win­del ha­ben?«

»Ne!« Ben schüt­telt ener­gisch den Kopf.

»Gut.« Adam nimmt Bens win­zi­ge Latz­ho­sen und hilft ihm beim An­zie­hen.

»Ap­fel flü­cken?« Ben schaut ihn fra­gend an. Er hat es nicht ver­ges­sen, und er hat ge­spro­chen.

Das wird ein gu­ter Tag, denkt Adam.

»Erst früh­stü­cken, dann ar­bei­ten«, sagt er.

6 Juli

Va­le­rie be­zahlt den Chauf­feur und steigt aus dem Taxi. Die Front des Hau­ses ist er­leuch­tet. Sie fragt sich, ob das nö­tig ist und be­ant­wor­te­te sich die Fra­ge gleich selbst mit ei­nem kla­ren Nein. Es gibt ein Wort da­für: Licht­ver­schmut­zung.

Die Mau­ern der bei­den ers­ten Eta­gen sind cre­me­fa­r­ben ge­stri­chen und noch ohne Graf­fi­ti, die obe­ren drei leuch­ten in ei­nem kräf­ti­gen Rot, nur un­ter­bro­chen von wei­ßen Fens­ter­rah­men. Es ist ein schö­nes al­tes Miets­haus. Vier klei­ne Bal­ko­ne, schwa­rz um­git­tert, hän­gen an der Vor­der­sei­te. Ihr Bal­kon, sie hat Glück, hängt an der Sei­te. Von dort hat sie den Blick auf einen be­grün­ten Platz mit ho­hen Bäu­men, ei­nem Kin­der­spiel­platz und den Ein­gang. Sie bleibt einen Mo­ment auf dem ge­pflas­ter­ten Vor­platz ste­hen. Nur zwei Woh­nun­gen sind noch be­leuch­tet. Ihre ei­ge­ne im zwei­ten Stock und die dar­un­ter, in der das jun­ge, ewig strei­ten­de Paar wohnt.

Sie kramt in ih­rer Ta­sche nach dem Hau­s­tür­sch­lüs­sel, schließt auf und tas­tet nach dem Licht­schal­ter. Dann hört sie Lärm. Sie bleibt ste­hen und lauscht. Se­kun­den spä­ter wird über ihr eine Tür auf­ge­ris­sen. Der jun­ge Mann aus der Woh­nung im ers­ten Stock rennt, ohne sie wahr­zu­neh­men, an ihr vor­bei. Lang­sam steigt Va­le­rie die Stu­fen hin­auf. Wie­der bleibt sie ste­hen. Sie hört die Frau schluch­zen. Soll sie fra­gen, ob sie Hil­fe braucht? Va­le­rie seufzt. Sie möch­te nichts als einen ru­hi­gen Abend, den sie nut­zen will, um ih­ren Ar­ti­kel zu schrei­ben. Ihr Fin­ger legt sich ganz ohne ih­ren Wil­len auf die Klin­gel ne­ben dem Schild, das ver­kün­det, dass hier Klaus We­ber und Kat­ja Vo­gel woh­nen. We­ber­vo­gel, Va­le­rie lä­chelt. Das Schluch­zen im In­nern der Woh­nung wird lei­ser und ver­stummt. Eine be­leg­te Frau­en­stim­me fragt: »Wer ist da?«

»Va­le­rie. Ich woh­ne im zwei­ten Stock. Brau­chen Sie Hil­fe?«

»Nein, ge­hen Sie!«

»Gute Nacht.« Va­le­rie kommt sich däm­lich vor. Aber sie kann ver­ste­hen, dass Kat­ja sich in dem Zu­stand, in dem sie sich zwei­fel­los ge­ra­de be­fin­det, nicht zei­gen will. Als sie ihre Woh­nungs­tür öff­net, streicht die Kat­ze maun­zend um ihre Bei­ne.

»Ich hab dich zu lan­ge al­lei­ne ge­las­sen.«

Ma­gnus hat der Kat­ze kei­nen Na­men ge­ge­ben. Sie tauft sie auch nicht. Sie denkt an Früh­stück bei Tif­fa­ny. In dem Film wird der Ka­ter auch nur Ka­ter ge­ru­fen.

Va­le­rie öff­ne­te eine Fla­sche Ba­ro­lo. Sie gießt sich ein Glas ein und setzt sich an ih­ren Schreib­tisch. Der ers­te sam­ti­ge Schluck. Auch der Wein, wie die Kat­ze, Ma­gnus‹ Hin­ter­las­sen­schaft. Die Kat­ze liegt auf dem Tisch ne­ben dem Lap­top und starrt sie aus ih­ren schö­nen Au­gen an. Va­le­rie denkt an den wun­der­ba­ren ers­ten Abend mit Ma­gnus. Er hat sie über­rascht, da­mals. Nicht dar­an den­ken, be­fiehlt sie sich. Mach dei­nen Ar­ti­kel fer­tig. Sie öff­net den Com­pu­ter, rich­tet die Sei­te ein und schreibt.

Wo wir füh­len, was wir füh­len.

Im­mer mehr Neu­ro­wis­sen­schaft­ler be­schäf­ti­gen sich in­zwi­schen mit der Fra­ge, wo sich der Sitz der Emo­ti­o­nen be­fin­det, und glau­ben Sie mir, die Ant­wort ist nicht das Herz. Herz, Ge­fühl und Lie­be ha­ben nichts mit­ein­an­der zu tun. Wenn Ihr Herz schnel­ler klopft, wenn Sie den Liebs­ten se­hen, heißt das nicht, dass die Lie­be dort ih­ren Platz hat, Ihr Herz klopft auch schnel­ler, wenn Ih­nen die S-Bahn vor der Nase weg­fährt oder Sie in Hun­de­schei­ße tre­ten. Schuld an Ih­ren Ge­füh­len sind be­stimm­te Hirn­re­gi­o­nen, nichts wei­ter …

Man könn­te so­gar sa­gen, dass die Lie­be ih­ren Sitz in der Nie­re hat …

Als Fol­ge des Ver­liebt­seins tre­ten alle an­de­ren Ge­füh­le in den Hin­ter­grund. Die Stim­mung ist ge­ho­ben, eine Viel­zahl von Bo­ten­stof­fen ver­än­dern ihre Kon­zen­tra­ti­on in Ge­hirn und Kör­per. So er­höht das wäh­rend der Ver­liebt­heit im Ne­ben­nier­en­mark aus­ge­schüt­te­te Ad­re­na­lin di­rekt den Puls. Herz­klop­fen …

Hier wan­dern ihre Ge­dan­ken doch wie­der zu Ma­gnus:

Wild­tau­be mit Ho­nig und Pap­par­del­le an wei­ßer Trüf­fel. Ma­gnus ist über­wäl­ti­gend, wenn er un­an­ge­mel­det vor der Tür steht. In ei­ner Hand ein Blu­men­s­trauß von der Grö­ße ei­nes Klein­wa­gens, in der an­de­ren eine Tüte von Le Beau Voi­sin, ei­nem an­ge­sag­ten Fran­zo­sen in Win­ter­hu­de. Der Wein ist aus Ita­li­en. Er be­wegt sich in ih­rer Kü­che, als sei es sei­ne ei­ge­ne.

Sie schließt die Au­gen. Aber nicht Ma­gnus‹ ver­trau­tes Ge­sicht er­scheint, son­ders das Adams, den sie nicht kennt. Wer bist du?

Ihr Puls be­schleu­nigt sich. Sie steht auf, um sich noch ein Glas Wein zu ho­len. Als sie zu­rück­kommt, liegt die Kat­ze auf ih­rer Ta­s­ta­tur und schnurrt mit der de­fek­ten Lüf­tung um die Wet­te. Va­le­rie hat den Text nicht ge­si­chert. Der Bild­schirm ist schwa­rz, die Kat­ze hat den Text ge­löscht.

Auch das, denkt sie, lässt das Herz schnel­ler schla­gen.

Sie muss noch ein­mal von vor­ne be­gin­nen. Va­le­rie schüt­telt die Pumps von den Fü­ßen und setzt sich ein zwei­tes Mal vor den Com­pu­ter. Die Kat­ze sieht sie vor­wurfs­voll an, als Va­le­rie ihr den Platz strei­tig macht und sie auf den Fuß­bo­den setzt.

»Böse Kat­ze. Du kannst froh sein, wenn ich dei­ne Do­sen noch öff­ne.«

Va­le­rie setzt sich ihre rie­si­ge Bril­le auf die Nase und legt die Fin­ger auf die, jetzt kat­zen­freie, Ta­s­ta­tur. Zwei Stun­den spä­ter, es ist zwei Uhr in der Nacht, schickt sie den fer­ti­gen Text an die Re­dak­ti­on der Zeit­schrift Herz und Hirn.

Sie weiß, dass Bru­no ihre Tex­te zwar schätzt, weil die Le­se­r­in­nen sie lie­ben, per­sön­lich aber ver­ab­scheut. Sie ent­spricht nicht dem ide­a­len Frau­en­bild, das der Re­dak­teur pflegt. Mit ihr kann er nicht um­ge­hen, er hält sie für eine aus­ge­mach­te Zy­ni­ke­rin. Va­le­rie lehnt sich zu­rück und streckt sich, die Bril­le legt sie ne­ben den Lap­top.

Sie tritt hin­aus auf den Bal­kon. Die Nacht ist lau, und die wei­ßen Blü­ten ih­rer Kräu­ter leuch­ten in der Dun­kel­heit. Sie streicht über die rau­blätt­ri­ge Min­ze, prompt er­reicht sie ihr un­ver­wech­sel­ba­rer zar­ter Duft. Un­ter ihr rauscht es lei­se in den Kro­nen der Bäu­me, die ein fast un­durch­dring­li­ches Dach über dem Spiel­platz bil­den. Sie zö­gert einen Mo­ment. Dann ent­schließt sie sich, ob­wohl der Wind zu­nimmt, auf dem Bal­kon zu schla­fen. Das tut sie manch­mal, wenn das Wet­ter es zu­lässt. Ein Vo­gel piepst im Schlaf. Die Ge­räu­sche der Stadt wer­den lei­ser, nur noch we­ni­ge Au­tos sind un­ter­wegs. Bis sie ein­schläft, lauscht sie dem Schnur­ren der Kat­ze auf ih­rem Bauch. Re­gen, den der Wind un­ter die Über­da­chung treibt, weckt sie.

»Ver­dammt!«

Sie sam­melt Kis­sen und De­cke zu­sam­men und flüch­tet.