Die Füchsin

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

7 Ende Juli

Adam horcht auf das Ge­wit­ter. Drau­ßen tobt der Sturm, zerrt an den Bäu­men und treibt Zwei­ge und klei­ne her­un­ter­ge­fal­le­ne Äste vor sich her. Ein Fens­ter­la­den klap­pert ver­däch­tig. Hof­fent­lich hält er. Ben sitzt im Schlaf­an­zug auf sei­nem Kin­der­stühl­chen am Kü­chen­tisch. Er schiebt ein Holz­au­to hin und her und macht die ent­spre­chen­den Brumm­ge­räu­sche. Chris­ti­na sitzt ihm ge­gen­über. Ben be­ach­tet sie nicht. Er ant­wor­tet auch nicht, wenn sie ihn an­spricht. So hat sie sich ih­ren Be­such auf dem Lan­de wohl kaum vor­ge­stellt.

Kurz vor dem Ge­wit­ter war sie auf den Hof ge­fah­ren. In ih­rem wei­ßen kur­z­en Som­mer­kleid und den High­heels eine wah­re Au­gen­wei­de. Jan und Piet ha­ben sie an­ge­st­arrt wie eine Er­schei­nung. Han­nah hat sie über­se­hen, wie nur Frau­en es kön­nen. Ben woll­te auf sei­nen Arm und ver­hin­der­te da­mit eine in­ni­ge Be­grü­ßung. Dann der ers­te Don­ner­schlag und in­ner­halb von Se­kun­den Star­k­re­gen. Chris­ti­na schaff­te es, tro­cken ins Haus zu flüch­ten. Er selbst half Han­nah und den bei­den Män­nern, die schwe­ren Ap­fel­kis­ten in der tro­ckenen Scheu­ne zu sta­peln. Ben und er sind klit­sch­nass ge­wor­den.

Nach ei­ner Du­sche steht Adam jetzt am Herd und backt Pfann­ku­chen. Zum Warm­hal­ten schiebt er sie in den Back­ofen. Er spürt Chris­ti­nas Bli­cke hin­ter sich. Sie ha­ben bis jetzt noch nicht viel ge­re­det.

Chris­ti­na nimmt eine Fla­sche Rot­wein aus ih­rer Ta­sche. »Wo ist der Öff­ner?«

Adam reicht ihn ihr. »Soll ich das ma­chen?«

»Nein, geht schon.«

Mit ei­nem lei­sen Plopp zieht sie den Kor­ken aus der Fla­sche. Sie stellt sich ne­ben ihn an den Herd, weit ge­nug ent­fernt, we­gen der Fettsprit­zer, und hält ihm ein Glas Wein ent­ge­gen.

Adam schüt­telt den Kopf. »Nein, dan­ke. Noch nicht. Ich will erst Ben ins Bett brin­gen.«

»Ist er be­hin­dert?«

»Was?«

»Er spricht nicht.«

Adam ver­harrt einen Mo­ment mit der Kel­le in der Hand. »Er heißt Ben.«

»War­um spricht er nicht mit mir?«

Adam lä­chelt. »Ich weiß es nicht. Viel­leicht stellst du ihm nicht die rich­ti­gen Fra­gen.«

Er dreht sich zu Ben. »Ben, möch­test du einen Pfann­ku­chen?«

Ben nickt. »Ja«, sagt der, »mit Ho­nig.«

»Viel­leicht soll­test du ihm mal bei­brin­gen, dass es höf­lich ist, Er­wach­se­nen zu ant­wor­ten.«

Adam spürt Zorn in sich auf­stei­gen, un­an­ge­mes­se­nen Zorn, er muss sich be­herr­schen. Er fragt sich, seit wann sie Ex­per­tin in Kin­der­er­zie­hung ist. Statt ihr die­se Fra­ge zu stel­len, sagt er so gleich­mü­tig wie mög­lich: »Höf­lich kann er spä­ter, meinst du nicht?«

»Wenn du glaubst.« Sie tritt ans Fens­ter und schaut hin­aus in den Re­gen.

Adam backt den letz­ten Pfann­ku­chen, schiebt die Pfan­ne von der hei­ßen Plat­te und holt den Tel­ler mit dem Sta­pel Pfann­ku­chen aus dem Back­ofen. Er nimmt ein Glas Ho­nig, drei Tel­ler und Be­steck und trägt al­les an den Tisch.

Chris­ti­na setzt sich und schenkt sich zum x-ten Mal Wein nach. Sei­nen Wein hat sie auch ge­trun­ken. Sie ki­chert und wirkt ziem­lich be­schwipst. »Pfann­ku­chen«, sagt sie, »habe ich zu­letzt ge­ges­sen, als ich sechs Jah­re alt war.«

In sei­ne Ge­dan­ken schiebt sich die Frau ohne Na­men. Wo mag sie ge­ra­de sein, die Füch­sin? Wann hat sie zu­letzt Pfann­ku­chen ge­ges­sen? Wenn er doch we­nigs­tens ih­ren Na­men wüss­te.

»Hörst du mir über­haupt zu?«

Er sieht Chris­ti­na an. »Ent­schul­di­ge, ich war in Ge­dan­ken bei dem Tag mor­gen«, lügt er. »Was hast du ge­sagt?«

»Bei die­sem Wet­ter kann ich nicht fah­ren. Ich wer­de hier über­nach­ten müs­sen.«

»Ja, na­tür­lich. Ich habe ge­nü­gend Platz. Du darfst dir ein Zim­mer aus­su­chen.«

Er sieht ihr an, dass sie die­se Ant­wort nicht er­war­tet hat.

»Aber, Lieb­ling, ich kann doch bei dir schla­fen. Ich will dich, Adam, ich will dich wie­der­ha­ben. Lass uns noch­mal von vor­ne an­fan­gen.«

Sie ist an­zie­hend und bild­hübsch, aber Adam spürt, dass ihr Zau­ber ihn nicht mehr er­reicht. Sie hat sich von ihm ge­trennt, nicht zu­letzt we­gen Ben. Als sei­ne Schwes­ter sta­rb und er Chris­ti­na er­klär­te, dass er den Jun­gen zu sich neh­men wür­de, hat­te sie kei­ne Be­geis­te­rung ge­zeigt.

»Bit­te, lass mich bei dir blei­ben.«

Er möch­te, dass sie auf­hört, ihn an­zu­bet­teln. Er möch­te nicht, dass sie sich wei­ter de­mü­tigt.

»Lass gut sein, Chris­ti­na. Der Platz ne­ben mir ist nicht mehr frei.«

Für einen Mo­ment ist sie fas­sungs­los. »Wer …?«, fragt sie. »Ist es die­ses Mäd­chen?«

»Han­nah, meinst du? Nein, nicht Han­nah. Lass uns nach­her re­den. Ich brin­ge jetzt die­sen jun­gen Mann ins Bett.«

Adam spürt ih­ren Blick. Er steht auf, nimmt Ben auf den Arm und ver­lässt die Kü­che. Sei­ne Ge­dan­ken sind nicht bei dem Bil­der­buch, das er sich mit Ben an­sieht. Gute Nacht, Go­ril­la, die abend­li­che Bett­lek­tü­re.

Du hät­test Chris­ti­na nicht kom­men las­sen dür­fen, denkt er. Er hat eine Hoff­nung in ihr ge­weckt, die er nicht er­fül­len will. Adam streicht Ben über die Haa­re. Du bist so tap­fer, mein Klei­ner.

»Go­ril­la schläft«, sagt Ben und deu­tet auf sein Bil­der­buch.

»Ja«, sagt Adam, »und Ben schläft jetzt auch.«

Chris­ti­na steht am Fens­ter. Sie dreht sich zu ihm um, als er die Kü­che be­tritt. »Also wer ist es?«

Jetzt schenkt Adam sich ein Glas Wein ein. Chris­ti­na hat eine zwei­te Fla­sche ge­öff­net. Er will sie nicht ver­let­zen, aber er muss ihr klar ma­chen, dass er sich um sei­ne an­de­ren Le­ben­s­um­stän­de und, noch wich­ti­ger, um Ben küm­mern muss.

»Ich will kei­ne Be­zie­hung, Chris­ti­na, es hat nichts mit dir zu tun.« Adam nimmt einen Schluck Wein und stellt das Glas auf den Tisch. »Ich will den Hof er­hal­ten …«

»Aber das kannst du doch auch, wenn wir zu­sam­men sind.« Ihre Zun­ge ge­horcht ihr schon eine Wei­le nicht mehr. »Du hast doch kei­ne Ah­nung von Kin­der­er­zie­hung, der Jun­ge ist si­cher in ei­nem gu­ten Kin­der­heim bes­ser auf­ge­ho­ben als auf ei­nem schmut­zi­gen Ap­fel­hof.«

Sie sieht ihn so fle­hend an, dass er sich für sie schämt. Das hat sie nicht nö­tig, ver­dammt noch mal! Sie macht es ihm wirk­lich schwer. Wenn sie wie­der nüch­tern ist, wird sie sich selbst und ihn has­sen. Ge­nau das, was er ver­mei­den will. Adam fragt sich ver­zwei­felt, wie er sie in ein Bett krie­gen soll, das nicht sein ei­ge­nes ist. In­zwi­schen ist sie ziem­lich hin­über. Er hofft, dass sie mor­gen nichts mehr von dem weiß, was sie heu­te Nacht ge­sagt hat.

»Komm, ich zeig dir, wo du schla­fen kannst.« Adam trägt sie ins Zim­mer sei­ner Schwes­ter. Chris­ti­na ist schwe­rer, als er ver­mu­tet hat.

Wil­lig, wie ein klei­nes Mäd­chen, hebt sie die Arme, als er ihr das Kleid über den Kopf zieht.

»Komm ins Bett«, flüs­tert sie und schlingt die Arme um sei­nen Nacken.

8 Juli

Va­le­rie wird vom Te­le­fon ge­weckt.

»Was ha­ben Sie sich denn da­bei ge­dacht?« Bru­no legt so­fort los: »Müs­sen Sie denn al­les ins Lä­cher­li­che zie­hen?«

Einen Mo­ment lang herrscht Stil­le im Äther.

»Hö­ren Sie mich, Va­le­rie?«

»Ich höre Sie sehr gut, Bru­no, Sie sind ja laut ge­nug.«

Sie zieht das La­ken vom Kör­per und schwingt die Bei­ne aus dem Bett. Wäh­rend sie auf­steht, stellt sie den Laut­spre­cher an und tapst schlaf­trun­ken ins Bad.

Sie hat nichts an­de­res er­war­tet. Bru­no, der Her­aus­ge­ber der Zeit­schrift Herz und Hirn hat Pro­ble­me mit ih­rem Stil. Zu männ­lich, zu zy­nisch. Und wä­ren sei­ne Mit­a­r­bei­ter nicht so ve­he­ment für al­les, was sie schreibt, hät­te sie kei­ne Chan­ce. Auch die Le­ser­brie­fe, die auf sei­nem Schreib­tisch lan­den, spre­chen da­für, sie wei­ter zu be­schäf­ti­gen. Der Re­dak­teur in ihm muss sie be­schäf­ti­gen, der Pri­vat­mann Bru­no lehnt sie ab. Ein Di­lem­ma. Sie lä­chelt sich im Spie­gel über dem Wasch­be­cken zu.

»Bru­no, wenn Sie den Ar­ti­kel nicht brin­gen wol­len, ich fin­de eine an­de­re Re­dak­ti­on.«

»Sie könn­ten ihn um­schrei­ben. Et­was we­ni­ger Ge­hirn, et­was we­ni­ger Zy­nis­mus, et­was mehr Ge­fühl, Sie sind doch eine Frau.«

Va­le­rie stöhnt. Je­des­mal, also im Drei-Mo­nats-Takt, die­sel­be Dis­kus­si­on.

»Was mei­nen Sie mit: Sie sind doch eine Frau?«

Sie sieht förm­lich, wie er sich die Haa­re rauft.

»Als Frau müss­ten Sie doch, ich mei­ne, also …«

»Sanf­ter sein?«, hilft sie ihm auf die Sprün­ge.

»Ja, ge­nau, Sie schrei­ben wie ein Mann.«

Sie hält kurz die Luft an. Oh nein, nicht die Num­mer.

»Und Sie mei­nen, wenn ich ein Mann wäre, dürf­te ich so schrei­ben, als Frau je­doch nicht?«

Sie hat ihn. Er ist sprach­los.

»Nein«, stot­tert er. »Ich mei­ne ja nur, dass Sie et­was we­ni­ger zy­nisch …, mei­ne Frau …«

Sie kennt Mira, sei­ne Frau. Sie kann sich nicht ge­gen ihn durch­set­zen, scheut Aus­ein­an­der­set­zun­gen, ist aber be­geis­tert, wenn je­mand an­de­res Bru­no Pa­ro­li bie­tet. Bru­no fürch­tet, dass ihre Ar­ti­kel sein schö­nes Welt­bild von zar­ten Frau­en ins Wan­ken bringt. Und er fürch­tet, nicht ganz zu Un­recht, dass Mira von ih­ren An­sich­ten an­ge­tan ist, ja, dass sei­ne ge­hor­sa­me Frau Va­le­ries An­sich­ten in­zwi­schen teilt.

»Was tun Sie da, was ist das für ein Ge­räusch?«

 

»Ich put­ze mei­ne Zäh­ne.« Va­le­rie spuckt Zahn­pas­ta ins Wasch­be­cken.

»Und jetzt brau­che ich Kaf­fee. Ma­chen Sie mit dem Text, was Sie wol­len, Bru­no, und grü­ßen Sie Mira von mir.« Sie weiß, wie sehr er es ver­ab­scheut, wenn eine Frau zu bur­schi­kos ist. Eine Frau muss Kin­der ge­bä­ren und hat sanft zu sein. Sie hat ihn ein­mal schwa­dro­nie­ren hö­ren: »Eine Frau ist für mich kei­ne Frau, wenn sie kin­der­los ist.«

Da­bei hat er sie an­ge­se­hen. Sei­ne un­g­lü­ck­li­che Frau muss­te Jah­re auf das ers­te Kind war­ten, ein Mäd­chen, und be­kam dann in schnel­ler Fol­ge drei wei­te­re.

Va­le­rie ahnt, wie sehr Mira un­ter ihm lei­det, kör­per­lich wie see­lisch. Aber Mira spricht nicht über ihre Ehe.

Va­le­rie löf­felt Kaf­fee­pul­ver in einen Be­cher und gießt hei­ßes Was­ser und kal­te Milch dazu. Die Kat­ze be­kommt eine Hand­voll Tro­cken­fut­ter und fri­sches Was­ser. Der Bal­kon ist noch feucht vom nächt­li­chen Ge­wit­ter. Sie lehnt sich ans Ge­län­der und saugt den in­ten­si­ven Duft von La­ven­del und Thy­mi­an ein. Der Spiel­platz un­ter den Bäu­men liegt ver­waist. Über ihr, in der drit­ten Eta­ge, to­ben die Zwil­lin­ge, zwei Bu­ben. Sie fragt sich, ob die­se Kin­der je­mals schla­fen. Der Lärm stört sie nicht, aber sie be­nei­det die El­tern nicht um die bei­den.

Aus dem ers­ten Stock dringt noch kein Laut. Das Paar hat sich wohl wie­der ver­söhnt, bis zum nächs­ten Streit.

Ihr Smart­pho­ne stöhnt, ein Ton, den sie ih­rer Mut­ter zu­ge­ord­net hat.

»Da ge­hen wir nicht dran«, sagt sie zur Kat­ze. Gleich dar­auf das Fest­netz.

»Ich weiß, dass du zu Hau­se bist, Va­le­rie. Geh bit­te ans Te­le­fon. Es ist wich­tig.« Es ist im­mer wich­tig, wenn Grace an­ruft.

Statt den An­ruf an­zu­neh­men, öff­net sie ihre Mails. Nur eine scheint in­ter­es­sant zu sein. Eine Ein­la­dung zu ei­nem TV-In­ter­view. Dar­über muss sie nach­den­ken. Vik­tor wäre be­geis­tert, wenn sie an­näh­me. So kurz vor Er­schei­nen ih­res neu­en Bu­ches wäre das die ide­a­le Wer­bung. Vik­tor hat vie­le Kon­tak­te. Hat er die Wer­bung lan­ciert? Egal. Sie macht sich einen zwei­ten Be­cher Kaf­fee und setzt sich an ih­ren Schreib­tisch, wie je­den Mor­gen.

Sie starrt auf die lee­re Sei­te. Der Ro­man, den sie be­gon­nen hat, ist an­ders als sei­ne Vor­gän­ger. Das Smart­pho­ne ne­ben ihr stöhnt wie­der. Sie schal­tet es auf stumm. Es fällt ihr schwer, sich zu er­in­nern, in die ei­ge­ne Ver­gan­gen­heit ein­zu­t­au­chen, wenn die Frau, die ihr die­se Ver­gan­gen­heit be­schert hat, im­mer wie­der an­ruft. Wenn ihre Mut­ter nicht …

Va­le­rie merkt, dass sie eine Schul­di­ge sucht. Im­mer wie­der kommt sie an die­sen Punkt, ob­wohl sie weiß, sie wird sich von Grace nicht lö­sen, so­lan­ge sie ihr die Ver­ant­wor­tung für ihr Le­ben in die Schu­he schiebt. Sie hat sich lan­ge ver­bo­ten, be­stimm­te Din­ge zu den­ken. Ver­drän­gen hilft nicht. Viel­leicht kann sie, in­dem sie dar­über schreibt, mit der Ver­gan­gen­heit ab­schlie­ßen? Viel­leicht hö­ren die Alb­träu­me dann end­lich auf, und die Angst­at­ta­cken?

Ein lei­ser Schrei, ein zer­knit­ter­tes Ge­sicht­chen. Jah­re ist das jetzt her. Sie war vier­zehn, als ihre Mut­ter ihr den drit­ten Stief­va­ter be­scher­te. Grace er­war­te­te stets von ihr, dass sie ge­nau­so an­ge­tan von je­dem der Neu­en war und ist wie sie selbst. In­zwi­schen hat Va­le­rie vier Stief­vä­ter und hofft, dass Grace es da­mit ge­nug sein lässt. Die Iro­nie des Schick­sals ist, dass sie aus­ge­rech­net ih­ren bio­lo­gi­schen Va­ter nie ken­nen­ge­lernt hat. Ihre Stief­vä­ter ha­ben die­se Lü­cke mehr als aus­ge­füllt.

Ha­ben sie das wirk­lich, oder re­det sie sich das nur ein? Ich habe ihn nie ver­misst, schreibt sie.

Va­le­rie hebt den Kopf und sieht durch die of­fe­ne Bal­kon­tür die Kat­ze auf dem Git­ter ba­lan­cie­ren. Wür­de eine Kat­ze einen Sturz aus dem zwei­ten Stock über­le­ben? Ein Mensch si­cher nicht.

Das Dis­play ih­res Han­dys öff­net sich. Mira, Bru­nos Frau, lä­chelt ihr ent­ge­gen. Va­le­rie nimmt den An­ruf an. Sie darf sich eine Pau­se er­lau­ben. Tau­send Wör­ter pro Tag hat sie sich ver­ord­net. Ihr heu­ti­ges Pen­sum hat sie al­ler­dings noch nicht ge­schafft. Sie si­chert ih­ren Text und klappt den Lap­top zu.

»Mira, du ret­test mich.«

Mi­ras hel­les La­chen. »Wo­vor?«

»Vor mei­nen Er­in­ne­run­gen.«

»So schlimm?«

»Schlim­mer.« Va­le­rie lacht. »Nein, nicht wirk­lich. Ich den­ke an die vier Stief­vä­ter, die Grace mir in­ner­halb der letz­ten drei­ßig Jah­re prä­sen­tiert hat.«

»Die wa­ren doch ganz nett?«

»Je­den­falls war kei­ner je­mals so takt­los wie mei­ne Mut­ter.«

»Möch­test du …«

»Nein, Mira, ich habe schon bei Ruth Dampf ab­ge­las­sen. Sag mir lie­ber, war­um du an­rufst.«

Mira seufzt. »Kön­nen wir uns zum Lunch tref­fen?«

Im Hin­ter­grund hört Va­le­rie Kin­der­stim­men.

»Na­tür­lich.« Va­le­rie schiebt ih­ren Stuhl zu­rück und nimmt ih­ren lee­ren Be­cher mit zum Kü­chen­tre­sen. »Wo?«

»Im elv? Wenn es dir recht ist. Bei dem Wet­ter kön­nen wir drau­ßen sit­zen und eine Klei­nig­keit es­sen.«

Zwei Stun­den spä­ter sitzt Va­le­rie mit ih­rer Freun­din auf der Ter­ras­se des Re­stau­rants an der Elb­chaus­see. Das Was­ser der Elbe plät­schert ge­müt­lich ge­gen die Stei­ne des Ufers. Va­le­rie isst ka­na­di­schen Räu­cher­lachs in Ho­nig-Dill-Sau­ce mit Kar­tof­fel­rös­ti. Mira sto­chert in ei­nem ge­misch­ten Sa­lat mit ge­grill­ter Hähn­chen­brust. Sie macht tap­fer die tau­sends­te Diät, denkt Va­le­rie. Für Bru­no muss sie nicht nur Kin­der ge­bä­ren, son­dern auch noch schlank sein. Ihr Blick wan­dert über den fast schmerz­haft silb­ri­gen Strom zum an­de­ren Ufer. Sie wühlt in ih­rer Ta­sche, bis sie die Son­nen­bril­le fin­det.

»Also, sprich mit mir«, for­dert sie ihre Freun­din auf. »Was ist los?«

Mira legt die Ga­bel auf ih­ren Tel­ler. »Er will noch ein Kind.«

Va­le­rie hört auf zu kau­en. »Bit­te?«

»Du hast ganz rich­tig ge­hört. Vier sind drei zu viel. Und dann noch eins, das ist eine Zu­mu­tung.« Mira seufzt.

»Er kann dich kaum zwin­gen, Mira. Wach auf! Das ist doch auch dei­ne Ent­schei­dung.«

»Ja, aber …«

»Nix aber, ich wür­de ihn in sei­ne Blü­ten­blät­ter tre­ten.«

Mira reißt die Au­gen auf und bricht in schal­len­des Ge­läch­ter aus.

»Bru­no soll­te mal eine Wo­che mit dir ver­hei­ra­tet sein.«

Va­le­rie macht eine ab­weh­ren­de Ges­te. »Lie­ber nicht. Wir hat­ten heu­te schon das Ver­gnü­gen. Eine hef­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zung we­gen mei­nes neu­en Tex­tes für die nächs­te Aus­ga­be von Herz und Hirn

Mira be­stellt Cham­pa­gner, ihr Lieb­lings­ge­tränk, dem Va­le­rie nicht so viel ab­ge­win­nen kann. Sie trinkt ihn Mira zu­lie­be.

»Ich könn­te heim­lich die Pil­le neh­men und be­haup­ten, un­frucht­bar zu sein.«

Va­le­rie schüt­telt den Kopf. »War­um sagst du nicht ein­fach die Wahr­heit? Wenn es denn die Wahr­heit ist.«

»Was meinst du da­mit?«

»Viel­leicht willst du doch noch ein­mal schwan­ger wer­den?«

»Nein«, sagt sie, »das will ich wirk­lich nicht.«

Mira winkt dem Kell­ner. Sie zahlt und er­hebt sich nach ei­nem Blick auf ihre Arm­band­uhr.

»Soll ich dich nach Hau­se fah­ren?«

In­zwi­schen ist die Son­ne ge­sun­ken und ver­wan­delt das Sil­ber des Was­sers in Gold.

»Ich bin mit dem Fahr­rad hier. Das soll­test du auch mal pro­bie­ren, dann dürf­test du auch Kar­tof­fel­rös­ti es­sen.«

Mira stöhnt. »Der Spruch hat mit noch ge­fehlt.«

Sie um­armt Va­le­rie und steigt in ih­ren SUV. Bei vier Kin­dern, viel­leicht bald fünf, braucht sie den auch.

Va­le­rie fragt sich, wäh­rend sie zum Je­nisch­park hoch­stram­pelt, wie Mira sich ent­schei­den wird. Ob sie sich of­fen weh­ren wird oder heim­lich die Pil­le wei­ter­nimmt? Sie er­reicht Hoch­rad und biegt kur­ze Zeit spä­ter in die Max-Brau­er-Al­lee ein. Als sie am Paul­sen­platz an­kommt, steht die Son­ne schon tief. Va­le­rie stellt ihr Fahr­rad un­ter dem Schild ab, das ver­bie­tet Fahr­rä­der, Kin­der­wa­gen, Kin­der­spiel­zeug und Rol­ler hier ab­zu­stel­len. Kei­ner der Haus­be­woh­ner hält sich dar­an oder regt sich dar­über auf, au­ßer dem al­ten Zau­sel un­ter dem Dach, der we­der das eine noch das an­de­re be­sitzt.

Sie steigt hin­auf in ihre Eta­ge. Mira, denkt Va­le­rie auf dem Weg nach oben, ist har­mo­nie­süch­tig. Sie wird sich nicht mit Bru­no aus­ein­an­der­set­zen.

Die Kat­ze maunzt schon hin­ter der Tür.

»Hast du mich ver­misst?«

Ihr ers­ter Weg führt sie in die Kü­che. Sie öff­net eine Dose Kat­zen­fut­ter, kippt den In­halt in einen Blech­napf und stellt ihn auf den Fuß­bo­den. Im Schlaf­zim­mer ent­le­digt sie sich ih­rer Schu­he und geht mit blo­ßen Fü­ßen auf den Bal­kon. Die Pflan­zen brau­chen drin­gend Was­ser. Vom Spiel­platz drin­gen Kin­der­stim­men und Hun­de­ge­bell zu ihr em­por. Sie sieht auf die Uhr. Zeit für ein Glas Wein. Sie packt ein paar Krä­cker, ein Stück Zie­gen­gou­da und grü­ne Oli­ven auf einen Tel­ler. Da­mit lässt sie sich auf dem Bal­kon nie­der und sieht zu, wie der Him­mel sich rosa ver­färbt. Kein gu­tes Wet­ter mor­gen.

9 Ende Juli

Adam er­wacht und stellt er­leich­tert fest, dass er im ei­ge­nen Bett liegt und nicht Chris­ti­nas Drän­gen nach­ge­ge­ben hat. Sei­ne Träu­me ha­ben ein an­de­res Sze­na­rio ab­ge­bil­det. Er will nicht an den gest­ri­gen Abend den­ken und ver­drängt die Traum­bil­der, in de­nen Chris­ti­na eine tra­gen­de, re­spek­ti­ve lie­gen­de Rol­le in­ne­ge­habt hat.

»Schläfst du, Dada?« Sein rech­tes Au­gen­lid wird vor­sich­tig nach oben ge­zo­gen. Ben schaut ihn an. »Wach«, sagt er zu­frie­den.

Adam zieht den Klei­nen an sich. »Gut ge­schla­fen?«

Ben nickt eif­rig und gibt ihm einen feuch­ten Kuss.

»Und jetzt frisst dich das Kro­ko­dil«,

Adam greift blitz­schnell wie­der nach ihm und kit­zelt ihn durch, bis sie bei­de au­ßer Atem sind. Bens La­chen ent­schä­digt Adam für al­les, was er für ihn auf­ge­ge­ben hat.

Was ge­nau hat er ei­gent­lich auf­ge­ge­ben? Einen Job bei ei­nem Dok­tor­va­ter an der Uni, der sei­ne Er­kennt­nis­se bei der For­schung für sei­ne ei­ge­nen aus­gab? Fünf­und­zwan­zig über­teu­er­te Qua­drat­me­ter in der Schan­ze, eine Bude, vor der Tag und Nacht Ver­kehrs­lärm zu hö­ren war? Er er­in­nert sich an Tage, die nicht en­den, an schlaf­lo­se Näch­te, an Freun­de, mit de­nen er bis zum Mor­gen in den Knei­pen trank. Jetzt sinkt er am Abend tod­mü­de, er­schöpft und zu­frie­den ins Bett. Stil­le hüllt ihn ein. Er weiß, was er ge­tan hat. Ihm fehlt nichts, er sucht nichts, er hat et­was Neu­es ge­fun­den, das ihn völ­lig aus­füllt.

Flüch­tig sieht er Se­me­les lä­cheln­des Ge­sicht vor sich. Was wür­de sei­ne Schwes­ter sa­gen, wenn sie ihn jetzt sähe? »Ich habe im­mer ge­sagt, an dir ist ein Gärt­ner ver­lo­ren­ge­gan­gen.«

Nein, er hat nichts auf­ge­ge­ben, er hat et­was be­kom­men.

»Dada!« Ben zerrt an sei­ner Hand.

»Ich kom­me«, sagt Adam.

Er nimmt Ben auf den Arm und geht mit ihm in die Kü­che. Bel­la we­delt ihm ent­ge­gen. Von Chris­ti­na ist nichts zu hö­ren und zu se­hen, sie scheint noch zu schla­fen.

Sie wird Kopf­schmer­zen ha­ben, denkt er.

Adam füllt Bel­las Napf. Ben hockt sich ne­ben das Hünd­chen und schaut ihm beim Fres­sen zu. Adam be­rei­tet für Ben Jo­ghurt mit Obst zu. Für sich selbst legt er Speck in eine Ei­sen­pfan­ne und schlägt drei Eier dar­über.

»Das riecht sehr le­cker.« Han­nah er­scheint lä­chelnd in der of­fe­nen Kü­chen­tür.

»Moin«, sagt Adam.

Han­nah hat sich ein Tuch ums Haar ge­bun­den und sieht in ih­rem bun­ten Som­mer­kleid rei­zend aus.

»Gu­ten Mor­gen.« Chris­ti­nas Auf­tritt ist eher auf­rei­zend. Sie trägt nichts au­ßer ei­nem win­zi­gen Schlüp­fer und dunk­len Rin­gen un­ter den Au­gen. Sie drän­gelt sich an Han­nah vor­bei, geht auf Adam zu und küsst ihn auf den Mund. »Wo ist das Ba­de­zim­mer?«

»Zwei­te Tür links«, sagt er und reißt die Pfan­ne vom Herd. »Ver­dammt!« Er öff­net den Müll­ei­mer und kippt den ver­kohl­ten In­halt hin­ein. »Was gibt’s?«

Han­nah steht im­mer noch wie er­starrt in der Tür, als die Ba­de­zim­mer­tür sich hin­ter Chris­ti­na schließt. Sein Han­dy brummt auf der Tisch­plat­te. Jetzt nicht, denkt er. Han­nah be­wegt sich wie­der.

 

»Also, was willst du?«

»Papa hat Zahn­schmer­zen, er muss zum Arzt.«

Auch das noch! Adam seufzt. »Macht nichts. Ich fahr nach­her die Be­stel­lun­gen selbst raus.«

»Ich kann mit­kom­men, wenn …«

»Nee, lass mal. Küm­me­re dich um Hin­nerk. Sag ihm gute Bes­se­rung.«

»Hat sie dich rum­ge­kriegt?«

»Was meinst du?«

Han­nah nickt in Rich­tung Ba­de­zim­mer. »Der Hun­ger­ha­ken da.«

»Was geht das dich an?«

Han­nah sieht ihn wü­tend an, dreht sich um und ver­lässt mit stei­fem Rü­cken die Kü­che. Ihr Kör­per drückt ab­grund­tie­fe Ver­ach­tung aus.

»Bis mor­gen«, ruft Adam ihr hin­ter­her.

»Viel­leicht.«

»Wei­ber«, sagt Adam ge­nervt. Aber er weiß, dass Han­nah am nächs­ten Tag da sein wird. Er hört ein Mo­ped da­von­fah­ren.

»Wei­ber.« Ben wie­der­holt das neue Wort.

»Alle.«

Ben schiebt sei­nen Tel­ler von sich weg, steigt vom Stuhl und krab­belt un­ter den Tisch zu Bel­la. »Wei­ber«, sagt er zu der Hün­din.

Adam grinst in sei­nen Kaf­fee­be­cher.

»Ist sie weg, dei­ne Klei­ne?« Chris­ti­na be­tritt mit ge­schürz­ten Lip­pen, voll­stän­dig an­ge­zo­gen die Kü­che.

Bel­la knurrt lei­se un­ter dem Tisch.

Ben mur­melt: »Wei­ber.«

»Sie ist nicht mei­ne Klei­ne. Setz dich. Kaf­fee? Eier und Speck? Jo­ghurt?«

»Nur Kaf­fee.«

Er fragt sich, wie Frau­en es schaf­fen, so zu tun, als sei nichts ge­we­sen. Ihm ist der Abend noch pein­lich ge­nau in Er­in­ne­rung.

»Ha­ben wir … Ich mei­ne, du weißt schon …«

»Nein?«

»Ich war heu­te früh nackt und kann mich nicht er­in­nern, mich aus­ge­zo­gen zu ha­ben.«

»Ich habe dir das Kleid aus­ge­zo­gen, und nein, wir ha­ben nicht mit­ein­an­der ge­schla­fen.«

Adam stellt einen Be­cher Kaf­fee vor Chris­ti­na auf den Tisch. Ich schla­fe nicht mit be­trun­ke­nen, fast weg­ge­tre­te­nen Frau­en, denkt er.

Sie sucht in sei­nem Ge­sicht nach der Wahr­heit. »Zeigst du mir dei­ne Gärt­ne­rei?«

»Nein, Chris­ti­na, heu­te nicht. Wir ha­ben viel zu tun. Und nun ist auch noch Hin­nerk aus­ge­fal­len.«

»Wer ist das?«

»Der Va­ter von Han­nah. Er hilft mir, die Be­stel­lun­gen zu den Kun­den zu fah­ren. Heu­te muss ich das selbst ma­chen, und ich bin schon spät dran.«

»Dann ein an­der­mal«, sagt Chris­ti­na er­staun­lich sanft.

Erst als er ih­rem Wa­gen nach­sieht, merkt er, dass sie ihn über­töl­pelt hat. Sie hat »ein an­der­mal« ge­sagt und da­mit einen nächs­ten Be­such in Aus­sicht ge­stellt. Er hat nicht nein ge­sagt. Wir Män­ner sind manch­mal er­staun­lich blöd.

Adam nimmt Ben an der Hand und geht mit ihm in die Scheu­ne. Ohne Hin­nerk ist er auf­ge­schmis­sen. Die Kis­ten mit den Äp­feln kann er heu­te noch lie­fern. Aber die Kräu­ter und Bal­kon­pflan­zen müs­sen war­ten. Er wür­de je­den ein­zel­nen Kun­den an­ru­fen müs­sen, um die Lie­fer­ter­mi­ne zu ver­schie­ben.