Die Füchsin

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10 Au­gust

Va­le­rie sitzt seit Stun­den am Com­pu­ter. Sie quält sich mit ih­ren Er­in­ne­run­gen, die nur spär­lich aus ih­rem Un­ter­be­wusst­sein tröp­feln. Nichts, das sie fest­hal­ten und auf­schrei­ben kann. Sie fühlt sich wie eine Ten­nis­s­pie­le­rin, die den Ball des Geg­ners mit er­ho­be­nem Schlä­ger er­war­tet, einen Ball, der im­mer wie­der im Netz auf der an­de­ren Sei­te hän­gen bleibt.

Grace will sie nicht fra­gen. Sie wird ih­rer Mut­ter über­haupt nicht sa­gen, dass sie einen Ro­man schreibt, der au­to­bio­gra­fi­sche Züge trägt. Sie kann sich vor­stel­len, wie Grace re­a­gie­ren wür­de. Mit ei­ner Mi­schung aus Ei­tel­keit und der Furcht, dass Din­ge ans Ta­ges­licht kom­men könn­ten, die sie lie­ber im Dun­keln las­sen wür­de. Sie legt ihre rie­si­ge Le­se­bril­le ab und lehnt sich zu­rück. Wie schwie­rig es ist, ehr­lich zu sein, er­kennt Va­le­rie jetzt. Wie schil­dert man sei­ne Ge­füh­le, ohne sich völ­lig der Lä­cher­lich­keit preis­zu­ge­ben?

Sie macht sich den drit­ten Be­cher Kaf­fee und geht da­mit auf den Bal­kon. Das gel­be Fahr­rad des Brief­trä­gers steht vor dem Haus. Sie über­legt, ob sie nach der Post se­hen soll. Die Brief­käs­ten für alle Haus­be­woh­ner hän­gen un­ten im Ein­gang.

Es gibt nichts Frus­trie­ren­de­res, als vor dem Lap­top zu sit­zen und auf den viel zu hel­len un­be­schrie­be­nen Bild­schirm zu star­ren, wäh­rend man auf eine Ein­ge­bung war­tet. Va­le­rie geht am Lap­top vor­bei, ohne das Ge­rät ei­nes Bli­ckes zu wür­di­gen. Sie muss raus. Fri­sche Luft wird ihr gut­tun. Sie hat die Ein­la­dung zu ei­nem TV- In­ter­view noch nicht be­ant­wor­tet, den An­ruf ih­rer Mut­ter igno­riert und im Ver­lag noch nicht zu­rück­ge­ru­fen.

Sie zieht die Kühl­schrank­tür auf. So gut wie leer. Nur ein hal­b­es Glas Bens Blü­ten­ho­nig, ein Ge­schenk von Mira, sieht ihr ent­ge­gen, sie starrt einen Mo­ment zu­rück, lässt die Tür zu­fal­len und stellt fest, dass sie hung­rig ist. Sie hat nicht mal mehr ein Stück Brot in der Brot­do­se. Va­le­rie öff­net den Kühl­schrank noch ein­mal. Ben. Kurz blitzt das Ge­sicht­chen des klei­nen Jun­gen auf Adams Schoß auf. Sie sieht eine Ap­fel­b­lü­te und eine win­zi­ge Kar­te auf dem Schild­chen des Ho­nig­gla­ses. Dem­nach ist der Ho­nig aus der Ge­gend hin­ter We­del. Hin­ter We­del am Deich ist auch Fähr­manns­sand.

Wie lan­ge ist sie nicht mehr dort ge­we­sen?

Der Ge­dan­ke an Brat­kar­tof­feln lässt sie bei­na­he ohn­mäch­tig wer­den. Zu­letzt hat­te sie dort mit Stief­va­ter Num­mer zwei Brat­kar­tof­feln ge­ges­sen. Sie war noch in dem Al­ter, in dem man Dra­chen stei­gen lässt, er schon wie­der. Sie er­in­nert sich gut an ihn und ger­ne. Ein net­ter Mann, reich, auf arme Män­ner ließ ihre Mut­ter sich nicht ein, und sehr viel äl­ter als Grace. Er ist schon lan­ge tot. Auf ihn folg­te Stief­va­ter Num­mer drei, an ihn er­in­nert sich Va­le­rie nicht so ger­ne. Er war zu jung für ihre Mut­ter und zu alt für ihre Toch­ter.

Va­le­rie sitzt zu ih­rer ei­ge­nen Ver­blüf­fung nach dem Fund des Ho­nig­gla­ses wie­der am Com­pu­ter und dies­mal flie­gen die Ge­dan­ken un­ge­fil­tert über das Netz zu ihr. Sie hackt die Buch­sta­ben förm­lich in die Tas­ten, spürt kei­nen Hun­ger mehr, denkt nicht an die Post und un­be­ant­wor­te­te Mails, igno­riert Te­le­fon­an­ru­fe. Sie kann die­sen Text ih­rer Mut­ter nie­mals zei­gen …

Sie wäre ent­setzt. Auch wenn sie be­stimm­te Din­ge si­cher nicht mehr nur ahnt, son­dern weiß, hat sie im­mer ver­mie­den, dar­über zu spre­chen. Sie ist im Ver­drän­gen noch bes­ser als sie selbst.

Nach dem Vor­fall, wie Grace es nennt, wird Ehe­mann Num­mer drei schnell zum Ex. Nicht, ohne eine be­trächt­li­che Ab­fin­dung zu hin­ter­las­sen. Grace‹ Schei­dungs­an­walt, Ge­org, wur­de Stief­va­ter Num­mer vier. Und da­mit hof­fent­lich der letz­te. Grace ist über sech­zig. In die­sem Al­ter las­sen sich wohl­ha­ben­de Ehe­män­ner nicht mehr so leicht auf­trei­ben. Ihre Mut­ter ist ihr ein Rät­sel. Ohne Ehe­mann ist sie eine Su­chen­de. Mit ei­nem Mann an ih­rer Sei­te be­ginnt sie zu leuch­ten. Eine hin­ge­bungs­vol­le Ehe­frau, bril­lan­te Gast­ge­be­rin, per­fekt in je­der Be­zie­hung. Nur das Müt­te­r­li­che müss­te man ihr noch bei­brin­gen. Die Durst­stre­cken zwi­schen den Ehe­män­nern wa­ren, dem Him­mel sei Dank, nur kurz. Grace war und ist im­mer noch eine be­ste­chend at­trak­ti­ve Frau.

Va­le­rie streckt sich, si­chert den Text, und greift nach dem letz­ten tro­ckenen Keks ne­ben dem Ge­rät. Sie über­legt ob sie nach Fähr­manns­sand fah­ren soll. Der Abend ist mild und sie hat Hun­ger. Viel­leicht mit Ruth …? Va­le­rie be­sitzt kein Auto. Mit dem Rad ist sie in der Stadt mo­bi­ler. Au­ßer­dem, wozu gibt es Ta­xis? Sie ist so hung­rig, dass sie die Kat­ze fres­sen könn­te. Nein, sie muss so­fort … Be­vor sie nach dem Te­le­fon grei­fen kann, klin­gelt es Sturm. Und Sturm ist im­mer Ruth. Sie drückt auf die Sprech­an­la­ge und öff­net gleich­zei­tig die Tür.

Ruth mit ei­nem Ta­blett Su­shi. »Das müs­sen wir schnell es­sen, sonst wird es schlecht.«

»Du ahnst nicht, wie schnell ich es­sen kann.« Va­le­rie um­armt die Freun­din. »Wo­her wuss­test du, dass ich am Ver­hun­gern bin?«

Sie geht in die Kü­che um Glä­ser und Weiß­wein zu ho­len. Als sie zu­rück­kommt, er­starrt sie. Ruth steht vor dem Lap­top und sieht auf den Schirm. Sie wen­det sich ihr zu. »Was ist das für ein Vor­fall, von dem du …«

Mit zwei Schrit­ten ist Va­le­rie bei ihr und klappt den Lap­top zu. Ruth weicht einen Schritt zu­rück.

»Das ist nichts, nichts, was ich mit mei­ner Lek­to­rin schon be­spre­chen möch­te.«

So ab­wei­send hat Ruth Va­le­rie sel­ten er­lebt. »Ent­schul­di­ge, der Kas­ten stand of­fen ich dach­te nicht, dass …«

»Ver­giss es, ich bin noch nicht so weit, um über den Text zu spre­chen.«

»Ver­ste­he.«

Va­le­rie stellt die Glä­ser ne­ben das Ta­blett mit Su­shi. Und lässt sich in einen der be­que­men Bal­kon­stüh­le fal­len. Sie stöhnt auf, als sie das ers­te Fisch­röll­chen in den Mund schiebt. »Du ret­test mir das Le­ben.«

»Darf ich dich dar­an er­in­nern, dass der Ver­lag drin­gend auf den nächs­ten Ro­man von dir war­tet. Das al­lein ist der Zweck die­ser Le­bens­ret­tung.«

Va­le­rie lacht und greift nach ih­rem Glas. »Ich ahn­te, dass du Hin­ter­ge­dan­ken hast.«

»Ich soll dich von Vik­tor grü­ßen. Er will wis­sen, ob du das an­ge­frag­te In­ter­view an­nimmst.«

»Ich den­ke schon, aber ich habe noch nicht zu­ge­sagt. Das ma­che ich mor­gen.«

Der süß­li­che Duft von nicht ganz le­ga­lem Räu­cher­werk zieht kaum merk­bar durch die Luft. Ruth beugt sich übers Ge­län­der.

»Dei­ne Halb­star­ken ha­ben den Spiel­platz über­nom­men.«

Va­le­rie schaut auf ihre Uhr und nickt. Zwei­und­zwan­zig Uhr. Sie gähnt.

»Ich wür­de auch ger­ne mal wie­der eine rau­chen.«

Sie er­in­nert sich, dass sie ihre Zi­ga­ret­ten und das Feu­er­zeug auf dem Tisch hat lie­gen­la­sen, an dem sie Adam ge­trof­fen hat. Woll­te sie ihm da­mit sa­gen, dass sie ihn wie­der­zu­se­hen wünscht? Freud hät­te es ver­mut­lich so in­ter­pre­tiert.

Ruth lacht. Ihre Zäh­ne leuch­ten weiß in ih­rem, von blau­schwa­r­zem Haar ein­ge­rahm­ten, dunk­len Ge­sicht. »Das nächs­te Mal brin­ge ich dir, statt Su­shi, ein Sträuß­chen Can­na­bis mit.«

Bei dem Wort Sträuß­chen fällt Va­le­rie die Ap­fel­b­lü­te auf dem Eti­kett ih­res Ho­nig­gla­ses ein. Sie nimmt sich vor, nach­zu­se­hen, wo­her der Ho­nig stammt.

Nach­dem Ruth ge­gan­gen ist, sucht sie nach der Adres­se auf dem Auf­kle­ber des Ho­nig­gla­ses. Aber die ist un­le­ser­lich. Sie fragt sich, wie sie auf die Idee kommt, dass Adam der Ho­nig­pro­du­zent sein könn­te. Und sie fragt sich, was es ist, das sie so oft an die­sen Mann den­ken lässt. Der Ge­dan­ke an ihn lässt ihr Herz schnel­ler schla­gen.

Va­le­rie stellt das Glas zu­rück und geht ins Ba­de­zim­mer. Im­mer noch spukt Adam in ih­rem Kopf her­um, sie sieht sein ge­bräun­tes Ge­sicht vor sich, das auf Ar­beit im Frei­en schlie­ßen lässt. Sei­ne kräf­ti­gen, eben­falls braun­ge­brann­ten Hän­de, die den klei­nen Jun­gen fest­hal­ten, se­hen auch nicht nach Schreib­tisch­tä­ter aus.

Sie ist hun­de­mü­de, aber sie kann, wie so oft, nicht ein­schla­fen. Adam und Ben spu­ken in ih­rem Kopf her­um.

11 Au­gust

Adam fährt den Prit­schen­wa­gen auf den Hof. Er hat ei­ni­ge sei­ner Kun­den mit Äp­feln be­lie­fert. Un­ter an­de­rem ein Café in der Nähe, das eine Ap­fel­wo­che an­bie­ten will, mit Re­zep­ten, wie ihm der In­ha­ber er­klärt, in de­nen der Ap­fel eine Haup­t­rol­le spielt. Von Ap­fel­crum­ble bis ge­bra­te­nem Chi­corée und Ap­fel zu Spa­get­ti oder Ap­fel­spat­zen ist al­les da­bei.

Vor der Tür der Scheu­ne parkt ein Jeep. Er winkt. Die Fah­re­rin des Wa­gens, die ge­ra­de aussteigt, kennt er in­zwi­schen gut. Er hat sie ein­mal be­lei­digt, in­dem er ih­ren ur­al­ten Jeep als fah­ren­den Müll­hau­fen be­zeich­net hat.

Die Bie­nen­kö­ni­gin. Liz kennt sich mit Bie­nen so gut aus, wie nie­mand sonst. Sie weiß al­les über Bie­nen. Sie kommt, wann im­mer es nö­tig ist. Adam hat drei Bie­nen­völ­ker auf dem Hof vor­ge­fun­den. Ein Ste­cken­pferd sei­ner Schwes­ter. Als Bio­lo­ge kann er Bie­nen per­fekt se­zie­ren, aber wie man sie pflegt und mit ih­rer Hil­fe Ho­nig her­stellt, da­von ver­steht er nichts. Will er auch nicht, Ar­beit hat er ge­nug, ohne Ho­nig zu ma­chen. Liz kommt aus Het­lin­gen, ganz in der Nähe. Im Mai hat sie zwei der Bie­nen­völ­ker ge­teilt. Jetzt hat Adam fünf Völ­ker. Liz ist ih­ren Schütz­lin­gen nicht un­ähn­lich. Sie trägt di­cke, run­de Au­gen­glä­ser mit gel­ber Um­ran­dung. Ihr Ge­sicht ist ge­bräunt von zu viel Son­ne. Der hell­gel­be ab­ge­wetz­te Over­all, den sie ge­ra­de über Jeans und T-Shirt zieht, be­tont eine schma­le Tail­le und ein sehr weib­li­ches Hin­ter­teil. Un­ei­tel und al­ters­los. Er hat kei­ne Ah­nung, wie alt Liz ist. Ir­gen­d­et­was zwi­schen fünf­und­vier­zig und sech­zig. Ihre Stim­me ist dun­kel und weich und be­ru­hi­gend. Wil­lie, ein grau­er Misch­ling un­be­kann­ter Her­kunft, ein Tier, von Re­spekt ein­flö­ßen­der Grö­ße, springt hin­ter ihr aus dem Jeep.

 

Ben hüpft auf­ge­regt in sei­nem Kin­der­sitz auf und ab. Die ein­zi­ge Per­son, au­ßer ihm und Hin­nerk, der er sein Ver­trau­en schenkt, ist Liz.

Adam be­eilt sich, Ben aus sei­nem Sitz zu be­frei­en.

»Moin.« Liz winkt ihm kurz zu, be­vor sie mit Ben an der Hand zu den Bie­nen­käs­ten, den so­ge­nann­ten Beu­ten, geht. Wil­lie folgt den bei­den. Liz wird sich auch in Win­ter­mo­na­ten um die Bie­nen küm­mern. Sie re­det nicht viel. Viel­leicht ist das der Grund, war­um Ben sie mag. Sie fragt nichts, ant­wor­tet aber ge­dul­dig auf Bens Fra­gen.

Adam be­tritt das Ge­wächs­haus, in dem er sel­te­ne Kräu­ter züch­tet. Sei­ne Idee, klei­ne Stadt­bal­ko­ne oder Gär­ten mit blü­hen­den Kräu­tern, statt mit Blu­men zu be­pflan­zen, kommt in der Stadt gut an. Sein Blick glei­tet über die vor­ge­zo­ge­nen Pflan­zen. Ei­ni­ge sind so weit, dass er Sa­men neh­men und trock­nen kann. Hier ex­pe­ri­men­tiert er mit na­tür­li­chem Dün­ger, der ef­fi­zi­en­ter als han­dels­üb­li­cher Na­tur­dün­ger oder che­mi­scher Dün­ger wer­den soll. Pes­ti­zi­de kom­men ihm nicht ins Haus.

Adam geht hin­über zur Scheu­ne. Er packt einen Sta­pel Holz­kis­ten auf sei­nen Kas­ten­wa­gen und fährt ihn vor das zwei­te Ge­wächs­haus, wo die vor­ge­zo­ge­nen Pflan­zen, die noch vor dem Herbst ge­setzt wer­den sol­len, war­ten. Er füllt die Kis­ten mit grau­grü­nem Sal­bei, Min­ze und Thy­mi­an, win­ter­har­tem La­ven­del, Berg-Boh­nen­kraut, das an­ders, als Som­mer-Boh­nen­kraut, kal­te Tem­pe­ra­tu­ren pro­blem­los über­steht, und Ros­ma­rin.

Hin­nerk kann nach den Plä­nen, die Adam ge­zeich­net hat, ar­bei­ten. Jede der Kis­ten be­kommt ein Schild­chen mit Na­men und Adres­sen. Die Plä­ne legt er oben drauf.

Drei Bal­ko­ne und ein Stadt­gar­ten in Ham­burg war­ten mor­gen auf die Be­pflan­zung. Mehr kön­nen Hin­nerk und Piet nicht schaf­fen. Wenn sie Pech ha­ben, müs­sen sie die schwe­ren Kis­ten über zwei oder drei Eta­gen, ohne Auf­zug nach oben wuch­ten. Dazu kommt noch das Ar­beits­ge­rät und Sä­cke mit der Spe­zi­al­er­de. Bei der Hit­ze, die jetzt noch herrscht, kein rei­nes Ver­gnü­gen. In jede der Pflanz­kis­ten stellt er ein Gra­tis-Ho­nig­glas. Wenn Liz und die Bie­nen flei­ßig sind, denkt er, kann ich nächs­tes Jahr viel­leicht schon Ho­nig ver­kau­fen. Den Groß­teil der letz­ten Ern­te hat er Liz über­las­sen und nur we­ni­ge Glä­ser für den Ei­gen­be­da­rf und sei­ne Kun­den be­hal­ten. Adam schaut nach der Be­wäs­se­rungs­an­la­ge und schließt das Ge­wächs­haus hin­ter sich ab.

In Ge­dan­ken prüft er noch ein­mal sei­ne Te­le­fon­lis­te. Er hat am Mor­gen nicht alle Kun­den er­reicht, um für Hin­nerk ab­zu­sa­gen und neue Ter­mi­ne zu ma­chen. Er zieht sein Han­dy aus der Ta­sche und sucht eine Num­mer. Ein AB schal­tet sich ein. »Sprich mit mir«, hört er. Er lä­chelt. Was für eine un­ge­wöhn­li­che Auf­for­de­rung. Und eine un­ge­wöhn­li­che Stim­me.

Sie klingt in sei­nen Oh­ren wie eine Ein­la­dung, ein Flirt, ein Ver­spre­chen. Ein Ver­spre­chen wo­für? Er bit­tet um Rü­ck­ruf und er­klärt, dass Hin­nerk den Ter­min für mor­gen nicht ein­hal­ten kann.

Schon von wei­tem sieht er Ben in sei­nem wei­ßen Schutz­an­zug. Ben steht vor Liz und scheint et­was zu sa­gen. Beim Nä­her­kom­men hört er Liz: »Ho­nig­schleu­der« sagt sie lang­sam und deut­lich.

Gleich dar­auf wie­der­holt Ben feh­ler­los: »Ho­nig­schleu­der.«

Er strahlt über das gan­ze Ge­sicht­chen und läuft Adam ent­ge­gen. Adam fängt ihn auf und wir­belt ihn her­um. »Ich bin dei­ne Ho­nig­schleu­der.«

Ben kreischt vor Ver­gnü­gen.

»So«, sagt Liz, »wir sind fer­tig.«

Adam nimmt Ben auf den Arm und geht mit ihm und Liz zum Haus.

»Ich könn­te dir zei­gen, wie man sie ge­gen Mil­ben schützt und im Win­ter füt­tert.«

»Nee, Liz. Lass mal. Mir ist es lie­ber, du machst das.«

Adam weiß, wie wich­tig die Be­hand­lung ge­gen Var­ro­amil­ben ist. Sie kön­nen gan­ze Bie­nen­völ­ker aus­rot­ten, und nicht nur sei­ne ei­ge­nen, son­dern auch die der Nach­barn. Im­mer, wenn Liz da ist, es­sen sie zu­sam­men. Nor­ma­le­r­wei­se ist sie aus­ge­gli­chen und zum Re­den be­reit. Vor­aus­ge­setzt, sie re­den über Bie­nen. Heu­te je­doch wirkt sie be­un­ru­higt.

»Kann ich bei dir du­schen?«

Adam schaut über­rascht auf. »Ist dei­ne Du­sche ka­putt?«

»Ja.«

»Ja, klar. Lass mich erst mit Ben du­schen, da­nach bist du dran. Hand­tü­cher lie­gen auf dem Re­gal über der Ba­de­wan­ne.«

Ir­gend­was stimmt nicht mit Liz. Er rub­belt Bens Haa­re tro­cken und steckt ihn in ein fri­sches T-Shirt.

Adam steht am Herd. Er brät Zwie­beln in Öl an, wirft klein­ge­schnit­te­nes Ge­mü­se, Zuc­chi­ni, Boh­nen und Möh­ren in die Pfan­ne und fährt die Hit­ze her­un­ter. In ei­ner zwei­ten Pfan­ne brut­zeln rohe Kar­tof­fel­schei­ben.

Liz kommt, nach Dusch­gel duf­tend, aus dem Bad. Sie nimmt drei Tel­ler und Glä­ser aus dem Schrank und stellt al­les auf den Tisch.

»Wein steht im Kühl­schrank«, sagt Adam.

Nach dem Es­sen bringt er Ben ins Bett und setzt sich zu Liz. »Also, was ist?«

»Was soll sein? Nix is.«

»Liz.«

Adams Han­dy mel­det sich. »Ent­schul­di­ge.«

Er steht auf und geht ans Fens­ter. Hin­nerk teilt ihm mit, dass er in zwei Ta­gen wie­der fit sein wird.

»Die Ent­zün­dung ist raus«, sagt er, »und die Zahn­schmer­zen sind weg.«

»Al­les klar, Hin­nerk.«

Adam steckt das Han­dy ein. Als er sich um­dreht, ist Liz ge­gan­gen.

»Ver­dammt!« Adam seufzt. Et­was ist nicht in Ord­nung mit ihr, da ist er sich si­cher. Er lauscht dem ka­put­ten Aus­puff ih­res Jeeps nach.

Seit ei­ner Stun­de sitzt Adam am Schreib­tisch. Er schreibt Rech­nun­gen und macht Über­wei­sun­gen. Ein Blick auf die Uhr sagt ihm, dass es nach zwei­und­zwan­zig Uhr ist. Ganz schön spät für ein Kun­den­ge­spräch. Er zupft das Han­dy noch ein­mal aus der Ta­sche.

»Gar­ten­bau­fir­ma Frank.«

Stil­le.

»Hal­lo?«

»Herr Frank, ent­schul­di­gen Sie bit­te, dass ich so spät an­ru­fe, ich hat­te mit ei­nem An­ruf­be­ant­wor­ter ge­rech­net.«

Adam drückt den Hö­rer fes­ter ans Ohr. Da ist sie wie­der, die­se be­rü­cken­de Stim­me. Er hat sie schon ein­mal ge­hört, aber wo?

»Ich hof­fe, ihr Hin­nerk ist nicht krank?«

»Nichts Schlim­mes«, sagt Adam und kommt sich däm­lich vor. War­um sagt er nicht, dass Hin­nerk Zahn­schmer­zen hat? »Tun Sie ein­fach so, als sei ich der AB.«

Ihr lei­ses La­chen. »In Ord­nung. Hier ist Va­le­rie Fuchs, ich bin eine Wo­che lang auf ei­ner Ge­schäfts­rei­se. Wenn ich wie­der da bin, kön­nen wir einen neu­en Ter­min ver­ein­ba­ren. Ich mel­de mich bei Ih­nen.«

»Ge­schäfts­rei­se, was macht man da?«

»Man reist und macht Ge­schäf­te.« Wie­der die­ses La­chen. »Seit wann stellt ein An­ruf­be­ant­wor­ter Fra­gen? Gute Nacht, AB, schla­fen Sie gut.«

Da­mit ist sie weg. Er starrt sein Han­dy an, als könn­te er sie da­mit zu­rück­ho­len.

Va­le­rie, ein me­lo­di­scher Name, alt­mo­disch. Sie hat Witz. ›Gute Nacht, AB`. Er wird Hin­nerk nach ihr fra­gen. Adam geht sehr nach­denk­lich ins Bett.

Mit­ten in der Nacht wird Adam von ei­nem Ge­räusch ge­weckt, das ihm gar nicht ge­fällt. Schwe­re Schrit­te un­ter dem Dach sei­nes Hau­ses. Er lauscht noch eine Wei­le. Als sei­en Mö­bel­pa­cker un­ter­wegs. Mor­gen muss er et­was ge­gen die Mar­der un­ter­neh­men.

12 Au­gust

Va­le­rie zwingt sich, ihre Mut­ter an­zu­ru­fen. Da sie nur den AB er­reicht, steckt sie, ohne eine Nach­richt zu hin­ter­las­sen, das Smart­pho­ne wie­der ein. Sie ist oh­ne­hin an ih­rem Ziel. Vor ihr ragt rie­sig die Elb­phil­har­mo­nie auf. Sie be­zahlt das Taxi und steigt aus.

Hier, mit Blick auf die Kon­zert­hal­le, liegt das Re­stau­rant Ca­rls, ein Ab­le­ger des Ho­tel Louis C. Ja­cob an der Elb­chaus­see. Die Elbe glit­zert im Son­nen­licht. Der Som­mer ist noch nicht vor­bei. Ein ge­wal­ti­ger Con­tain­er­rie­se be­wegt sich, von Lot­sen­boo­ten be­glei­tet, den Strom hin­un­ter.

Si­mo­ne, die TV-Mo­de­ra­to­rin, mit der sie ver­ab­re­det ist, sitzt mit dem Rü­cken zur Elbe. Sie er­hebt sich bei Va­le­ries An­blick. Ihr De­si­g­ner Ko­s­tüm sitzt straff wie eine Uni­form. Ihre Stim­me bringt Glas zum Schmel­zen. Va­le­rie sieht sich un­ru­hig um. Je­der Gast an den Ti­schen um sie her­um kann ih­rem Ge­spräch fol­gen.

»Kom­men Sie, ja, kom­men Sie. Ich habe schon ge­wählt, ja, ge­wählt.« Sie setzt sich wie­der. Die Mo­de­ra­to­rin reicht ihr die Kar­te. »Si­mo­ne, sa­gen Sie Si­mo­ne zu mir.«

»Va­le­rie.«

Sie ist ir­ri­tiert. Die Frau scheint je­dem ih­rer Sät­ze Nach­druck ver­lei­hen zu wol­len, in­dem sie das Ge­sag­te wie­der­holt.

»Das Es­sen hier ist aus­ge­zeich­net, ja, sehr gut.«

Va­le­rie ver­tieft sich in die Kar­te. Sie isst sel­ten um die­se Zeit und hat auch jetzt kei­nen Hun­ger. Als der Kell­ner an ih­ren Tisch tritt, be­stellt sie Sa­la­de César mit Par­me­san und Rie­sen­gar­ne­len. »Den Speck las­sen Sie bit­te weg.«

»Sehr wohl, Ma­da­me.«

Si­mo­ne be­stellt ein Drei-Gän­ge-Menü. Va­le­rie schau­dert es. So lan­ge wird sie die Frau nicht er­tra­gen. Sie sieht auf ihre Uhr. Das Es­sen zieht sich dank der drei Gän­ge, die Si­mo­ne zu sich nimmt, wie Va­le­rie be­fürch­tet hat. Sie sitzt in­zwi­schen bei ei­nem Moc­ca, von dem sie hofft, dass er sie vor ei­ner Ohn­macht be­wahrt. Nach­dem sie zum x-ten Mal auf die Uhr ge­se­hen und ge­nug von Si­mo­nes Small Talk hat, sagt sie: »Wür­de es Ih­nen et­was aus­ma­chen, wenn wir jetzt zum Punkt kom­men. Ich bin spät dran und habe noch eine Ver­ab­re­dung.«

»Oh, na­tür­lich, na­tür­lich.«

Si­mo­ne, denkt Va­le­rie, als sie das Ca­rls ver­lässt, ist eine un­glaub­lich in­dis­kre­te Frau. Eine Frau, die mit ih­rem Wis­sen um die Pro­mis die­ser Welt nicht eben spar­sam um­geht. Sie fragt sich, was Si­mo­ne wohl von ihr er­zäh­len wird. Ein In­ter­view mit ihr kommt je­den­falls nicht in Fra­ge, auch wenn sie sich da­mit Vik­tors Un­mut zu­zie­hen wird. Vik­tor ist geil nach na­he­zu je­der Art von Wer­bung. Vor al­lem dann, wenn sie nichts kos­tet.

Wie aufs Stich­wort mel­det sich ihr Smart­pho­ne. Vik­tor!

»Und, was habt ihr aus­ge­macht?« Vik­tor mel­det sich nie mit sei­nem Na­men. Er er­war­tet, dass sie sei­ne Stim­me er­kennt und fällt je­des Mal mit der Tür ins Haus. Wie Grace.

»Gar nichts, wir ha­ben gar nichts aus­ge­macht. Die­se Frau ist un­er­träg­lich. In­ter­view ja, mit ihr, nein.«

»War­um nicht?«

»Hab ich ge­ra­de er­klärt, wir sind nicht kom­pa­ti­bel.«

Sie steckt das Han­dy in die Ta­sche, ohne sich zu ver­ab­schie­den, und biegt links ab auf Am Kai­ser­kai, als das Han­dy vi­briert.

»End­lich er­rei­che ich dich mal.« Auch ihre Mut­ter macht kei­ne Um­we­ge.

»Hal­lo, Grace.«

Va­le­rie über­legt, in die Spei­cher­stadt zu ge­hen. Die­se ro­ten Back­stein­bau­ten, die zum Welt­kul­tur­er­be ge­hö­ren, fas­zi­nie­ren sie. Nach Ta­gen der Iso­la­ti­on braucht sie fri­sche Luft und Be­we­gung. Die­ser Tag ist zu schön, um ihn wie­der vor dem PC zu ver­brin­gen.

»Bist du noch dran?«

»Ja, na­tür­lich.«

Sie über­quert eine Brü­cke. Kehr­wie­der­steg. Ein hoff­nungs­vol­ler Name für die See­leu­te, die oft mo­na­te­lang auf See sind. Gleich dar­auf biegt sie rechts ab und steht vor dem Mi­nia­tur Wun­der­land. Die gan­ze Welt im Mi­ni­for­mat. Wie lan­ge ist sie nicht mehr hier ge­we­sen? Kurz über­legt sie, hin­ein­zu­ge­hen, ver­wirft den Ge­dan­ken, als sie die Schlan­ge der War­ten­den vor dem Ge­bäu­de wahr­nimmt.

»Was hältst du da­von?«

 

»Ent­schul­di­ge, was hast du ge­sagt?«

»Ich habe dich zum Es­sen …«

»Grace, ich rufe dich an, wenn ich zu Hau­se bin. Es ist furcht­bar laut hier, ich kann dich kaum ver­ste­hen.«

Va­le­rie steckt das Ge­rät in die Ta­sche. Sie hört ge­ra­de noch ein: »Aber …«

Sie kann sich vor­stel­len, wie be­lei­digt ihre Mut­ter sein wird, wenn sie nach­her zu­rück­ruft. Da­mit stürzt sie Va­le­rie noch im­mer in Ver­zweif­lung. Grace ist in der Lage, ta­ge­lang kein Wort mit ihr zu re­den. Sie fragt sich, wen ihre Mut­ter dies­mal zum ei­nem ih­rer ele­gan­ten Es­sen ein­ge­la­den hat. Sie kann es nicht las­sen, einen at­trak­ti­ven Jung­ge­sel­len dazu zu bit­ten. Ge­org, ihr der­zei­ti­ger Ehe­mann, Stief­va­ter Num­mer vier, kann nach Be­da­rf frisch Ge­schie­de­ne her­bei­zau­bern. Er ist nicht um­sonst Schei­dungs­an­walt.

An­schei­nend ein flo­rie­ren­des Ge­schäft, denkt sie zy­nisch.

Wie dumm von ihr, Grace die Tren­nung von Ma­gnus zu ge­ste­hen, das muss­te ja ih­ren Kupp­le­rin­nen-In­stinkt ak­ti­vie­ren.

Es war Grace wich­tig, was Freun­de und Nach­barn dach­ten. Eine ver­hei­ra­te­te Toch­ter wäre ein Er­folg, vor al­lem für sie als Mut­ter. Selbst­ver­ständ­lich mit ei­nem gut si­tu­ier­ten, an­ge­se­he­nen Mann.

Va­le­rie ver­zieht die Lip­pen. Ich soll­te mir einen Clo­chard su­chen.

Ein hal­b­es Le­ben lang hat sie ge­tan, was Grace von ihr ver­lang­te. Jetzt nicht mehr, schwört sie sich. In Ge­dan­ken ver­sun­ken läuft sie bis zum Rö­dings­markt. Sie über­legt, ein Taxi zu ru­fen, ent­schei­det sich dann aber vor­her den Mi­chel, das Wahr­zei­chen Ham­burgs, zu be­su­chen. Zu­letzt ist sie im De­zem­ber dort ge­we­sen. In die­ser wun­der­schö­nen Kir­che Bachs Weih­nachts­o­ra­to­ri­um zu hö­ren, ist ei­nes der we­ni­gen vor­weih­nacht­li­chen Ri­tu­a­le, das sie noch pflegt.

Va­le­rie ist nicht gläu­big, eine Kir­che be­tritt sie nur, um Kon­zer­te zu hö­ren oder vor der Hit­ze zu flüch­ten, wie heu­te. Sie setzt sich in eine der vor­de­ren Bän­ke, die deut­lich brei­ter und be­que­mer sind, als die hin­te­ren. Das Se­nats­ge­stühl ist bei Fes­t­ak­ten, auch Trau­e­r­fei­ern, für Re­gie­ren­de vor­ge­se­hen. Sie fragt sich, ob die fei­ne­ren Leu­te emp­find­li­che­re Hin­tern als das ge­wöhn­li­che Volk ha­ben. Der licht­durch­flu­te­te Raum um­fängt sie mit wohl­tu­en­der Stil­le. Sie legt den Kopf in den Nacken und ge­ni­eßt die schlich­te Schön­heit des De­cken­ge­wöl­bes. Ver­kehrs­lärm, der nur ein lei­ses Rau­schen in den Kir­chen­raum schickt, macht die Stil­le noch stil­ler.

Ba­by­ge­schrei lässt sie hoch­fah­ren. Dies­mal ist es nicht das Schrei­en des Säug­lings, der sie in ih­ren Träu­men heim­sucht. Eine Frau schiebt einen Kin­der­wa­gen durch den Gang ne­ben ihr.

Va­le­rie er­hebt sich und flieht. Sie friert trotz der Hit­ze. Über die Taxi-App be­stellt sie einen Wa­gen. Wäh­rend sie war­tet, blickt sie zum Turm der Kir­che em­por. Sie denkt an den Text, den sie nur für sich schreibt. Ob sie ihn je­mals ver­öf­fent­li­chen wird, weiß sie nicht. Ob er ihr hel­fen wird, von ih­ren Alb­träu­men los­zu­kom­men, weiß sie auch nicht. Je län­ger sie hin­auf­starrt, des­to schnel­ler scheint der Turm auf sie her­ab­zu­stür­zen. Erst als sie das Taxi hört, wen­det sie sich ab.

Sie wird sich an den Ro­man set­zen, für den sie bei Vik­tor schon den Vor­ver­trag un­ter­schrie­ben hat. Noch hat sie kei­ne Zei­le ge­schrie­ben. Von dem Ho­no­rar, das er vor­ab zahlt, kann sie le­ben. Sie ver­mu­tet, dass er ein schlech­tes Ge­wis­sen hat. Schwei­ge­geld? Viel­leicht. Soll er sich fürch­ten. Ob­wohl er ei­gent­lich wis­sen müss­te, dass sie über ihre Af­fä­re nie­mals ein Wort ver­lie­ren wür­de. Sie mag sei­ne Frau.

Va­le­rie steigt aus dem Taxi und stö­ckelt müh­sam zur Haus­tür. Die hoch­ha­cki­gen Schu­he an­zu­zie­hen war kei­ne gute Idee. Bei die­ser Hit­ze flie­ßen ihre Füße von al­lei­ne aus den Schu­hen. Sie bleibt ste­hen, zieht die Pumps aus und läuft ba­r­fuß die Stu­fen zum zwei­ten Stock hoch. Wie im­mer sucht sie nach dem Schlüs­sel.

Von in­nen hört sie die Kat­ze maun­zen und an der Tür krat­zen. Eine häss­li­che An­ge­wohn­heit. Man kann an der Tür dunk­le Kratz­spu­ren er­ken­nen. In dem Mo­ment, in dem sie den Schlüs­sel ins Schloss steckt, hört sie Schrit­te im Trep­pen­haus. Sie hebt den Kopf und lauscht. Der alte Me­cke­rer von oben? Va­le­rie dreht den Schlüs­sel und stößt die Tür so hef­tig auf, dass die Kat­ze einen Satz rü­ck­wärts macht. Be­vor sie die Tür zu­schlägt, sieht sie die schlan­ke Ge­stalt ih­rer Nach­ba­rin nach un­ten has­ten. Was tat sie dort oben? War sie ih­rem Ehe­mann ent­flo­gen. Viel­leicht hieß sie nicht um­sonst Kat­ja Vo­gel?

Va­le­rie hebt die Kat­ze auf. Von un­ten ist nichts zu hö­ren. Ent­we­der ist der Ehe­mann nicht zu Hau­se, oder die bei­den ver­tra­gen sich zur Ab­wechs­lung mal.

Nach­dem die Kat­ze ver­sorgt ist, be­tritt sie ihr Ba­de­zim­mer. Sie hat nur noch einen Ge­dan­ken: Du­schen.

In ein wei­ßes Frot­tee­tuch gehüllt, nimmt sie ein Glas Lei­tungs­was­ser mit auf den Bal­kon. Auch die Pflan­zen brau­chen Was­ser. Sie zieht den Topf mit der wei­ßen Eu­phor­bia wei­ter nach vor­ne, so­dass sie die ein­ge­gan­ge­ne Pflan­ze da­hin­ter, de­ren Na­men sie ver­ges­sen hat, ver­deckt. Sie be­trach­tet ihre Fin­ger, die das Was­ser­glas um­span­nen, kei­ner da­von ist grün. Nein, sie be­sitzt kei­nen Grü­nen Dau­men. Be­vor sie zum Schreib­tisch geht, be­rührt sie die zar­ten Blü­ten des Zau­ber­schnees, der tat­säch­lich bis zum Win­ter blüht.

Va­le­rie setzt sich an ih­ren Com­pu­ter, ruft eine neue Sei­te auf und tippt den Ar­beits­ti­tel des Ro­mans, den sie ih­rem Ver­lag an­ge­bo­ten hat: Kö­nigs­kin­der.

Zwei Stun­den spä­ter hat sie im­mer noch kei­ne Zei­le ge­schrie­ben und stellt sich die Fra­ge, ob ihre Mut­ter sich ei­nem ih­rer vier Ehe­män­ner je un­ge­schminkt ge­zeigt hat. Sie kann sich nicht er­in­nern, Grace ein­mal ohne Make Up ge­se­hen zu ha­ben. Wie hat sie das an­ge­stellt? War sie blitz­schnell nach dem Auf­wa­chen zum Schmink­tisch ge­jumpt?

Va­le­rie tappt zum Ba­de­zim­mer­spie­gel. Was siehst du?, fragt sie sich. Mit zehn Fin­gern fährt sie sich durch die von Hit­ze und Feuch­tig­keit ge­lock­ten Haa­re. Sie bringt ihr Ge­sicht ganz nah an das Spie­gel­glas.

Halb ge­schlos­se­ne Au­gen, ge­ra­de Au­gen­brau­en. Schnell wech­seln­de Bil­der, ihr Ge­sicht wird jün­ger, so jung. Als ob sie ein Ka­len­der­blatt nach dem an­de­ren ab­reißt. Da­hin­ter im­mer sie, im­mer jün­ger, im­mer kind­li­cher. Jah­re blät­tern ab, Va­le­rie sieht sich mit fünf­und­zwan­zig, mit zwan­zig, acht­zehn, sech­zehn, fünf­zehn, vier­zehn. Nein, wei­ter zu­rück kann sie nicht, will sie nicht ge­hen. Sie reißt den Kopf hoch.

Trä­nen in ih­ren Au­gen, hin­ter ih­rer Stirn das Ge­sicht ei­nes Che­rubs.

Der Jun­ge ist schön und in sei­nem Roll­stuhl ge­fan­gen. Sie trifft ihn auf den lan­gen Kran­ken­h­aus­flu­ren, spä­ter im Gar­ten der Kli­nik, in der Grace sie un­ter­ge­bracht hat. Die letz­te klei­ne Ope­ra­ti­on, die nur eine kos­me­ti­sche ist. Ihre Mut­ter kann sich nicht mit ei­ner sicht­bar be­schä­dig­ten Toch­ter ab­fin­den. Manch­mal fragt sie sich, war­um sie sich nie­mals ge­wehrt hat.

»Ich wer­de nie mehr ge­hen kön­nen«, sagt Sa­mu­el, ihre ers­te und ein­zi­ge Lie­be.

Va­le­rie hat kei­nen Trost für ihn. Sie beugt sich zu ihm, hält sei­ne Hand und küsst ihn auf die Stirn. Sie weint. »Ich wer­de mor­gen ganz früh ent­las­sen. Mei­ne Mut­ter holt mich ab.«

Er nimmt ihr Ge­sicht in bei­de Hän­de. Von ihm be­kommt sie ih­ren ers­ten rich­ti­gen Kuss. Den ers­ten rich­ti­gen Kuss von ei­nem quer­schnitts­ge­lähm­ten Roll­stuhl­fah­rer auf ei­nem men­schen­lee­ren Kli­nik­flur. Ab­surd? Sie hat es nie so emp­fun­den.

Va­le­rie fin­det ihn am Mor­gen dar­auf. An­ge­schnallt in sei­nem lei­se schlin­gern­den Roll­stuhl, auf dem Grund des Schwimm­be­ckens. Sein lan­ges asch­blon­des Haar schwebt auf der Was­ser­o­ber­flä­che. Nie wird sie die­sen An­blick ver­ges­sen. Sa­mu­el war erst acht­zehn, als er sich er­tränkt hat.

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