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II.

Habe wieder damit begonnen, alles auch rückwärts zu lesen, zu denken, aber jetzt mache ich es auf Deutsch. esaV, relatnemmE, kramnekcüR. Mit den italienischen Wörtern von hinten kenne ich mich lange schon aus, unser Spiel auf den Schotterinseln des Tagliamento, reihum sagten wir Wörter rückwärts. Wer dabei stolperte, warf einen Stein ins Wasser, wer zehnmal geworfen hatte, schied aus. Am siebten Mai wurden es Sätze, einen Tag nach dem Beben, im Gemeinschaftszelt fand ich nicht in den Schlaf, und für das Schäfchenzählen, das Rezept meiner Nonna, war ich zu alt. Zuerst ganz kurze Sätze, dann längere, später Sätze mit Beistrich, durchs viele Üben ging es bald schneller, vor und zurück, hin und her, jeder Satz eine Wiege.

Hier in Villach sammle ich Lob wie früher Anhänger für mein Bettelarmband, Muschel, Hufeisen, Eule und Käfer, Herz, Fliegenpilz, Stiefel, Lindwurm und Vierklee. Wie gut du schon Deutsch sprichst, und fast ohne Akzent, das höre ich immer wieder von Leuten, die meine Familie nicht kennen, und dann sage ich kein Wort von meinen Kanaltaler Großeltern, nichts von den vielen Kinderbüchern auf Deutsch, nichts vom gemeinsamen Zeitunglesen mit Oma, wenn ich bei ihr in Pontebba war. Ich hänge mir das Lob einfach um, falsche Perlen, aber sie glänzen.

Metallringe kratzen die Schiene entlang, ich ziehe den Vorhang zur Seite. Im Kasten dahinter riecht es nach Großvater, er ist wach, aber er sagt nichts, selten sagt er noch etwas. An seine Stimme von früher erinnere ich mich nicht mehr, nur mehr an Heiserkeit und Husten, ich habe mich ans Flüstern gewöhnt, das geht lange schon so. Großvaters Flüstern kommt zum Teil aus dem Mund, zum Teil aus dem Röhrchen an seinem Hals. Das Röhrchen muss oft ausgeputzt werden, es ist Schleim drin, Opas Flüsterschleim.

Er hat zu viel geredet in seinem Leben, sagt Oma, die Stimme ist ihm ausgegangen, wie einer Füllfeder die Tinte. Wenn ich den goldfarbenen Vorhang zuziehe, sehen wir den Großvater nicht mehr, aber wir hören ihn, er atmet durchs Röhrchen, oft macht es ein Geräusch wie eine dicke Suppe im Topf auf dem Herd. Mein Opa im Kastenbett. Stoff anstatt Türen. Auf der Holzplatte über ihm, die für Opa der Himmel ist, an der Zeichnungen von mir kleben mit Wolken und Engeln, steht oben drauf eine Vase mit getrockneten Blumen, Tablettenschachteln sind dort und Omas Brillen, die ich erreichen kann, wenn ich einen Stuhl ans Kastenbett ziehe.

Für Oma ist die Wahrheit ein Kleidungsstück. Warum sie mir damals dieses Märchen erzählt hat von Großvaters verlorener Stimme, das habe ich sie vor kurzem gefragt. Es wäre eine Zumutung gewesen für dich, hat sie gesagt, du warst so klein, ich wollte dir nicht Angst machen mit seiner Krankheit. In die Wahrheit muss man hineinwachsen, wie in einen Mantel, der noch zu groß ist.

Kann man aus der Wahrheit auch wieder herauswachsen?

Onkel Hans sagt, mein Großvater aus Pontafel, der italienische Name Pontebba kommt ihm nie über die Zunge, mein Großvater sei krank geworden, weil ihm die Italiener seine Muttersprache verboten hatten, in der Schule, auf der Straße, im Gasthaus, nirgends mehr war es erlaubt, Deutsch zu reden, Onkel, sage ich, das ist schon so lange vorbei.

Ja, aber der Schleim auf die Italiener ist ihm immer geblieben.

Ich weiß, dass der Onkel mich nicht mag, weil mein Vater ein Wallischer ist, weil das deutsche Familienblut in mir vermischt ist mit dem seiner Feinde, aber seitdem ich sächlich bin und aus drei Wörtern zusammengebaut, ein Erdbebenopfer, hat er doch etwas von mir, viele loben ihn jetzt und nennen ihn einen großzügigen Helfer. Er und die Tante haben mich aufgenommen, seit Ende September wohne ich bei ihnen im Norden von Villach.

Aber es gibt auch Leute mit dem richtigen Blut, die der Onkel nicht mag, Hannes kommt schlecht weg bei ihm, Hannes, der ein Sohn ist von Optanten aus Malborghetto, ein echter Kanaltaler, nur eben in Villach geboren, Onkel Hans nennt ihn einen Zottigen, der mit einer Affenschaukel herumfährt (wer sich in einen Citroën 2CV hineinsetzt, ist also ein Schimpanse oder ein Gorilla?), dieses Auto schaffen sich nur Leute an, die Haschisch rauchen und immer dabei sind, wenn es wo einen Radau gibt mit Transparenten. Ich aber sehe eine Meerkatze am Steuer, Herrn Nielsson, sage ich, ja, von mir aus eben der Affe von Pippi Langstrumpf, meint der Onkel, die ist ja auch so ein Hippie-Mädchen, ein schlampiges, und ich denke mir, lieber zehn schlampige Pippis als ein Onkel mit Ordnungsfimmel, bei dem das Besteck immer ganz gerade und parallel auf dem Tisch liegen muss, der Dessertlöffel genau neunzig Grad herum, er hat einen Winkelmesser eingebaut in seinen Augen und eine Wasserwaage, wenn ein Bild nur um einen Millimeter schief hängt, wird er nervös. Gern würde ich dem Onkel sagen, dass ich seine Frisur schrecklich finde, die hinaufgeschorenen Haare, den wie mit einem Lineal gezogenen Scheitel, und dass mir Hannes gefällt mit seinen langen Zotten, manchmal bindet er sie sogar mit einem Gummi zusammen. Gern würde ich jetzt sagen, dass die Tante immer das Wort Affenliebe gebraucht, wenn sie von Omas Verhältnis zu Onkel Hans spricht, ihrem Zwillingsbruder. Aber ich bin vorsichtig, will ihn nicht reizen, er hat mir das Geld für eine Jeans versprochen, spuck nicht in den Teller, aus dem du isst. Nur in Gedanken setze ich mich auf den Tisch, auf das gehäkelte Zierdeckchen, weg da. Es hebt mich hoch, ich rudere mit den Armen, steuere am Luster vorbei, Onkel, rufe ich von oben, zwei mal drei ist vier, wiedewiedewitt und drei ist neune, und dann bin ich weg, beim Fenster hinaus, die mit Maisstärke in Form gebrachten Spitzen krümmen sich im Flugwind, gestern noch waren sie mit Stecknadeln zum Trocknen auf einem Brett fixiert.

Wie die Tante ihn aushält. Hin und wieder höre ich abends, dass sich der Schlüssel im Schloss der Schlafzimmertür dreht, und dann ist es still, kein Wort mehr von der Tante, deren Stimme ich sonst oft lange noch höre, kein Räuspern, kein Gähnen. Nach einiger Zeit wieder ein Klacken im Schloss, bevor sich die Tür öffnet und die Tante ins Bad geht. Dieser Stille zwischen dem Zu- und Aufsperren traue ich nicht, vor allem, wenn der Onkel in der Früh dann Melodien pfeift, was er sonst nur macht, wenn er getrunken hat.

Der Mund der Tante wurde lange vor ihrem Bauch ausgeräumt, zumindest die obere Zahnreihe, schon vor der Hochzeit, damit dem Onkel danach nicht hohe Kosten entstünden, damit er nicht Ärger bekäme mit Kronen und Brücken. Einen Plastikgaumen möchte ich nicht haben und auch nicht Zähne aus Kunststoff, obwohl die Tante ihre Prothese praktisch nennt, nie mehr Zahnweh, nie mehr bohren. Aber wenn beim Essen etwas hineinrutscht unter ihre Prothese, Mohn, Nüsse oder Himbeerkerne, wenn Saugen und Zungenschnalzen nichts nützen, muss die Tante immer ins Bad.

Die Nonna trägt Decken zum Friedhof, sagt mein Vater am Telefon, fünf liegen schon übereinander auf Zio Antonios Grab, damit dem Buben nicht kalt wird, nein, keine Evakuierung nach Lignano, das ist unmöglich, die Nonna wehrt sich noch immer trotz der Kälte im Zelt, und die Spitäler sind voll und zum Teil sogar selbst evakuiert, sagt Vater, und ich verstehe nicht, warum er überhaupt vom Krankenhaus spricht; als die Nonna einmal dorthin musste nach einem Kreislaufzusammenbruch, da nannte sie das Rettungsauto einen Leichenwagen, sie wehrte sich mit Händen und Füßen, und Vater selbst hatte Zweifel, ob die Nonna zurückkommen würde, aber zwei Tage später war sie wieder zu Hause, beim Besuch von Zio Antonio hatte sie ihren Kopf gegen die Wand geschlagen, nimm mich mit oder ich springe hier aus dem Fenster.

Immer wieder versuche ich mich in die Trauer der Nonna einzuschleichen, damit ich endlich über den Tod von Zio Antonio weinen kann, aber da ist eine rußige Glaswand, die lässt mich nicht durch.

Weil Zio Antonio nicht mehr am Leben ist, haben Omas Lungen noch eine Chance. Mama hat immer von einem Teerfilm gesprochen, der Schuld habe an Omas Husten, Oma, die nie eine Zigarette geraucht hat, aber ständig den Qualm einatmen musste, in der Küche und im Salon, seit seine Vögel weg waren, hatte ihr Sohn nichts anderes mehr zu tun.

Früher nannte ich ihn Zio Uccello, Vogelonkel, er nahm mich mit ins Nebengebäude, wo die Voglieren standen, und wenn er nicht da war, durfte ich den Kassettenrekorder einschalten, nach einer Stunde zurückspulen und wieder den Startknopf drücken; man muss schon den Jungen einen schönen Gesang vorspielen, sagte Zio Antonio, der selbst die Laute der Vögel nachahmen konnte, Buchfinken, Wachteln, Drosseln und den Gesang der Amseln, auf einer Bühne bei der Vogelmesse in Sacile hat er sein Können gezeigt und ist damit sogar ins Fernsehen gekommen.

Im Sommer darauf durfte ich ihn auf die Messe begleiten, an einem heißen Sonntag im August, aber die Hitze störte mich nicht, ich stand neben einem Onkel, der schon einmal im Fernsehen war, ich konnte den Gesprächen folgen, die er mit anderen Züchtern führte und mit Leuten, die stehen blieben bei seinen Vögeln, und beim Singwettbewerb gewann eine von Zio Antonios Drosseln den Preis. Ein Reporter fotografierte den Onkel, auch ich war daneben im Bild, Gewinner Antonio Pascoli mit seinem Goldkehlchen, rechts Assistentin Vera, stand unter dem Foto, den Zeitungsausschnitt klebte die Nonna an die Vitrine mit dem Sonntagsgeschirr.

Zwei Wochen später öffnete er die Voglieren. Alle suchten nach einer Erklärung, doch wenn man ihn fragte, zuckte Zio Antonio nur mit den Schultern und sah hinauf in den Himmel. Die Vögel waren weg und kamen nicht wieder, obwohl ich sie rief, obwohl ich die Kassetten abspielte und dabei mit dem Rekorder herumging, manchmal bis hinunter zur Brücke über den Tagliamento.

Wir haben hier einen Englischlehrer aus Schottland, der komisch riecht und immer dasselbe Sakko trägt. Aus den Sakkotaschen holt er kleine Magnete mit Bienen und Schlangen aus Plastik, die sollen uns helfen beim Aussprachetraining, er schreibt die Tafel voll und danach werden die Magnete richtig platziert. Mein Bienen-S sei wonderful, sagt er, das Schlangen-S sowieso kein Problem, aber das englische R vor Selbstlauten schaffe ich nicht, da vibriert es entweder auf meinem Gaumen oder es knattert im Kehlkopf, auch die zwei THs habe ich in Italien nicht richtig gelernt.

 

Im Naturkunde-Kammerl steht ein Skelett auf Rädern. Eine ehemalige Schülerin war das, sagt die Lehrerin, sie hatte Krebs und hat ihre Knochen der Schule vermacht. Seither rollt das Skelett durch die Gänge, nur über die Stiegen wird es getragen. Ich soll die Wirbel hinunterzählen, fünf Halswirbel, zwölf Brustwirbel, fünf Lendenwirbel, mein Finger bleibt in der Luft hinter dem Rückgrat, und hier sind Kreuzbein und Steißbein, die Lehrerin greift der toten Schülerin von vorn durch den Luftbauch und umschließt die Knochen mit ihrer Hand.

Ob die Organe begraben wurden, ob es einen Sarg gab für Herz, Nieren, Magen, für Augen und Muskeln, ob auch das große Geschwür mit dabei war. Der Religionslehrer spricht immer vom Körper als Wohnung des Heiligen Geistes, da gebe es Haupt- und Nebenräume, sagt er. Bei Frauen sei der wichtigste Raum das Gebärmutterzimmer. Pfarrer Blatnik kommt zwei Mal pro Woche in die Klasse, um uns den Himmel näherzubringen, aber wir interessieren uns für andere Dinge, für Schmuck und Schminke, für Popstars und die Artikel in den Bravo-Heftchen unter der Bank.

Rechts fehlt dem Pfarrer der Zeigefinger, ein Unfall in jungen Jahren, diese Geschichte erzählt er immer wieder von Neuem, der helle Klang des Sägeblatts, das kurze Knacken, dann Blut, eine mit dem Taschentuch abgebundene Hand, und niemand dachte an den Finger, erst am nächsten Tag ging sein Vater ihn suchen, irgendwo zwischen den Holzstücken fand er ihn dann, in einem Mantel aus Sägespänen, verklebt mit Blut. Wie eine Schupfnudel mit Mohn war das hinfällige Fleisch verdeckt, sagt Pfarrer Blatnik, vielleicht gefällt es ihm, dass wir unsere Gesichter verziehen, dass wir aufmerksam sind, wenn er davon erzählt, und zum Ausgleich wiederholt er auch die Geschichte der Schülerin mit den sechs Fingern an einer Hand, ihre Eltern gaben als Zeugen Jehovas nicht die Erlaubnis zu einer Operation.

Ob ich ihm Fotos zeigen soll vom Gotteshaus in Venzone, von den Trümmern unseres Doms Sant’Andrea Apostolo, beim großen Beben Mitte September ist nun auch der Turm eingestürzt. Im Mai schon sind Engel und Heilige heruntergefallen, Flügel und Glorienscheine zerbrochen.

Von meinem Platz auf dem Sofa schaue ich durchs Fenster hinaus. Etwas in den leeren Himmel zu schreiben, das ist mir nicht möglich, erst bei heruntergelassener Jalousie und quergestellten Lamellen kann ich beginnen, jetzt ist der Himmel liniert.

Die Nonna auf einem Campingstuhl vor dem Zelt, in den Händen Strickzeug, die Nadeln klappern.

Mein Vater, der zum Maurer geworden ist. Die Mischmaschine vor den Trümmern unseres Hauses.

Der schwarze Hund, der auf drei Pfoten durchs Zeltlager hinkt, um den Hals ein Goldkettchen, an dem ein Schutzengel baumelt.

Leute aus Kärnten, die Säcke mit Altkleidern bringen, nur wenige haben den Spendensack mit dem Mistkübel verwechselt oder mit dem Schmutzwäschekorb, wir finden auch viele sehr schöne Sachen, Ballkleider zum Beispiel, im Juli machen wir zu fünft eine Modenschau, abends unten am Fluss, auf einer Lichtung des Auwalds, wo niemand uns sieht.

Mein Lieblingsstück aus den Säcken: ein Schottenrock, wegen der riesigen Sicherheitsnadel.

Tausende Trümmer unseres Domes liegen auf Wiesen verstreut, jedes davon bekommt eine Nummer.

Ich schreibe mir ein neues Haus in den Himmel, ein Haus aus Wörtern und Sätzen.

Heuer entfällt das Keksdosentreffen, das gab es immer bei Oma, am zweiten Adventsonntag, viele Verwandte kamen zu ihr nach Pontebba, aus Venzone und Villach. Das letzte war ein Rekordjahr, insgesamt 23 Sorten wurden verkostet. Zuerst nur Gespräche über Ausstecher, Kipferlgrößen und Backpulvermengen, alles langweilig für mich, aber die alte Geschichte schwebte zugleich schon im Raum, und ich wusste, irgendwann ginge es wieder los; interessanter war für mich, wenn die Verwandten zu diskutieren begannen. Onkel Hans sagte, die Wallischen haben mich aus der Heimat vertrieben, und staatenlos war ich dann in Österreich mit Ende des Krieges, und obwohl ich ein Altösterreicher bin, musste ich zahlen für die Staatsbürgerschaft, das können wir dem Mussolini verdanken, diesem Arsch mit Ohren. Bei deiner Geburt war die k. & k. Monarchie aber schon Geschichte und das Kanaltal kam dann zu Italien, du bist also viel eher ein Italiener, sagte Mama, was den Onkel ärgerte, hört auf, bat Oma, aber Mama wollte nicht aufhören, warum bist du dann nicht zurückgekommen nach Pontebba, fragte sie, schau an, die Südtiroler, im Kanaltal hätte es auch Strommasten zum Sprengen gegeben. Schluss damit!, Oma stand auf und ging in die Küche, und dann sagte die Nonna, jetzt hört doch auf mit der alten Geschichte, die ist keine Minestra, die durchs Aufwärmen besser wird.

Dass der Onkel 1939 fürs Deutsche Reich optiert hat, spricht bei den Keksdosen nie jemand aus, aber ich weiß es von Mama.

Manches darf man nicht laut sagen, sondern nur leise hinter dem Rücken, sonst gibt es eine Explosion, anderes muss man ganz für sich behalten. Dass Bekannte Zio Antonio in Grado gesehen haben, eine Woche vor dem Beben im Mai, am Boden sei er gesessen mit einem Hut in der Hand und einer Weinflasche an seiner Seite, gezwitschert habe er und gepfiffen, das soll die Nonna niemals erfahren.

Nächste Woche ziehen wir in das Fertigteilhaus, schreiben die Eltern. Ein Schwarz-Weiß-Foto ist auch im Kuvert. Das also wird mein neues Zuhause, eine Sardinenbüchse mit Fenstern, das Wellblechdach spiegelt sich in der riesigen Lacke davor. Ich will nicht dort wohnen, möchte ich in meinen Antwortbrief schreiben, stattdessen frage ich nur, bis wann ist unser altes Haus repariert?

Ich warte, dass die Seen zufrieren, davor werde ich in der Eishalle üben. Der Onkel hat mir Schlittschuhe organisiert, in der Tauschzentrale, weiße Damenschlittschuhe aus Leder, wie die Kunsteisläuferinnen sie tragen im Fernsehen, sie sehen fast aus wie neu.

Hannes treffe ich jeden Tag in der Pause. Er geht in die letzte Klasse und macht sich viele Gedanken über die Politik und die Gesellschaft in seinem Land. Hannes will Geschichte studieren. Ich höre ihm zu, weil ich ihn mag und obwohl ich die Leute nicht kenne, von denen er mir erzählt. Doch lieber würde ich mit ihm ins Kino gehen zu einem Film mit Bruce Lee.

Unserem Zeichenlehrer zuzuhören ist viel interessanter, aber der ist schon alt. Ein Bein habe er im Krieg liegen lassen, sonst wäre er sicher Turnlehrer geworden oder Marathonläufer, aber vielleicht turne das Bein jetzt in Russland alleine herum, solche Witze macht er am laufenden Band. Er nennt mich immer VerawieVase, daran bin ich selbst schuld, denn beim ersten Mal habe ich ihm gesagt, ich heiße nicht Vera wie Villach und Veilchen. Ich glaube, er ist ein Künstler, auf jeden Fall malt er Bilder in unsere Alben und pinselt in Schönschrift Sprüche dazu.

In mein Stammbuch hat er geschrieben: Wenn du lachst, lachen alle mit dir, wenn du weinst, weinst du allein. niella ud tsniew, tsniew ud nnew, rid tim ella nehcal, tshcal ud nneW.

III.

Auf den Entschuldigungszetteln meiner Mitschülerinnen steht immer wieder „unwohl“ drauf. Dass „Unwohlsein“ eine Umschreibung ist, hat mir die Tante erklärt. Für die blutige Sache, die bei mir begonnen hat vor fast einem Jahr. Dass dann ab Mai nichts mehr kam, habe ich erst im Juli bemerkt. Aber seit Weihnachten ist es Familienthema. Einen Termin beim Naturheiler hat die Tante schon ausgemacht. Wir gehen das jetzt einmal sanft an, hat sie gesagt.

Das Unwohlsein meiner Kolleginnen geht mir auf die Nerven, sie geben mit ihrer Regel an.

Der Bindengürtel der Tante, ein rosa Ding. Den kannst du haben, hat sie gesagt, ich brauche ihn ja nicht mehr, aber niemand in meiner Klasse trägt so etwas, ich habe die Mädchen darüber sprechen hören und kichern, voriges Jahrhundert sei das, und auch Mama hat mir keinen gegeben, als es bei mir damals soweit war. Meine Kolleginnen tragen Binden mit rutschfestem, rosa Schaumgummi, auch in meiner Toilettentasche warten solche, und einmal im Monat nehme ich eine davon für den Turnunterricht. Die anderen Mädchen mit ihren Entschuldigungen wegen Unwohlsein. Dafür dürfen sie dann auf der Matte sitzen und zuschauen, und ich sage ihnen, dass ich trotzdem mitturne, aber das glauben sie mir nur, wenn sie beim Turnanzug den Abdruck einer Binde sehen und beim Umziehen auf meiner Wäsche.

Ich bin ein Jahr älter als die anderen, weil man hier nur vier Jahre in die Volksschule geht und ich war fünf Jahre in der scuola elementare, das macht alles noch schlimmer. Am liebsten hätte ich eine Dauerentschuldigung für den Turnunterricht, so wie Elisabeth aus der 6b, aber die ist ein Contergan-Kind. Die Luft im Umkleideraum ist nicht gut. Und die im Turnsaal auch nicht. Am Seil und an der Stange schaffe ich keinen Zentimeter in die Höhe. Die Sprossen der Kletterwand tun mir auf den Fußsohlen weh. Der Bock ist mein Feind. Anlauf nehmen, hochspringen, Hände auf den Bock, Beine grätschen, Hände lösen, Beine zusammenklappen, federnd auf der Matte landen, es will mir nicht gelingen. Meine Furcht, dass der Bock umfällt. Gleich wie beim Sprungkasten, wenn die Teile zu wackeln beginnen.

Nur bei der Gymnastik bin ich gut. Und beim Radschlagen und Handstand. Gestern habe ich dreiunddreißig Räder hintereinander gemacht, quer durch den Turnsaal.

Wenn wir zurück in den Umkleideraum kommen, haben wir an unseren Fußsohlen klebrigen Schmutz. Dann schnell weg mit dem schwarzen Nylon-Turnanzug und verschwitzt hinein ins Gewand.

Zu Weihnachten habe ich ein gebrauchtes Buch bekommen, da sind farbige Fotos drin von Vögeln, ich lerne die deutschen Namen, nur einige kannte ich schon von Oma, Amsel, Spatz, Taube, Kuckuck, Falke, Papagei, Adler. Adlerauge nennt sie mich immer, wenn sie ihre Brille nicht findet, wenn ich etwas tun soll für sie, Nähseide einfädeln, Kleingedrucktes entziffern.

Mit Englisch habe ich noch einmal ganz von vorne begonnen. I am Ann, I am a schoolgirl, I am not a schoolboy, I am Pat, I am a schoolboy, I am not a schoolgirl. Ich will die Beste werden in Englisch.

In den zwei Ferienwochen habe ich alle Lektionen der ersten und zweiten Klasse und die bisherigen der dritten noch einmal wiederholt. Und alles abgeschrieben. Viele Absätze kann ich jetzt auswendig. Wichtige Sätze im Schlaf. Nur meine Aussprache muss besser werden. Der Geografielehrer hat einmal gesagt, die englische Aussprache liege den Italienern schief im Mund, wie ein falsches Gebiss, das nicht richtig angepasst ist.

Auf dem Weg zur Schule steht ein blaugrün angestrichenes Haus. Ein Puff ist das, hat der Onkel gesagt, und dass es davon immer mehr gebe in Villach, weil so viele Italiener hierher kommen. Ich frage die Tante und lerne neue Wörter: Freudenhaus. Freudenmädchen.

Für Geld amüsieren sich die Männer im Puff. Bezahlen die Mädchen für Liebe. In Italien gibt es keine Freudenhäuser, sagt die Tante, die sind verboten. Weil der Papst in Italien wohnt.

Wieder einmal stehe ich vor dem Stammbaum im Vorraum, ich bin da nicht drauf und Mama ist immer noch ledig. Ich gehe in die Küche und hole aus der Kredenz ein Etikett für Rexgläser. Mit der Schere zerschneide ich es in zwei gleich große Streifen und schreibe unsere Namen drauf. Ich lecke über die Rückseite und klebe Papa und mich auf den Stammbaum. Bitter und süß ist der Geschmack auf meiner Zunge.

Am Abend ruft mich der Onkel zu sich in die Küche. Vor ihm auf dem Tisch steht eine große Schale mit Milch, zweimal in der Woche wird Brot eingebrockt, vertrocknete Reste und Scherzl. Ich soll unterschreiben. Eine Karte ans Funkhaus in Klagenfurt, für Omas Geburtstag. Am Sonntag ist Wunschkonzert, sie sollen Grüße und Wünsche durchgeben wie jedes Jahr, auch wenn der Sender von Österreich-Regional aus Kärnten in Pontafel immer ein wenig rauscht.

Ich gehe gleich wieder ins Zimmer zurück, aber der Onkel ruft mir was nach: Der Stammbaum draußen ist schon sehr alt, da warst du noch in der Sterzschüssel und deine Mutter ein lediges Dirndl.

Vorbereitungen für einen besonderen Dia-Abend: Onkel Hans will den Doktor Erath überraschen mit einem neuen Programm, er wird Bilder zeigen von allen Hütten und Biwakschachteln, in denen die beiden Nächte verbracht haben auf ihren Touren. Zwei lange Magazine sind voll, tagelang hat der Onkel seine große Sammlung durchsucht. Die Tante hängt die Leinwand auf, ich richte die Sessel her, vier nebeneinander an der vorgesehenen Stelle, Stuhlbein an Stuhlbein, millimetergenau, so will es der Onkel, Vorhänge zu, Licht aus, der Tierarzt bekommt ein Glas Wein.

 

Ich sehe in jeder Biwakschachtel die Notbehausung meiner Eltern in Venzone, darin möchte ich nicht noch einmal schlafen. Sardinenbüchse habe ich gesagt zu der Blechhütte, und sofort hat Mama zu weinen begonnen, hernach war ich vorsichtig, habe kaum mehr geredet. In der Nacht dann der Traum, ich stecke in einer zweiten Haut, die fast meinen ganzen Körper bedeckt, trage einen Pullover mit langen Ärmeln und eine Hose bis ganz hinunter, damit niemand die Reißverschlüsse sehen kann innen an meinen Gliedmaßen, sie enden an den Handgelenken und an den Knöcheln der Füße. Alle glauben, sie hätten es mit mir zu tun, aber es ist eine Täuschung. Unter der falschen Haut stauen sich die schlechten Wörter. Unter der falschen Haut staut sich auch mein schlechtes Gewissen.

Die Fensterscheiben sind vereist. Mit dem Finger fahre ich über die Eisblumen. Ich drücke den Daumen gegen die dünne Schicht. Ein Stück löst sich ab. Zwischen den Fensterflügeln ein Polster. Ich denke an das Eislecken bei Oma. Eiszapfenreihen, kleine ließ ich auf der Zunge zerschmelzen. Oma durfte nicht wissen, dass ich Wintereis lecke, weil man davon Halsweh bekommt. Wie vom Schneeessen.

Manchmal lag eine feine Kruste über dem Schnee, Krachen bei jedem Schritt. Gefrorene Lacken unten im Bachbett. Mit der Fußspitze auf die Eisschicht, aber ohne Gewicht. Das Durchsichtige färbt sich milchig.

An schattigen Stellen im Hof lagen große Häufen aus zusammengesacktem Schnee. Im Frühjahr leckte die Sonne den Schnee weg, aber in den Schatten langte ihre Zunge nicht. Eine Sonne mit Halsweh? Mit einer spitzen Schaufel wurde den Schneehäufen zu Leibe gerückt, kleine Stücke dann auf sonnigen Plätzen verteilt.

Mein Lieblingsgeräusch: Wenn es auf den Dächern zu tauen beginnt, das Wasser in die Regenrinne fließt. Plätscherndes Schmelzwasser, oft mitten im Winter.

Die Eisschuhe über den Schultern gehen wir vom Bahnhof Steindorf hinunter zum Ossiacher See. Unter dem rot-weißen Absperrungsband krieche ich durch, der Onkel steigt drüber. Schuh-Wechsel, Schnüren, doppelte Masche. Gleich frieren die Finger, schnell wieder die Fäustlinge drüber. Auf den Spitzen betrete ich die glänzende Eisfläche, der ganze See ein Spiegel der Sonne. Vorne gleitet der Onkel weg, ich stoße mich mit den Zacken ab, um ihm zu folgen, die richtige, die eingeübte Technik vergessen. Mitten auf dem See plötzlich ein Dröhnen, ein Krachen und Knacken, ich erschrecke, eine Zickzack-Linie kommt auf mich zu, läuft unter meinen Füßen durch, ich schreie. Der Onkel bremst, keine Angst, ruft er mir zu, wenn das Eis kracht, dann hält es. Die Angst nicht kleiner, ein Brennen auf der Haut, Feuer, dem ich entkommen muss, umdrehen, das Ufer weit weg, aber Rettung ist dort, von Neuem ein Krachen, Eisglanz oben und unten, mein Körper, der sich bewegt, getrieben von einer Maschine im Brustkorb, kein Schreien mehr, nur noch Angst, die alles erstickt. Ein harter Aufprall der Beine am Steg, bäuchlings falle ich auf die Bretter, robbe mich weiter nach vorne. So bleibe ich liegen.

Was ist los, höre ich den Onkel, aber ich antworte nicht.

Ich wollte doch nach Ossiach hinüber, sagt der Onkel, so eine Gelegenheit, der ganze See gehört uns.

Nur vereinzelt sind Läufer zu sehen.

Ich warte da, sage ich.

Die nächsten zwei Stunden bleibe ich auf den ersten Metern Eis am Ufer, ich übe das wellenförmige Rückwärtsfahren, versuche Drehungen und kleine Sprünge, abgeschaut von den Eiskunstläuferinnen im Fernsehen, das Dröhnen fast ein wohliger Klang, es betrifft mich nicht mehr, meine Kufen zeichnen Spuren, Bögen, Dreier, Achter, die Sonne blendet und wärmt.

Irgendwann eine Figur weit draußen, sie kommt näher, schwarzer Anorak, rote Mütze, der Onkel. Jausenzeit. Brote und Orangenspalten aus der Tupperware-Dose. Tee aus der Thermoskanne mit nur einem Becher, ich bin nicht durstig. Bei der Rückfahrt nach Villach eisiges Schweigen.

Waghalsig nennt die Tante den Onkel, im Radio hat sie heute zu Mittag gehört, welche Seen schon freigegeben sind für die Eisläufer, der Weißensee, der Aichwaldsee und der Rauschelesee, vom Ossiacher See keine Rede. Waghalsig, über dieses Wort muss ich lachen.

Am Nachmittag lese ich im neuen Buch über die Vögel. Das Taubenkapitel. Über die vielen Arten, Felsentaube, Haustaube, Ringeltaube, Porzellantaube, Perückentaube, Lachtaube. Über die Kropfmilch, mit der sie die Jungen ernähren, beide, Täuber und Täubin. Über das Picken von Steinchen, damit sie im Magen die Körner zerreiben. Über Schwanzfedern, Deckfedern und Flaumfedern. Viele zusammengesetzte Wörter. Das Foto einer gerupften Taube, ohne Federkleid nicht mehr erkennbar. Heiliger Geist!

Am Abend geht der Onkel weg, ich wechsle zur Tante ins Wohnzimmer. Sie hat für mich Blätterteigtascherl gemacht, mit Himbeermarmelade. Wir spielen DKT. Ich kaufe Bauplätze, drei Häuser in Salzburg, ein Hotel in Klagenfurt und eines in Innsbruck. Eine Seilbahn und eine Schiffslinie. Heute habe ich Glück. Kein einziges Mal muss ich in den Arrest. Mit dem DKT habe ich Österreich kennen gelernt, alle Hauptstädte und die wichtigen Straßen.

Mitten auf einem See ordne ich Eisquader zu Buchstaben, in immer neuen Versuchen, aber das Wort will nicht gelingen. Meine Finger kleben an den gefrorenen Flächen, das Eis unter mir wird dünner, die Zeit läuft. Wenn ich das Wort salvezza nicht endlich schaffe, bin ich verloren, durch erste Sprünge sickert schon Wasser. Es knackt und zieht mich nach unten ins Schwarze. Auf einmal ist da eine Hand, ich halte sie fest. Die Hand ist von Tante Rosa, sie sitzt auf meinem Bett. Du hast wieder geschrien im Schlaf, sagt sie, hast du was Böses geträumt?

In der Schule erzähle ich, dass ich gestern eingebrochen sei, mitten auf dem Ossiacher See. Die Mädchen scharen sich um mich, sie wollen alle Details. Eine Stange war meine Rettung. Aha. Ob ich im nassen Gewand nach Hause gefahren sei? Ja, natürlich. Warum ich mich dabei nicht verkühlt habe? Ich erzähle von drei Tassen Lindenblütentee und einer Schwitzkur unter der Tuchent. Und ich erzähle auch gleich, dass ich Verwandte in Amerika habe. Ich sage nicht Kanada, weil Amerika viel wichtiger klingt. Wer die besseren Geschichten erzählt, bekommt mehr Aufmerksamkeit.

Eine Mitschülerin berichtet von einem Bandwurm in ihrem Körper. Jeden Tag untersuche ihr Vater den Stuhl, er habe schon viele Glieder gefunden, wasche alles aus, aber der Kopf des Bandwurms sei noch nicht gekommen, erst dann wäre Schluss mit dem Spuk.

Ich weiß nicht, ob das wahr ist. Vielleicht will sie sich wichtigmachen.

Zu Mittag besuche ich die Tante in ihrem Damenmoden-Salon. Eine Kundin will jetzt schon Maß nehmen für ein Frühjahrskleid, samt dem Keksspeck von Weihnachten, sagt die Tante, und nach der Fastenzeit, in der die Kundin nur einmal pro Tag etwas isst, flattert dann das Kleid an den Hüften, und wieder ist die Schneiderin schuld.

Die Tante sitzt an der Nähmaschine und gibt dem Pedal einen Fußtritt.

Am Abend ist alles vergessen, der Onkel ist weg, wir können in Ruhe fernsehen. Eine französische Sängerin kommt über die Stiege herunter. Acht Männer in schwarz-weißen Gilets tanzen mit ihr, das ist der Pariser Tango, Monsieur, Arme kreuz und quer, die Männer gehen in den Vierfüßlerstand rückwärts, sie bilden ein Sofa, die Sängerin setzt sich darauf. Mir gefällt ihre Frisur, die Tante lobt das glitzernde Kleid, vorne ist alles verdeckt bis zum Hals, aber der Rücken ist frei.

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