Handbuch Ambulante Einzelbetreuung

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ambulante intensive Begleitung (AIB)13: Dabei handelt es sich um ein niederländisches, nach Deutschland übertragenes Konzept – das Modell INSTAP, das für algerische Jugendliche in Amsterdam entwickelt wurde. Es wurde über etwa zweieinhalb Jahre um die Jahrtausendwende herum in vier deutschen Städten – Dortmund, Leipzig, Magdeburg, Nürnberg – und dem Landkreis Harburg als Bundes-Modellprojekt erprobt und wissenschaftlich begleitet und stellt heute an den betreffenden Standorten einen Teil des Regelangebots dar. Der Ansatz ist mit anderen ambulanten Hilfen, die zur gleichen Zeit aus den USA über die Niederlande nach Mitteleuropa kamen, inhaltlich verwandt – Families First, hierzulande als FAKT (Familienaktivierende Maßnahme) oder FAM (Familie im Mittelpunkt) bekannt und eingeführt (vgl. Gehrmann, Müller 20012). Diese Kurzzeit-Modelle stehen in einem kritischen Verhältnis zum Beziehungsansatz der klassischen Case Work, orientieren sich eher am distanzierteren Case Management-Ansatz (s.u.) und fokussieren auf Aktivierung der informellen sozialen Netzwerke. Die verblüffende Kürze der Interventionen – bei FAM und FAKT sechs Wochen, bei der AIB drei Monate – verbunden mit einer hohen Intensität und dem Versprechen weitreichender Verbesserungen widersprechen allen Erkenntnissen der empirischen Sozialforschung, wonach Beziehungsorientierung und längere Dauer von Maßnahmen eher als Garant für Erfolg gelten. Für finanzschwache, an Effektivierung ihrer Dienstleistungen interessierte Kommunen sind solche kurzen Angebote attraktiv. Deshalb wurden wurden sie vielerorts als [29]Zusatzangebot eingeführt, konnten aber die traditionellen, beziehungsorientierten Hilfen nicht ersetzen. Als Konzept für besonders schwierige Jugendliche und junge Erwachsene, die eine Jugendhilfekarriere hinter sich haben, von Obdachlosigkeit bedroht sind und sich nicht an andere Jugendhilfemaßnahmen anbinden lassen, hat sich AIB nicht bewährt. Diese hochanspruchsvolle Zielgruppe verfügt weder über ausreichend soziale Ressourcen, noch spricht sie auf die typische vertragsförmige und rein zielorientierte Methodik an.

Betreutes Wohnen bzw. Betreutes Einzelwohnen (BW/BEW): Zur Zielgruppe dieses Angebots gehören ältere Jugendliche oder junge Erwachsene. Träger, die Betreutes Wohnen anbieten, setzen meist ein Mindestalter von 16 Jahren für diese Betreuungsform voraus. Sie besteht in einer Kombination aus der finanziellen Sicherung des Lebensunterhalts durch das Jugendamt mit den Inhalten und der Form eines ambulanten Betreuungssettings. Der Maßnahmetyp gleicht formal stationären Angeboten nach § 34 SGB VIII, wodurch auch die Eltern zur Kostenerstattung herangezogen werden können. Freie Träger des Betreuten Wohnens stellen manchmal ambulant betreute Wohngemeinschaftswohnungen zur Verfügung, so dass die jungen Menschen nicht sofort in eine Einzelwohnung umziehen müssen. Bei Überschreiten der Volljährigkeitsschwelle, spätestens mit dem Erreichen des 21. oder bei Maßnahmen nach § 35a SGB VIII des 27. Lebensjahrs muss ein Übergang an andere Kostenträgern – gegebenenfalls nach SGB II, III oder XII – gestaltet werden, wenn sich ein autonomes Leben – das Ziel der Hilfe – nicht als umsetzbar erweist.

2 Mary Ellen Richmond (1922): What is social case work? An introductory description [Was ist soziale Fallarbeit? Eine einführende Beschreibung], New York: Russell Sage Foundation.

3 „Maria Bielowski ging in einer Fabrik arbeiten, seit sie fünfzehn war. Nach vielen Auseinandersetzungen mit ihrer Stiefmutter darüber, dass sie ihren Arbeitslohn mit der Familie teilen sollte, und über ihre Gewohnheit, nachts lange fort zu bleiben, verließ sie ihr Zuhause und lebte in billigen Unterkünften und Hotels. Von dort wurde das Mädchen angeklagt, ein paar Dollars von einem Mitbewohner gestohlen zu haben. Für diejenigen, die ihr begegneten, war sie ein unattraktiver Anblick. Ihre Gesichtszüge waren dunkel und schwer, ihre Kleidung abgerissen, schmutzig und sehr fleckig; ihr Kopf wurde von drei Strähnen künstlichen Haares gekrönt, das, wie man später feststellte, von Ungeziefer befallen war. […] Zwei ihrer Arbeitsstellen schilderten sie als unregelmäßige Arbeiterin. Die klinische Untersuchung ergab, sie habe gute intellektuelle Fähigkeiten, aber eine psychopathische Persönlichkeit. Ihre Familie war fünf Jahre zuvor aus Polen eingewandert – ihr Vater, seine zweite Frau und vier Kinder. Aber der Vater war drei Jahre nach seiner Ankunft gestorben und die Stiefmutter, die nicht ein Dutzend englische Wörter kannte, hatte, obwohl sie eine gute Frau war, anscheinend jede Kontrolle über die Kinder verloren. Die beiden erwachsenen Söhne waren weg gezogen; der jüngere Sohn war in einer Besserungsanstalt untergebracht.“ (Richmond 1922: 32 f., Übers.: U.R.).

4 „These facts suggested that probations under conditions which would assure a maximum of individualized care might bring good results“ (Richmond 1922: 34).

5 „Eines Tages erhielt Maria ein Anschreiben aus einer entfernten Stadt, in dem ein Fernlehrangebot für eine Sprech- und Singausbildung offeriert wurde. Die Gebühr war 50 Dollar. Sie wand sich sofort an ihre Betreuerin mit der Bitte, ihr das Geld zu leihen, und diese antwortete ihr, das nächste Mal, wenn sie beide in der Stadt wären, könnten sie jemanden konsultieren, der sich gut genug mit Musik auskannte, dass er den Wert des Angebots beurteilen könnte. Ein Lehrer an einer guten Musikschule wurde angefragt Marias Stimme zu testen und seine Meinung zu ihrem Plan abzugeben. Als Maria die schwachen, schwankenden Klänge hörte, die sie von sich gab, als sie dem Meister vorsang, wurde sogar sie überzeugt, dass der Fernlehrkurs das Nachdenken nicht lohnte.“ (Richmond 1922: 39f.).

6 „Nur Entlastung“ (Richmond 1922: 167).

7 Historische Informationen aus: Müller 20064, Hering, Münchmeier 20053, Rätz-Heinisch, Schröer, Wolff 2009.

8 Informationen weitgehend aus: Iben 1967.

9 Informationen weitgehend aus: Korzilius 2005.

10 Historische Informationen aus: Müller 20064, Hering, Münchmeier 20053, Rätz-Heinisch, Schröer, Wolff 2009, Birtsch, Münstermann, Trede 2005.

11 Informationen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz aus: Münder 2006.

12 Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist als 8. Buch im Sozialgesetzbuch verortet, entspricht also dem SGB VIII.

13 Die Informationen zur Ambulanten Intensiven Begleitung entstammen weitgehend dem ausführlichen Band von Möbius und Klawe 2003.

[30][31]Die Ambulante Einzelbetreuung

Datenbasis und statistische Quellen

Schon das Jugendwohlfahrtsgesetz verpflichtete zum Sammeln statistischer Daten zur Jugendhilfe, die vom Statistischen Bundesamt direkt bei den Jugendämtern und den Jugendhilfeträgern erhoben und in die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik eingepflegt wurden14. Mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, mit dem Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz (KICK) 2005 und dem Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) 2012 wurde diese schrittweise ausgebaut.

Die Jugendämter exportieren den Beginn und die Beendigung der Hilfen zur Erziehung direkt und in anonymisierter Form aus ihren elektronischen Datenverarbeitungssystemen an die statistischen Landesämter. Durch Publikationen und auf einer Internetseite (www.destatis.de) macht das Statistische Bundesamt diese Daten der Öffentlichkeit zugänglich. Thematisch aufbereitete Statistiken werden dreimal jährlich und kostenlos über die Zeitschrift KomDat des Informationsdienstes Kinder- und Jugendhilfe (AKJStat) publiziert (www.akjstat.uni-dortmund.de).15

Kurze Zeit nach Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes wurde die sogenannte JULE-Studie – „Leistungen und Grenzen der Heimerziehung“ von Thiersch und anderen (1998) – durchgeführt. Sie bezog sich nur auf stationäre und teilstationäre Jugendhilfeangebote. Die sogenannte JES-Studie – „Effekte erzieherischer Hilfen und ihre Hintergründe“ von Schmidt und anderen (2002) – bezog erstmalig alle Jugendhilfemaßnahmen nach dem Hilfekatalog des KJHG ein und befasste sich damit auch mit der Erziehungsbeistandschaft. Die Datenlage zur Hilfeform ambulante Einzelbetreuung ist insgesamt gering. Einzig eine Untersuchung von Fröhlich-Gildhoff von 2003 bezieht sich genauer auf diese Hilfeform. Regina Rätz-Heinisch untersuchte im Rahmen ihrer qualitativen Studie „Gelingende Jugendhilfe bei aussichtslosen Fällen“ (2005), bei der sie biografische Bezüge von Jugendhilfeverläufen betrachtete, auch flexible und ambulante Angebote.

Sämtliche verfügbaren Daten belegen, dass seit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes die Anzahl der ambulanten Einzelbetreuungen erheblich angewachsen ist16. 2014 betrugen die am 31.12. des Jahres laufenden Hilfen knapp das Doppelte des entsprechenden Wertes von 1995, obwohl seit 2010 demografische Rückgänge bei den Jugendlichen sichtbar werden (s. Tabelle 1).

[32]Tabelle 1: Zunahme der ambulanten Einzelbetreuungen (1995–2014)


§ 30 (Erziehungsbeistandschaft, Betreuungshelfer) (laufende Fälle am 31.12.)
199516.231 (100 %)
200022.024
200525.847
201035.400
201429.896 (+ 84 %)

Quelle: Stat. Bundesamt.

Erhöhte Fallzahlen in den Hilfen zur Erziehung können als Indiz für sich ausweitende gesellschaftliche Problematiken interpretiert werden, insbesondere als Effekt der Erosion traditioneller Familienstrukturen, eines zunehmenden Anpassungsdrucks im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt, der Individualisierung der Lebensläufe und der globalen Wanderungsbewegungen und damit einem problematisch erhöhten Migrationsanteil in der Bevölkerung (vgl. Beck 1986, Vester, Oertzen, Geiling, Hermann, Müller 2001). Vor allem in ländlichen Gebieten und in den neuen Bundesländern könnte sich der Infrastrukturabbau infolge der demografischen Entwicklung verschärfend auswirken.

 

Andere Erklärungsansätze sehen in einem erhöhten Normalitätsdruck in den Sozialisations- und Bildungsinstitutionen – Familien, Betreuungseinrichtungen und Schulen – die Ursache für anwachsende Fallzahlen in der Jugendhilfe. Dieser Erklärung entsprechend haben sich nicht primär die Kinder und Jugendlichen und ihre Lebenskontexte zum Negativen verändert, sondern die Sozialisations- und Bildungsinstitutionen sind normativer, rigider und exklusiver geworden, wodurch Minderjährige häufiger und schneller als früher aus dem normalen Bildungsgang heraus segregiert werden und sich in der Folge nur schwer in das Erwerbsleben integrieren können.

Aber nicht für alle Jugendhilfemaßnahmen ist in den letzten Jahren eine gleichmäßiger Anstieg erkennbar. So stagnierten die stationären Maßnahmen oder nahmen sogar zahlenmäßig ab, wogegen die ambulanten Hilfen und die Unterbringungen in Pflegefamilien zunahmen.

Diese Umverteilung ist auch ein Ergebnis der Strategie von Jugendämtern, kostenintensive stationäre Maßnahmen durch kostengünstigere ambulante Hilfen zu ersetzen17. Das KJHG setzte auf eine eindeutige familienunterstützende Orientierung und ordnete die Fremdunterbringung als nachrangig in der Hilfepalette ein. Zunehmende Fallzahlen in der ambulanten Jugendhilfe signalisieren, dass die gewünschte Neuausrichtung der Jugendhilfe hin zu mehr ambulanten und familienunterstützenden und -ergänzenden Hilfen im Wesentlichen gelungen ist.

Die ambulanten Jugendhilfen gingen aus einem hauptsächlich ehrenamtlich organisierten Bereich der Jugendhilfe hervor. Dies wirkt sich bis heute auf die Trägerlandschaft für diese Hilfearten aus. Insgesamt ist das Geschehen bei den ambulanten Einzelbetreuungen deutlich marktförmiger und zersplitterter strukturiert als bei den anderen Hilfen zur Erziehung. Die öffentlichen Träger und großen Wohlfahrtsverbände sind [33] weniger präsent. Dagegen sind privatwirtschaftliche Unternehmen doppelt so häufig aktiv. Vereinzelt werden Ambulante Einzelbetreuungen immer noch von Honorarkräften durchgeführt. Die Wahl der Hilfeart und die Organisation der Hilfe hat Einfluss auf die Kosten, die den Jugendämtern entstehen. Zurzeit liegen die Kosten, die ein freier Träger der Jugendhilfe einem Jugendamt für eine durchgeführte Fachleistungsstunde ambulanter Jugendhilfe (Sozialpädagogische Familienhilfe oder Erziehungsbeistandschaft) in Rechnung stellt, bei ca. 45–55 €. Ein fest angestellter Sozialpädagoge verursacht dem anstellenden öffentlichen oder freien Träger Kosten von ca. 45 €.18 Unter reinen Kostengesichtspunkten beinhaltet die Beschäftigung von Honorarkräften für die kommunalen Auftraggeber ein erhebliches Einsparpotenzial, vor allem wenn zusätzlich Maßnahmen zur Qualitätssicherung und -entwicklung eingespart werden.

Im Gesetzestext des Kinder- und Jugendhilfegesetzes war die Erziehungsbeistandschaft ursprünglich als eher niedrigschwellige familienunterstützende Hilfe angedacht, wogegen die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII zu den Maßnahmen höchster Intensität gehörte noch jenseits der aufwändigen und kostenintensiven stationären Maßnahmen. Diese Spannbreite hat sich mit mittleren Stundenzahlen zwischen fünf und sieben Stunden in der Woche angeglichen. Hinsichtlich der Dauer lagen sie bei durchschnittlich etwa einem Jahr.

Wen erreicht die Hilfe?

Die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik bildet auch ab, bei welchen Zielgruppen die ambulante Einzelbetreuung bevorzugt eingesetzt wird.

Männliche junge Menschen sind in der ambulanten Einzelbetreuung dauerhaft überrepräsentiert. Bei den Hilfen zur Erziehung lag der Anteil der Jungen 2009 bei 60 % und bei den am 31.12.2015 laufenden ambulanten Hilfen nach §§ 30 und 35 SGB VIII lag der Anteil mit 61,3 % leicht darüber.

Der deutliche und anhaltende Überhang männlicher junger Menschen in der Jugendhilfe ist eine viel diskutierte Tatsache, die sich bislang kaum in die eine oder andere Richtung verändert. Heranwachsende Jungen zeigen mehr Verhaltensauffälligkeiten und sind häufiger delinquent. Bei den psychischen Störungen zeigen Jungen mehr Aggression und mehr Verhaltensauffälligkeiten, wogegen Mädchen unauffälliger bleiben. Das Leistungsversagen vieler Jungen in der Schule und ihre Schwierigkeiten sich sozial zu integrieren ist häufig Thema der Medien, wobei unterschiedliche Ursachen kontrovers diskutiert werden. Betrachtet man die geschlechtsspezifische schulische Leistungsfähigkeit im Verhältnis zu den anschließenden beruflichen Karrierechancen, zeigen Mädchen und Jungen dauerhaft stabile Diskrepanzen: Mädchen zeigen traditionell bessere Schulleistungen und kommen durchschnittlich mit den schulischen Verhaltensanforderungen besser zurecht. Dagegen sind weiterhin trotz durchschnittlich deutlich [34] größerer Anpassungsprobleme in der Schule die meisten Jungen bei der Durchsetzung beruflicher Karrieren im Vorteil. Gleichzeitig ist unter den Jugendlichen ohne Schulabschluss die Gruppe der männlichen Jugendlichen wesentlich größer. Die Situation dieser Gruppe lässt sich nur schwer durch außerschulische Hilfen im Übergangssystem verbessern.

In der Jugendhilfe werden nicht nur deutlich mehr Hilfen bei Jungen und männlichen jungen Erwachsenen eingesetzt, diese sind auch intensiver und dauern länger. Ähnlich wie in der Schulpädagogik ergibt sich die Situation, dass der höhere Förderbedarf der Jungen überwiegend durch weibliches Personal umgesetzt wird. Diese „Feminisierung“ der Pädagogik wird im öffentlichen Diskurs zum Teil für die diskrepanten geschlechtsspezifischen Ergebnisse verantwortlich gemacht. Doch alle statistischen Hinweise zeigen zumindest bezogen auf die Schulpädagogik das Gegenteil: In der Grundschule, wo der Anteil von Frauen am größten ist, ist das Gender-Gap in der Leistungsbeurteilung am geringsten, am Gymnasium mit dem größten Anteil männlicher Lehrer am größten. Lehrer bewerten Jungen durchschnittlich schlechter und männliche Lehrkräfte sind bei Jungen weniger beliebt. Vor allem im kritischen Diskurs um Jungenarbeit (beispielhaft Cremers 2011) wird die Konstruktion und Kritik von Geschlechtsstereotypen und die Rolle der Pädagogik dabei diskutiert. Während auf der einen Seite jungenbezogene Angebote durch männliche Pädagogen gefordert werden, macht die andere Seite auf Problematiken der Verfestigung traditioneller und wenig hilfreicher Männlichkeitsnormen in Jungengruppen aufmerksam.

Betrachtet man die Alterszusammensetzung, liegt bei allen ambulanten Einzelbetreuungen die Hauptzielgruppe bei den 15–18-Jährigen gefolgt von den 18–21-Jährigen bei den intensiven ambulanten Einzelbetreuungen (§ 35 SGB VIII) mit knapp 29 % und den 12–15-Jährigen bei den Erziehungsbeistandschaften und Betreuungsweisungen (§ 30 SGB VIII). Unter 9-Jährige werden selten betreut.

Etwa 83 % aller ambulanten Einzelbetreuungen werden mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 12 und 21 Jahren durchgeführt. Davon etwa die Hälfte sind im Alter zwischen 15 und 18 Jahren.

Die Themen dieser Hilfeart werden durch die Entwicklungsaufgaben der brisanten Lebensphase Jugend bestimmt: Die langsame Ablösung aus der Familie und zunehmende Verselbstständigung, der Übergang zwischen Schule und Beruf bei der Bildungslaufbahn und die sexuelle und soziale Entwicklung. Ambulante Einzelbetreuung wird in vielen Fällen als Maßnahme zur Begleitung dieser Übergänge eingesetzt.

In den letzten Jahren ließ sich häufig feststellen, dass Migrantinnen und Migranten an den wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsangeboten nicht entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil partizipierten. Dies galt auch für die Hilfen zur Erziehung. Für die Ambulanten Einzelbetreuungen lässt sich das nicht nachweisen. Mit einem Anteil von 31 % an den Ambulanten Einzelbetreuungen zum Jahresende 2015 und einem Zuwachs von 29 % gegenüber den Daten des statistischen Bundesamtes von 2008 sind migrantische Jugendliche in den ambulanten einzelfallbezogenen Hilfen teilweise sogar überrepräsentiert.

Es gibt einen ausgeprägten Zusammenhang zwischen Sozialleistungsbezug und der Nutzung der Hilfen zur Erziehung. Der Anteil der Sozialleistungsempfänger bei den Hilfen zur Erziehung insgesamt liegt bei 43 % (2009).

Der Alleinerziehendenstatus, der ein erhebliches Armutsrisiko beinhaltet, erhöht die Wahrscheinlichkeit, Hilfen zur Erziehung in Anspruch zu nehmen, ebenfalls. 2007 hatten Alleinerziehende gegenüber nicht Alleinerziehenden eine fünffach erhöhte Erziehungshilfequote. Für diese Bevölkerungsgruppe lag der Anteil der Sozialleistungsempfänger[35] bei 70 %. Dabei waren es vor allem die familienergänzenden Hilfen, darunter die ambulante Einzelbetreuung und die Familienhilfe, die von diesem Klientel in Anspruch genommen wurde, weniger die Erziehungsberatung und die Hilfen bei seelischer Behinderung (§ 35a SBG VIII).

Nicht nur die Hilfen zur Erziehung insgesamt werden sozial selektiv genutzt, sondern bei den ambulanten Erziehungshilfeangeboten ist die soziale Selektivität noch einmal erhöht. Deren Klientel ist in weiten Teilen durch eine ungünstige finanzielle Lage verbunden mit großen sozialen Problemen gekennzeichnet. Beim Jugendamt des Landkreises Göttingen zeigte ein Vergleich von 383 Maßnahmen der ambulanten Einzelbetreuung mit 444 Maßnahmen der Sozialpädagogischen Familienhilfe aus den Jahren 2004–2008, dass die ökonomische Lage bei der ambulanten Einzelbetreuung sogar noch bedrückender war als in der sozialpädagogischen Familienhilfe. Ökonomische Probleme wurden um die Hälfte häufiger genannt, Delinquenz und Inhaftierung von Eltern war häufiger Hilfeanlass und die Beziehungen der jungen Menschen zum sozialen Umfeld waren deutlich schlechter.

Ambulante Einzelbetreuung setzt also als Hilfeangebot am unteren sozialen Spektrum an. Es werden oft mehrfach benachteiligte junge Menschen betreut, bei denen kaum finanzielle, soziale und bildungsbezogene Ressourcen vorhanden sind. Sozialpolitisch besonders problematisch ist der Umstand, dass ausgerechnet bei einem extrem benachteiligten Klientel die Qualitätsstandards nicht gesichert sind und die Kostenaspekte eine große Rolle spielen.

Ambulante Einzelbetreuung – Stiefkind der Jugendhilfe

Die ambulanten Jugendhilfeangebote Erziehungsbeistandschaft und Sozialpädagogische Familienhilfe verzeichneten nach der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes gleichermaßen hohe Zuwachsraten. Dabei galt vor allem die sozialpädagogische Familienhilfe als Hoffnungsträger für diejenigen, die vom KJHG einen Paradigmenwechsel erwartet hatten. Alltagsorientierte und unterstützende Angebote sollten die bisherige Eingriffsorientierung ablösen, die Erziehungskompetenz der Familien stärken und damit für Kinder und Jugendliche die Bedingungen des Aufwachsens innerhalb der Herkunftsfamilie nachhaltig verbessern. Die sozialpädagogische Familienhilfe schien all diesen Erwartungen ideal zu entsprechen. Ihr Ausbau war von einem intensiven Professionalisierungsschub getragen. In öffentlich geförderten Expertisen wurde eine elaborierte arbeitsfeldspezifische Methodik erarbeitet und Qualitätsstandards festgelegt (beispielhaft: Helming, Schattner, Blüml 19993). Dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Qualifizierungsniveau der Fachkräfte. Träger bildeten hilfeartspezifische Angebotsstrukturen aus. Als Ergebnis entwickelte sich die Sozialpädagogische Familienhilfe von einem in früheren Jahren überwiegend ehrenamtlichen Tätigkeitsfeld zu einem professionalisierten, strukturierten und anerkannten Bereich der Jugendhilfe. Die Hilfeart ist als Arbeitsschwerpunkt auf Hochschulebene präsent und wird regelmäßig durch empirische Studien begleitet und evaluiert.19 Sozialpädagogische Familienhilfe [36] ist zu einem mindestens gleichberechtigten Standardangebot der Hilfen zur Erziehung geworden.

Für die Erziehungsbeistandschaften, den weitaus größten Anteil der ambulanten Einzelbetreuungen, ist eine vergleichbare Entwicklung ausgeblieben. Obwohl sie zahlenmäßig ebenfalls sehr stark zunahmen, entwickelte sich weder ein nennenswertes wissenschaftliches noch ein erkennbares methodisches Interesse. Bis auf eine Studie von Fröhlich-Gildhoff (2003) gibt es kaum empirische Literatur zu dieser Hilfeart, keine Forschung zu methodischen Weiterentwicklungen und keine wissenschaftlichen Evaluationen. Die verbreiteten niedrigschwelligen Betreuungsangebote mit geringen wöchentlichen Stundenzahlen blieben vom fachlich-methodischen Diskurs und von der strukturellen und wissenschaftlichen Weiterentwicklung weitgehend ausgeschlossen, obwohl die Betreuungszahlen weiterhin ansteigen.

 

Der geringen Aufmerksamkeit der Fachwelt entspricht eine heterogene und fast zufällig scheinende Umsetzung der Maßnahmen. Dabei existieren für den Tätigkeitsbereich keine spezifischen Mindestqualitätsstandards oder Strukturvorgaben.

Auch hinsichtlich der Indikationsfrage gibt es Verbesserungsbedarf. Schon bald nach der Einführung des KJHG wurde die Indikations- und Hilfeplanungspraxis der Allgemeinen Sozialen Dienste der Jugendämter allgemein kritisiert. So wird von der Jugendhilfe-Effekte-Studie (Schmidt, Schneider, Hohm, Pickartz, Macsenaere, Petermann, Flosdorf, Hölzl, Knab: 2002) über die Aufsatzsammlung „Was tun mit schwierigen Kindern?“ (Henkel, Schnapka, Schrapper 2002) bis zu Sabine Aders „Was leitet den Blick?“ (2006)20 durchgängig kritisiert, dass die Zuweisungen von Jugendhilfemaßnahmen willkürlich und hinsichtlich der zu bearbeitenden Problematik und der angestrebten Ziele zu wenig durchdacht sind. Besonders die ambulanten Einzelbetreuungen werden in der Jugendhilfe als unspezifisches Allheilmittel eingesetzt. Das mangelnde Methoden- und Wirkungswissen führt dazu, dass die Hilfe für beinahe jede Problematik, jedes Alter und bei beliebiger Problemintensität eingesetzt wird. Ausschlusskriterien scheint es keine zu geben. Hinsichtlich der Höhe der Stundenzahlen und der Kontaktfrequenz lässt sich kein Zusammenhang zwischen dem Maßnahmezuschnitt und der Intensität der Problematik feststellen. Für welche Zielgruppen und Problematiken sich diese Jugendhilfemaßnahme eignet oder nicht eignet, durch welche Hilfen sie gegebenenfalls sinnvoll ergänzt werden kann und – was wichtiger wäre – wo die Grenzen der Hilfeart liegen, ist bisher unbestimmt.

Möglicherweise entspricht dem geringen fachlichen und strukturellen Status der ambulanten Einzelbetreuung ein geringer Wirkungsgrad. In der großen Jugendhilfe-Effekte-Studie (Schmidt, Schneider, Hohm, Pickartz, Macsenaere, Petermann, Flosdorf, Hölzl, Knab) von 2002, die längsschnittlich über drei Messzeitpunkte die Wirkungen verschiedener Jugendhilfemaßnahmen erhob und miteinander verglich, wurde die Prozess-, Struktur- und Ergebnisqualität der untersuchten Erziehungsbeistandschaften im Vergleich zu den übrigen Erziehungshilfen als wenig günstig und die Hilfeform insgesamt als erschreckend gering wirksam beurteilt.

„Hilfen im Rahmen von Erziehungsbeistandschaften versorgten eine eher ungünstige Klientel. Die schwachen Prognosen für deren Entwicklung könnten durch vertiefte Diagnostik verbessert werden. Bei niedriger Strukturqualität und mittlerer Prozessqualität zeigte diese Hilfeform die höchste Rate an Abbrüchen; diese werden häufig vom Jugendamt und der hilfeleistenden Institution gemeinsam verantwortet. Die in dieser Hilfeform erzielten Wirkungen waren relativ schwach. Symptomreduktion und Kompetenzsteigerung gelangen [37] nur unterdurchschnittlich, die Beeinflussung des Umfeldes durchschnittlich. Schwierigkeiten bereitete die Herstellung einer ausreichenden Kooperation mit dem Kind oder seinen Eltern.“21

Die Erkenntnisse der Jugendhilfe-Effekte-Studie zur Erziehungsbeistandschaft sind ernüchternd, obwohl es sich schon im Untersuchungszeitraum um eine der ältesten, der am häufigsten durchgeführten und damit um eine außerordentlich erprobte Jugendhilfemaßnahme handelte. Bei unklarer Indikation und unspezifischem Einsatz wurden Familien mit den höchsten Problematiken umfasst, die durchschnittlich ältesten Kinder mit den schlechtesten Prognosen und der höchste Migrationsanteil aller Jugendhilfemaßnahmen. Der Anteil der Abbrüche (43 %) war unter allen Jugendhilfemaßnahmen am höchsten und die durchschnittliche Dauer am geringsten. Die Erziehungsbeistandschaft hatte insgesamt die geringsten Wirkungen und die geringste Zielerreichung von allen Jugendhilfen, ihre Strukturqualität war im Vergleich am geringsten und hohe Problembelastung und geringer Aufwand trafen aufeinander.

Wie die Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik zeigen, liegt das Erfolgsniveau der ambulanten Einzelbetreuungen noch immer deutlich unter dem Durchschnitt aller Hilfen zur Erziehung. Einer immensen Problembelastung steht eine Hilfe gegenüber, die mit Recht Stiefkind der Jugendhilfe genannt werden kann. Das geringe Engagement des Sozialstaats, der Träger und der Fachöffentlichkeit ist auch aus humanitären Gründen nicht vertretbar, da die Hilfeform offenbar bevorzugt bei besonders benachteiligten jungen Menschen eingesetzt wird. Ähnliches gilt für Betreuungsweisungen, also für die Erziehungsbeistandschaften, die bei Delinquenz auf Weisung der Gerichte anstelle von Sanktionen angeordnet werden. Auch hier existiert kein Methoden- und Wirkungsdiskurs, der über eine allgemeine Verurteilung des Zwangscharakters der Maßnahmen hinausgeht, und dies, obwohl diese Maßnahmen ausgesprochen problembelastete und benachteiligte Fälle versorgen, die kurz vor der Schwelle zum Erwachsenwerden und oft an einem biografischen Scheideweg zwischen gelingendem sozialem Anschluss und kriminellem Werdegang steht. Gelingt zu diesem Zeitpunkt eine Integration in die Bildungsinstitutionen und eine Normalisierung des Lebenslaufs auch mit Unterstützung von Jugendhilfe nicht mehr, sind die negativen Folgen später meist nicht mehr einzuholen. Wenn Jugendhilfemaßnahmen an dieser Schaltstelle der Biografie versagen, steigt das Risiko, dass eine selbstgestaltete und integrierte Lebensführung endgültig misslingt.

Merkmale des Angebots

In der Ausführung und im Setting weist die ambulante Einzelbetreuung charakteristische Merkmale auf, durch die sich das Hilfeangebot von den anderen Hilfen zur Erziehung unterscheidet (s. Tabelle 2).

[38]Tabelle 2: Überblick über die Merkmale des Angebots


Ort der HilfeWohn- und Lebensort des jungen Menschen unter Einbeziehung des sozialen und institutionellen Umfelds
SettingEins- zu- eins- Kontakt, Beziehungsarbeit
Problemlagennicht näher eingegrenzt, oft diffus
Zielgruppenicht näher eingegrenzt
Funktionmultifunktional, unspezifisch
Intensitätgeringe Intensität und Struktur, niedrigschwellig – die meisten Maßnahmen < 10 h/Woche, durchschnittl. 6–7 h/Woche

Quelle: Eigene Darstellung.

Ort der Hilfe

Das lateinische Verb ambulare bedeutet umhergehen, spazieren gehen. Ambulante – d.h. zugehende – Soziale Arbeit ist im Gegensatz zu stationärer – d.h. in einer stationären Einrichtung erbrachter – Sozialer Arbeit definiert. Der Wortgebrauch leitet sich ursprünglich aus der Medizin ab.

Arbeitsort der ambulanten Einzelbetreuung ist der Lebensort des jungen Menschen. Dies kann die Herkunftsfamilie sein, der eigene Haushalt, die Pflegefamilie, in der er lebt, die Freunde, bei denen er vorübergehend untergekommen ist. Sogar wenn der junge Mensch obdachlos ist, stellt das kein Hindernis für die Betreuung dar. Das Hilfeangebot ist nicht an Mindestbedingungen geknüpft und passt sich flexibel der jeweiligen Wohnsituation an, unabhängig von Milieus und Beziehungsstrukturen, solange ein Umzug des betreuten jungen Menschen oder seiner Eltern nicht zu einem Wechsel der Zuständigkeit des jeweiligen Jugendamtes führt. Die Hilfe bindet sich nicht an bestimmte Lebensstrukturen, sondern in erster Linie an die Person, mit der gearbeitet wird.

Die alltagsnahe Erbringung von Hilfen gilt im Sinne einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit (s.u.) als fachlich erstrebenswert, stellt aber die Betreuerinnen und Betreuer vor besondere Schwierigkeiten. Während im stationären und teilstationären Kontext ungünstige Lebensbedingungen durch eine Eigenstruktur des Hilfeangebots ersetzt werden können, muss die ambulante Betreuungsperson auf der Basis des Vorgefundenen arbeiten, wie mangelhaft und unbefriedigend es auch immer ausgestaltet ist. Mängel können in einem ungenügend eingerichteten Zimmer eines jungen Menschen bestehen, in dem mangels Tisch oder mangels Ruhe weder ein ungestörtes Gespräch noch das Anfertigen der Hausaufgaben möglich sind, oder darin, dass die familiäre Interaktion die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Reflexion behindert. Das Lebensumfeld des jungen Menschen gibt den Handlungsrahmen und die -möglichkeiten für die ambulante Einzelbetreuung vor. Dies gilt für die materiellen, räumlichen und sozialen Lebensbedingungen. Aufgabe der ambulanten Einzelbetreuung ist, aus den gegebenen Voraussetzungen heraus das Verhalten des jungen Menschen zu verbessern. Damit obliegt die gesamte Veränderungslast der Betreuungsperson und den persönlichen und methodischen Kompetenzen, die sie vor Ort umsetzen kann.