Handbuch Ambulante Einzelbetreuung

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■ Die Einzelbetreuerin und der Einzelbetreuer sind angehalten die Partizipation des betreuten jungen Menschen in der Hilfeplanung so weitgehend wie möglich zu unterstützen (§ 8 und § 36 SGB VIII). Dies geschieht, indem die dazu notwendigen sozialen und Kommunikationskompetenzen angeeignet, die Reflexion, Formulierung und angemessene Durchsetzung der eigenen Interessen geübt, gemeinsam Planungs-, Verhandlungs- und Lösungsstrategien in der Auseinandersetzung mit anderen praktiziert werden und der Umgang mit Behörden und Institutionen trainiert wird. Die Jugendhilfemaßnahme und der sie begleitende Hilfeplanungsprozess ist selbst ein wesentliches Übungsfeld für die Haltungen und Kompetenzen, die gesellschaftliche Teilhabe und die Übernahme einer aktiven und verantwortungsvollen Rolle im Gemeinwesen ermöglichen. Dies kann nicht in Form von Anordnungen geschehen, sondern der Hilfeplanungs- und Hilfegestaltungsprozess als solcher muss von den Fachkräften so entworfen und umgesetzt werden, dass dem jungen Menschen die Vorteile eines kooperativen und demokratischen Verhaltens überzeugend erscheinen.

■ Die ambulante Einzelbetreuung beinhaltet gleichfalls die Aufgabe, eine demokratische Aushandlungspraxis in den betreuten Familien ausdrücklich zu unterstützen, die dazu notwendigen Haltungen und Kompetenzen bei allen Beteiligten zu fördern, auf eine demokratisch-partizipative Erziehung zu drängen und die dazu notwendigen Methoden zu vermitteln. Dies betrifft unmittelbar das gelebte Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Über den advokatorisch-parteilichen Auftrag gegenüber dem betreuten jungen Menschen hinaus folgt aus dieser Vorgabe, dass nicht seine Interessenvertretung um jeden Preis, sondern lösungsorientierte und auf Aushandlung und Ausgleich von Interessengegensätzen ausgerichtete kooperative Kommunikationsstrategien im Vordergrund der Maßnahme stehen müssen.

■ Bildungsinstitutionen sind nicht nur Einrichtungen sozialer Auslese, sondern sie können – und sollen zunehmend – als Ermöglichungsinstitutionen für individuelle Entwicklung und die Erschließung gesellschaftlicher Teilhabe für bildungsferne und benachteiligte junge Menschen nutzbar werden. Der Auftrag der Jugendhilfe und damit auch der Einzelbetreuung besteht also nicht in der Reproduktion des Anforderungsdrucks, den Schulen und Ausbildungsinstitutionen immer noch überwiegend hervorbringen, sondern in einer Umgestaltung des Bildungssystems in einen zugänglichen Raum für Handlungsmöglichkeiten, Gemeinschaftsgefühl, das Erleben von Sinn und das Entwickeln und Ausleben persönlicher Perspektiven.

Nicht zuletzt gehört zu den übergeordneten Aufgaben der Jugendhilfe, dem jungen Menschen die menschliche Gesellschaft als Horizont zur Verwirklichung individueller Möglichkeiten zugänglich zu machen. Mobilität muss gelernt, soziale und kulturelle Schwellen müssen abgebaut, kulturelle, musische und sportliche Betätigung geübt, Interesse an der natürlichen und sozialen Umwelt gepflegt und insgesamt eine angemessene und aktive Aneignung gesellschaftlicher Wirklichkeit praktiziert werden. Die Ächtung von gewalttätigen, andere schädigenden Strategien, eine respektvolle und[49] tolerante Haltung gegenüber anders Denkenden und Fühlenden und die Anerkennung der grundsätzlichen Gleichberechtigung aller Menschen ist unverzichtbarer Teil des Jugendhilfeauftrags.

Tabelle 3: Gesetzliche Orientierungen im Überblick


ParagrafenOrientierungen
§ 30 SGB VIII Erziehungsbeistandschaft, BetreuungsweisungVerselbstständigung und Autonomie fördern
Bewältigung von Entwicklungsproblemen unterstützen
Lebensweltorientierung
Erhalt des Lebensbezugs zur Familie
§ 35 SGB VIII Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuungsoziale Integration unterstützen
Autonomie fördern
AdressatInnenorientierung (Orientierung an den individuellen Bedürfnissen des jungen Menschen)
§ 5 SGB VIII Wunsch- und WahlrechtAdressatInnenorientierung
§ 8 SGB VIII Beteiligung des jungen MenschenPartizipation des jungen Menschen fördern
§ 16 SGB VIII Allgemeine Förderung der Erziehung in der FamilieGewaltfreiheit fördern
§ 36 GB VIII Mitwirkung, HilfeplanPartizipation der Eltern und des jungen Menschen fördern
§ 6 GG, KKGFörderung der Familie
§ 1631 BGBRecht auf gewaltfreie Erziehung
§ 1666 BGB, KKGKinderschutz, staatliches Wächteramt

Quelle: Eigene Darstellung

Hilfe am Limit

Als Voraussetzung für die Hilfegewährung einer Jugendhilfeleistung nennt das Kinder- und Jugendhilfegesetz unter anderem die Geeignetheit und Notwendigkeit des jeweiligen Hilfeangebots (§ 27 SGB VIII). Obwohl dieses Kriterium im KJHG prominent platziert ist, sind die Grenzen der Hilfeangebote selten Thema der Fachdiskussionen. Aufgrund der jeweils spezifischen Rahmenbedingungen und Methoden sind nicht alle Hilfearten für die Bearbeitung aller Problematiken gleichermaßen geeignet. Bei welchen Problematiken gerät eine Hilfeart an ihre Grenzen? Wann also eignet sich eine Hilfe wie die ambulante Einzelbetreuung nach fachlichem Ermessen nicht für eine [50]Problembearbeitung und wann sollte sie durch ein anderes, geeigneteres Angebot ersetzt oder ergänzt werden?

Auch wenn die ambulante Einzelbetreuung ein außerordentlich flexibles Hilfeangebot ist, das aufgrund der geringen Strukturiertheit prinzipiell an beinahe jeden lebensweltlichen Kontext angepasst werden kann, entfaltet sie ihre Wirkung doch nur innerhalb der Grenzen ihres Betreuungssettings und ihren an zugehender, lebensweltorientierter Arbeit ausgerichteten Rahmenbedingungen.

Sozialkompetenzprobleme und Verhaltensauffälligkeiten junger Menschen stellen Problematiken dar, die häufig Hilfeanlass für eine ambulante Einzelbetreuung werden. Sozialer Rückzug und Isolation, unangemessenes Verhalten gegenüber anderen bis zur Übergriffigkeit und Aggressivität, Unruhe und Opposition in der Schule und allgemeine Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit Gleichaltrigen gehören dazu. Soziales Lernen lässt sich aber in einem Eins-zu-eins-Kontakt nur eingeschränkt einüben, vor allem, wenn sich die sozialen Probleme des jungen Menschen in der Hauptsache auf Gleichaltrige oder einen speziellen Kontext wie die Schule beziehen. Zwar kann die Einzelbetreuung einen Reflexionsrahmen für die problematischen Verhaltensweisen des jungen Menschen und die theoretische Entwicklung alternativer Strategien bieten, aber um die Praxis im natürlichen Umfeld zu üben sind Gruppenkontexte notwendig, die denen ähneln, in denen die sozialen Schwierigkeiten der betroffenen Adressatinnen und Adressaten normalerweise auftreten.

So werden bei einer gut funktionierenden Betreuungsbeziehung im Eins-zu-eins-Setting Aggression, Impulsdurchbrüche, Unkonzentriertheit und massive Ängste, die junge Menschen in anderen Kontexten zeigen, nur eingeschränkt oder gar nicht auftreten. Auch das begleitete Aufsuchen von Gruppenkonstellationen verhilft nicht unbedingt zu sozialem Lernen, denn die Anwesenheit der betreuenden Fachkraft und das berechtigte Vertrauen des jungen Menschen darauf, dass diese auftretende Schwierigkeiten lösen werden, mindert den empfundenen Stress und führt damit zu einer Verminderung des Lernanreizes und der persönlichen Lösungsverantwortung.

Grundsätzlich ist die sozialpädagogische Bearbeitung von sozialen Kompetenzdefiziten, die vor allem in Gruppensituationen auftreten, nur im Gruppenkontext möglich. Um diesen Nachteil auszugleichen, wurden in den letzten Jahren flexible Hilfen entwickelt, bei denen dynamische Kombinationen aus Einzel- und Gruppenbetreuung möglich sind und bei denen in einem Stufenmodell auf eine zunehmende Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des sozialen Handelns auch unter herausfordernden Bedingungen hin gearbeitet werden kann (s. Kap. Kombinations- und Gruppenangebote).

Bei ernsthaften Alltagsstrukturproblemen, massiver Schulverweigerung oder manifesten Essstörungen gelangt ambulante Einzelbetreuung ebenfalls schnell methodisch an ihre Grenzen. Diese sehr unterschiedlichen Problematiken haben gemeinsam, dass ihre Bearbeitung eine starke, konsequente und den gesamten Alltag umfassende Strukturierung verlangt, die familiäre Lebenswelt diese aber nicht bietet und die jungen Menschen eigenverantwortlich noch nicht dazu in der Lage sind. Nur wenn die Familie ein Mindestmaß an Mitarbeitsbereitschaft und Konsequenz in der Umsetzung zeigt, kann die Bewältigung dieser Probleme mit Hilfe ambulanter Jugendhilfe gelingen. Der Versuch, mit dem jungen Menschen – unabhängig vom familiären Umfeld und quasi gegen seine Einflüsse anarbeitend – eine gelingende Alltagsstruktur zu installieren, den Schulbesuch und seine alltagsstrukturellen Voraussetzungen zu gewährleisten oder ein verändertes Essverhalten umzusetzen, ist ein praktisch aussichtsloses Unterfangen. Es kann vorkommen, dass Eltern verbal die Ziele und Maßnahmen der Einzelbetreuung unterstützen, die erforderlichen Umsetzungsschritte aber nicht durchführen oder die Maßnahme sogar[51] unterlaufen. Aufgrund der zeitlich relativ geringen Präsenz der Fachkraft in der Lebenswelt des betreuten jungen Menschen bleibt der Einfluss der Eltern und der Familie gegenüber dem schwächeren Jugendhilfeeinfluss dominant. Die Wirksamkeit der Maßnahme ist folglich von einer kooperativen Einstellung und einem zuverlässig kooperativen Handeln der Familie abhängig.

 

Wenn also erkennbar wird, dass die Familie und die ambulante Einzelbetreuung hinsichtlich der Handlungsstrategien und Ziele der Maßnahme auf keinen gemeinsamen Nenner kommen, muss die Hilfeplanung grundsätzlich überdacht werden. Ambulante Einzelbetreuung kann unter diesen Bedingungen nicht zielführend wirken.

Sucht, Gewalt und Delinquenz sind im ambulanten Setting gleichfalls kaum erfolgreich umfassend zu bearbeiten, wenn die Problematik so schwerwiegend ist, dass umfassende Kontrolle und Unterstützung durch einen strukturierten Rahmen notwendig werden. Innerhalb der ambulanten Einzelbetreuung ist umfassende Kontrolle nicht umsetzbar. Punktuelle Überprüfungen von Verabredungen bezüglich des Schulbesuchs, des Wohnungszustands oder der Cannabisabstinenz sind allerdings ohne Weiteres mit dem ambulanten Unterstützungsauftrag vereinbar. Auch schließen sich eine vertrauensvolle Beziehungsarbeit und Kontrolle nicht automatisch gegenseitig aus.

Eher selten wird ambulante Einzelbetreuung in Fällen mit nachgewiesener oder vermuteter Kindeswohlgefährdung eingesetzt. Dies geschieht manchmal, weil keine ausreichenden gerichtlich verwertbaren Anhaltspunkte vorliegen und die Eltern einer weiter gehenden Jugendhilfemaßnahme nicht zustimmen. Diese Maßnahmen beinhalten einen impliziten Kontrollauftrag und sind für die durchführenden Betreuungspersonen außerordentlich belastend. Die Sicherung des Kindeswohls kann auf diese Weise nicht garantiert werden. Wird der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung ernsthaft erwogen, sollte bei zweifelhafter Kooperationsbereitschaft der Eltern und fehlenden Kontrollmöglichkeiten der Gang zum Familiengericht nicht gescheut werden.

Abschließend muss noch auf die mangelnde Mitwirkungsbereitschaft junger Menschen als wirkungsbegrenzender Faktor der ambulanten Einzelbetreuung eingegangen werden. Tatsächlich lassen sich Erfolge mit dieser Hilfeart nur erzielen, wenn sich auf die Dauer eine gemeinsame Arbeitsbasis zwischen der betreuenden Person und dem betreuten jungen Menschen erarbeiten lässt. Das ist nicht immer gegeben. Äußern Adressatinnen und Adressaten wiederholt ihre mangelnde Bereitschaft, sich auf die Maßnahme einzulassen und aktiv mitzuarbeiten, und spiegelt sich diese Haltung dauerhaft in ihren Handlungen, sei es, dass sie Termine nicht einhalten oder das Gespräch verweigern, ist ein Erfolg der Maßnahme kaum zu erreichen.

Handelt es sich bei der ambulanten Einzelbetreuung um eine Jugendhilfemaßnahme für junge Erwachsene nach § 41 SGB VIII, sollte die Gewährung der Maßnahme an eine aktive Mitverantwortung und Mitwirkung des oder der jungen Erwachsenen gebunden sein.

14 Informationen zur Entstehung und Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfestatistik: Schilling 2002.

15 Weitere Internetquellen befinden sich im Anhang.

16 Sämtliche Daten im folgenden Text – soweit nicht anders angegeben – sind der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik in der zur Zeit der Entstehung dieses Buches aktuellsten Fassung entnommen.

17 Schone und Schrapper propagierten schon 1988, dass ambulante Hilfen stationäre ersetzen könnten (Schone, Schrapper 1988: 53).

18 Entsprechend den Tabellen der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) sind die durchschnittlichen Arbeitskosten eines Büroarbeitsplatzes in der Entgeltgruppe S11 (Sozialpädagoge/ Sozialarbeiter) in den letzten Jahren gesunken und liegen aktuell bei kaum über 40 €. Dies ist u.a. durch die Gehaltseinschnitte bei der Einführung des TvöD und die geringen Zuwächse und die unübersichtliche Entgeltdifferenzierung bei den letzten Tarifrunden verursacht.

19 Wichtig ist hier die Arbeit von Klaus Wolf an der Universität Siegen. Beispielhafte Untersuchungen zur Familienhilfe: Petko 2004, Schrödter, Ziegler 2007.

20 S. auch Fröhlich-Gildhoff 2002.

21 Schmidt, Schneider, Hohm, Pickartz, Macsenaere, Petermann, Flosdorf, Hölzl, Knab: 2002, 39.

22 Die neue Formulierung in § 8 SGB VIII Abs. 3 lautet: „Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Beratung ohne Kenntnis des Personensorgeberechtigten, wenn die Beratung auf Grund einer Not- und Konfliktlage erforderlich ist und solange durch die Mitteilung an den Personensorgeberechtigten der Beratungszweck vereitelt würde.“ Die Kann-Bestimmung im Kinder- und Jugendgesetz wurde in eine Verpflichtung umgewandelt, die aber immer noch eng an die als primär angesehene Beratung der Eltern gebunden ist.

23 Daten von 2009 der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik, www.destatis.de.

[52][53]Handlungsorientierungen

Case Work oder Case Management?

In der Sozialen Arbeit haben sich im Prozess ihrer Professionalisierung einige Arbeitsprinzipien etabliert. Der Begriff der Arbeitsprinzipien stammt aus einer Systematik, die von Maja Heiner u.a. entwickelt wurde und bezeichnet umfassende und relativ abstrakte Handlungsorientierungen, die unabhängig von Arbeitsfeldern, Rahmenbedingungen und Methoden umgesetzt werden können (Heiner, Meinold, Staub-Bernasconi 1995: 291ff.). Manche dieser Arbeitsprinzipien sind für die Fallarbeit besonders relevant. Sie gehen zum Teil auf Einzelkonzepte bestimmter Autoren zurück. Beispielhaft ist Hans Thierschs Ansatz der Lebenswelt- oder Alltagsorientierung (vgl. Thiersch 2006, 20098, Thiersch, Grunwald 2008). Zu einem anderen Teil handelt es sich auch um Leitkonzepte, die sich in der Praxis etabliert haben, ohne als Methode umfassend ausformuliert und operationalisiert zu sein,24 die im Kinder- und Jugendhilfegesetz Eingang gefunden haben25 oder unter deren Überschrift sich verschiedene Positionen zusammen finden.26 Arbeitsprinzipien dienen im beruflichen Alltag als Richtlinien des Handelns (Petko 2004: 32ff.), stehen aber manchmal miteinander im Widerspruch (Winkler 2001: 253).

Bei der ambulanten Einzelbetreuung stellt die Beziehung zwischen Betreuungsperson und betreuter Person das tragende Element der Hilfe dar. Genau dies bietet immer wieder Anlass für Kritik. Kritisiert werden die mit den emotionalen Komponenten der Arbeitsbeziehung verbundenen Manipulationsmöglichkeiten und die Verflechtung staatlich reglementierter Wohlfahrt mit privater Beziehungs- und Alltagsgestaltung (u.a. Fröhlich-Gildhoff 2003: 58, Heiner 2007: 19). Die Gefahr der Überschreitung persönlicher und privater Grenzen ist bei der ambulanten Arbeit besonders groß und wurde bei der Entwicklung der sozialpädagogischen Familienhilfe in den 80er Jahren als Versuch zur „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (vgl. Habermas 1981, Rauschenbach, Gängler 1984) angeprangert.

Die mangelnde Abgrenzung zwischen wohlfahrtsstaatlicher Aufgabenerfüllung und Beziehungsorientierung ist ein grundsätzliches Problem zugehender Einzelfallarbeit. Der informelle, alltagsnahe und empathische Zugang erschwert es Fachkräften wie Adressatinnen und Adressaten, die Grenze zwischen professionellen Kontakten und privaten Beziehungen jederzeit deutlich zu erkennen und zu ziehen. Soziale Arbeit soll aber transparent und partizipativ ausgestaltet sein. Adressatinnen und Adressaten dürfen nicht emotional verstrickt werden. Sie sollen den Überblick über die Umsetzung und [54]Gestaltung „ihrer“ Hilfe behalten, sie überwachen, steuern und auch eingrenzen können. Beziehungsarbeit nutzt dagegen sehr wohl emotionale Elemente als Zugangs- und Bindungsmittel – dies vor allem bei Adressaten, die schwer erreichbar und besonders benachteiligt sind und von Unterstützungsmaßnahmen besonders profitieren könnten. Mit der Methode des Case Management sollte auf diese Widersprüche zwischen Entscheidungsfreiheit und emotionaler Bindung eine Antwort gefunden werden.

Der mit Mary Richmond als erstes in Verbindung gebrachte Ansatz der Einzelfallarbeit – Case Work – (Richmond 1922) vertritt ein ganzheitliches und relationales Konzept, bei dem Beziehungsarbeit und Sach- bzw. Zielorientierung, Diagnose und Intervention, Umwelt- und Personenbezug untrennbar ineinander greifen. Die Betreuungsarbeit ist nach ihrem Ansatz klassisch-sozialpädagogisch an der Förderung der individuellen Persönlichkeitsentwicklung ausgerichtet und folgt damit dem subjektorientierten Bildungsbegriff des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Betreuungsaktivitäten integrieren Beratungs-, Alltagsbegleitungs- und Kontrollaspekte.

In Deutschland wurde die Methode der Fallarbeit in den 70er und 80er Jahren teilweise auf der Basis einer unvollständigen und tendenziösen Rezeption des ursprünglichen Konzepts Richmonds kritisiert (Müller 20064: 171ff.). Ihr Beziehungsansatz wurde als die Persönlichkeitsgrenzen überschreitend verurteilt und galt als methodisch kaum operationalisierbar. Am individuellen Ansatz der Fallarbeit wurde bemängelt, die Verantwortung für die Lösung sozialer Probleme werde allein bei den Individuen gesehen (Staub-Bernasconi, Meinhold 19984: 362). Strukturelle und gesellschaftliche Problemursachen würden demgegenüber unterschätzt. Auch der potenziell stigmatisierende Effekt einer Identifizierung von Fall und Person in der Fallarbeit wurde kritisiert (Müller 20 064: 34). Allerdings hatte gegen diese Einstellung schon Mary Richmond explizit Stellung bezogen und darauf bestanden, dass Adressatinnen und Adressaten nicht auf ihre Probleme reduziert werden dürften (Richmond 1922: 29).

Infolge dieser Kritik der Fallarbeit als Reaktion auf neue gesellschaftliche Entwicklungen und aufgrund neuer professioneller Optionen differenzierte sich die Methodentrias aus Einzelfallarbeit, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit zunehmend und wurde durch spezialisierte Konzepte wie den Case Management-Ansatz ergänzt. Case Management reagiert auf die ausdifferenzierte Infrastruktur eines entwickelten Sozialstaats und versucht in den Arbeitsbündnisstrukturen der Sozialen Arbeit Selbstbestimmung, Mündigkeit und Steuerungsfähigkeit der Adressatinnen und Adressaten bezüglich der Prozessdynamiken zu erhalten bzw. erst herzustellen. Der Schwerpunkt verschiebt sich daher gegenüber der Case Work auf beratende, koordinierende und netzwerkerschließende Tätigkeiten. Die Betreuungszeiten werden beim Case Management kürzer und projekthafter und das Verhältnis zwischen Betreuungsperson und betreuter Person kühlt auf ein vertraglich geregeltes, zielorientiertes Miteinander ab (Meinhold 20053: 365f.).

Tatsächlich entwickelte sich der Case Management-Ansatz genauso heterogen und vielseitig wie das weiterhin existierende Case Work-Konzept, das durch die neuen Methoden keinesfalls abgelöst wurde. So lassen sich Ansätze dahingehend unterscheiden, ob sie eher an der Infrastruktur (vgl. sozialökologischer Ansatz von Wendt 20084) oder ob sie eher an der individuellen Beziehung zwischen Fachkräften und Adressatinnen und Adressaten (vgl. Neuffer 20094) ansetzen. Bei der Umsetzung von Case Management-Arbeit spielt das jeweilige Tätigkeitsfeld eine große Rolle. Praktiziert in Form sozialer Basisdienste wie Allgemeiner Sozialdienst im Jugendamt oder Sozialpsychiatrischer Dienst wird der Case Management-Ansatz durch eine über längere Zeiträume gestreckte Fallführung umgesetzt. Die eigentliche Durchführung von Hilfen wird an andere Dienste delegiert. In diesen Arbeitsbereichen erfolgt eine Distanzierung[55] zu den Adressatinnen und Adressaten als zwangsläufige Auswirkung der erhöhten Fallzahlen und des Handlungsdruckes. Der Case Management-Ansatz bietet hier eine methodisch saubere Möglichkeit, mit den Realitäten der Arbeit umzugehen und gleichzeitig Ganzheitlichkeit und biografisch relevante Kontinuität für die Adressatinnen und Adressaten auf der Fallführungsebene über Hilfe- und Angebotsübergänge hinweg aufrecht zu erhalten.

Auf der Ebene der Einzelangebote und -hilfen wird derselbe Ansatz meist in Form kurzfristiger, zielbezogener Projekte realisiert, wobei zu Beginn ein Kontrakt über anvisierte Ziele und die zu erbringende Dienstleistung und am Ende die Evaluation der Maßnahme steht. Einige Autoren27 unterscheiden das eigentliche Case Management vom Fallmanagement, das aus einer festgelegten Abfolge von Phasen besteht und bei den Leistungen nach SGB II fest als Arbeitsmethode etabliert ist:28

Intake (oder auch Clearing): Intake ist ein eher technischer, englischer Begriff, der einen Einlassprozess mit einem gewissen Sogeffekt bezeichnet (auch: Einsaugen). In dieser Einstiegsphase der Hilfe erfolgt eine Rollenklärung und Darstellung des zur Verfügung gestellten Hilfeangebots. Die Adressatin oder der Adressat stimmen auf der Basis eines „informed consent“ – einer informierten Entscheidung – der angebotenen sozialen Dienstleistung zu. Dies schließt die detaillierte Aufklärung über die Rechte und Pflichten der Beteiligten und die geltenden Datenschutzbestimmungen ein.

 

Assessment (inkl. Zielvereinbarung): Assessment meint die Abschätzung, Beurteilung und Bewertung der Ausgangssituation. Es handelt sich also um eine Maßnahmephase der Anamnese und Diagnose. Das Assessment erfolgt ressourcenorientiert und in Zusammenarbeit mit der Adressatin oder dem Adressaten und wird systematisch dokumentiert. Hierzu gehört die Herausarbeitung der Ziele, die durch die Hilfe angestrebt werden, damit verbundener Indikatoren, durch die eine spätere Zielerreichung messbar wird, und ein Zeitschema für die Umsetzung.

Service-Planning/Maßnahmeplanung: Auch der Maßnahmeplan soll gemeinsam so erstellt werden, dass die Ressourcen der Adressatin oder des Adressaten möglichst weitgehend genutzt und institutionelle Hilfeangebote erschlossen werden. Der Maßnahmeplan wird verschriftlicht – zum Beispiel in Form eines ratifizierten Gesprächsprotokolls – und erhält auf diese Weise Vertragsstatus.

Monitoring: Die eigentliche Maßnahme wird meist durch beauftragte Leistungserbringer durchgeführt. Der Verlauf wird durch den Case Manager überwacht und gesteuert. Je nach Fortschreiten erfolgt ein regelmäßiges Re-Assessment mit einem Nachjustieren der Hilfeplanziele und Zeitschemata.

Evaluation: Der Hilfeprozess wird durch die abschließend vorgenommene Evaluation – die Erfassung und Auswertung der Ergebnisse und eine Einschätzung des Zielerreichungsgrades – abgeschlossen.

[56]Case Management hat sich außerhalb der eigentlichen Tätigkeitsfelder der Sozialen Arbeit – im Gesundheitssystem oder bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt – leichter und schneller etablieren können als innerhalb. In diesen Humandienstleistungssystemen hilft die Methode, vereinzelte Angebote gezielt zusammen zu führen und aufeinander und auf die Bedarfe der Adressatinnen und Adressaten abzustimmen.

Case Manager werden häufig als Lotsen, Führer, Piloten oder Koordinatoren bezeichnet. Dies betont ihre Hauptaufgabe, die in der Vermittlung vorhandener Angebote liegt. Die ganzheitlichen, lebensweltorientierten und sozialpädagogischen Anteile der Case Work sind in diesem Ansatz nur noch bedingt enthalten. Auf der Ebene der Umsetzungsinstrumente werden die informellen Interaktionen der Case Work teilweise durch formelle, bürokratische und standardisierte Verfahren, zum Beispiel in Form von Verpflichtungspraktiken in Vertragsform, ersetzt (Kontraktmanagement). Der Case Management-Ansatz passt zu einer Vorstellung von Sozialer Arbeit als sozialstaatlich organisierter Humandienstleistung. Adressatinnen und Adressaten werden als freiwillige, selbstbestimmte und kompetente Nutzerinnen und Nutzer des zur Verfügung stehenden Dienstleistungsangebots angesprochen. Diese Auffassung ignoriert allerdings die real sehr große Spannbreite der Zugangsmöglichkeiten und Kompetenzen. Die Gefahr besteht, dass beim Case Management der Anspruch auf Partizipation und das Recht auf Teilhabe nur noch im Sinne formal-bürokratischer Strukturen umgesetzt wird, nicht im Sinne eines Prozesses realer Handlungsermächtigung. Der Case Management-Ansatz setzt bei den Adressatinnen und Adressaten das Vorhandensein weitreichender Kompetenzen voraus: Interaktionskompetenzen, verbale und schriftliche Kommunikationskompetenzen, Fähigkeiten zum aktiven Umgang mit Institutionen und deren bürokratischem Schriftgut, Verhandlungskompetenzen. Dagegen setzt der Case Work-Ansatz bei den tatsächlich individuell vorhandenen Kompetenzen und Zugangsmöglichkeiten an und strebt die reale Mündigkeit der Adressatinnen und Adressaten als Ziel an. Er betrachtet sie nicht als Eingangsvoraussetzung für ein Hilfeangebot.

Die starke Ausrichtung von Case Management auf messbare Wirkungen macht die Methode anschlussfähig für betriebswirtschaftliche Steuerungsansätze. Die begrenzte Außensteuerbarkeit und mangelnde Berechenbarkeit menschlichen Handelns gerät hier leicht aus dem Blick und wird einem funktionalen Steuerungsdogma unterworfen. Dass die Ziele von Hilfeangeboten zu Beginn der jeweiligen Maßnahme durch Fachkräfte wie durch Adressatinnen und Adressaten kaum antizipierbar sind und sich im Verlauf der Hilfe erst offenbaren bzw. sich mit der persönlichen Weiterentwicklung ebenfalls verändern, setzt dem „informed consent“ zu Beginn Grenzen. Hilfe- und Maßnahmeplanung beinhaltet immer einen guten Teil Unsicherheit und Risiko und die Aushandlung der Hilfegestaltung muss dieses Risiko immer offen legen, anstatt vollständige Berechenbarkeit zukünftiger Abläufe zu suggerieren. Unter diesem Aspekt betrachtet erscheint Case Work mit ihren nicht-operationalisierbaren, unberechenbaren Beziehungsanteilen plötzlich deutlich wahrhaftiger als Case Management mit seinem impliziten Versprechen universaler Steuerbarkeit.

Alltags-, Lebenswelt- und Adressatenorientierung

Als wesentliche Bedingung für den Erfolg Sozialer Arbeit gilt die gelingende Anpassung eines Hilfeangebots an die individuelle Lebenslage der Adressatin oder des Adressaten.[57] In der Mitte der 70er Jahre wurde von Hans Thiersch für die Soziale Arbeit das Prinzip der Lebensweltorientierung formuliert und teilweise synonym mit „Alltagsorientierung“ verwendet (vgl. Thiersch 2006, 20098, Thiersch, Grunwald 2008). Es impliziert die methodische Ausrichtung der Sozialen Arbeit an den Gegebenheiten der sozialen Umwelt, in der die Adressatinnen und Adressaten leben. Der Ausdruck Lebenswelt beinhaltet nach Alfred Schütz’ Phänomenologie (Schütz 1932, Schütz, Luckmann 1975) die in ihren Strukturgesetzlichkeiten immer nur teilweise bewusste Erlebens- und Erfahrungsganzheitlichkeit des alltäglichen Lebens und wurde unter anderem von Jürgen Habermas als Gegenwelt zu institutionellen Systemen wie Staat oder Wirtschaft verstanden (vgl. Habermas 1981).

In der Sozialen Arbeit repräsentiert Lebensweltorientierung die Abkehr von hierarchisch-formalen Interaktionsstrukturen zwischen Fachkräften und ihren Adressatinnen und Adressaten, seien sie auf staatlicher oder bürokratischer Macht, auf normativen Vorgaben oder auf Expertenwissen gegründet. Thierschs Ansatz basiert auf einer Anerkennung der Eigensinnigkeit der Lebenszusammenhänge der Hilfeempfänger und ihres Status als „Experten ihres eigenen Lebens“. Professionelle Hilfsangebote sind daher gehalten, sich an die jeweiligen lebensweltlichen und individuellen Bedingungen anzupassen und nicht im Gegensatz dazu eine Anpassung der Adressatinnen und Adressaten an die Angebote zu verlangen. Rahmenbedingungen von Hilfen sollten also niedrigschwellig, zugehend und alltagsnah gestaltet sein und Angebote sollten dezentral und regional vorgehalten werden und den Zugangsmöglichkeiten der Zielgruppe angepasst werden. Fachkräfte sollten sich verständlich ausdrücken, einen alltagsnahen und informellen Habitus pflegen, in der Wahl ihrer Kleidung die Wirkung auf ihre Zielgruppe berücksichtigen und die Grenzen zum Privaten beachten. Hinzu kommt die Einbeziehung der Selbstdeutungen und Handlungsmuster der Hilfeempfänger in Fallreflexion, Diagnostik und Hilfeplanung und eine allgemeine Ausrichtung der Arbeit auf Partizipation und Teilhabe.

Während der Begriff der Lebenswelt das Private und Informelle im Gegensatz zum Staatlichen, Normierten und Systematischen betont, bezieht sich der Begriff des Alltags auf die normalen Abläufe des täglichen Lebens im Gegensatz zu herausgehobenen Situationen und Zeiten. Thiersch bezieht sich bei beidem eher auf die prägenden Umwelteigenschaften als auf die Adressatinnen und Adressaten selbst. Sie werden als Teil ihres Milieus begriffen. Um Zugang zu ihnen finden zu können, muss ein Verstehens- und Anpassungsprozess der Fachkräfte an die Lebenswelt und den Alltag der von ihnen betreuten Personen geleistet werden. Dies soll nicht primär aus strategischen Gründen erfolgen, sondern im Sinne eines verstehend-nachvollziehenden Zugangs. Eine effektive Hilfeleistung kann nach Thiersch nur auf der Basis eines Verstehens des bisher gelebten Lebens gelingen. Insgesamt gibt er die Ansicht auf, dass Fachkräfte den Adressatinnen und Adressaten höherwertige Normen zu vermitteln haben. Auch wenn deren Verhalten Probleme verursacht, erscheint es aus dem Lebenskontext heraus meist nachvollziehbar und sogar sinnvoll.