Handbuch Ambulante Einzelbetreuung

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Alltagsorientierung bedeutet in der Jugendhilfe auch die Einbeziehung des sozialen Kontextes in die Maßnahme. Da das Handeln von Menschen immer sozial eingebettet ist, werden isolierte Verhaltensveränderungen einzelner Menschen von der Umgebung oft nicht verstanden und sanktioniert, selbst wenn die Problemreduktion für die Umwelt eine Erleichterung bietet. Gerade für junge Menschen ist es kaum möglich sich von ihrem Lebensumfeld unabhängig zu entwickeln. Für angestrebte Veränderungen muss also im Umfeld geworben und auf vollzogene positive Veränderungen und Lösungen muss aufmerksam gemacht werden, damit die Beteiligten nicht im Status quo verhaften.

[58]Das Konzept verarbeitet darüber hinaus die Erkenntnis, dass die Lösung sozialer Probleme für die Adressatinnen und Adressaten meist mit längeren, schrittweise zu bearbeitenden Lernprozessen verbunden ist. Die Gestaltung dieser Lernprozesse im Rahmen sozialpädagogischer Hilfen verlangt eine Orientierung an den jeweils gegebenen Voraussetzungen – an den persönlichen Kompetenzen wie an den Umfeld-Ressourcen. Damit geht der lebensweltorientierte Ansatz unmittelbar in das Konzept der Adressatenorientierung über, das stärker person- als umfeldbezogen ausgerichtet ist (vgl. Bitzan, Bolay, Thiersch 2006). Den Sinn des individuellen Handelns und der individuellen Biografien und Hilfe-Vorgeschichten zu verstehen, um damit besser an Interessen, Motiven und Zielenansetzen zu können, steht im Mittelpunkt des adressatenorientierten Ansatzes. Dies ermöglicht sowohl die Berücksichtigung der individuellen Beschränkungen und Behinderungen, die die Nutzung eines Unterstützungsangebots verhindern könnten, als auch die Einbeziehung der vorhandenen Möglichkeiten, Ressourcen und Kompetenzen.

Alltagsorientiert arbeitende Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter verzichten auf professionelle Habitussignale in ihrer Sprache, in ihrem Verhalten und in ihrer Kleidung. Damit geht ein partieller Verzicht auf Expertenautorität einher, wie sie andere Professionen selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Der Kommunikations- und Interaktionsstil orientiert sich am Alltagsverhalten und der Umgangssprache der Adressatinnen und Adressaten. Der praktizierte Sprachstil sollte transparent und um Verstehen und Verständnis bemüht sein, keine ausgeprägten Habitus- und Statussignale beinhalten, soziale Unterschiede möglichst wenig betonen und hinsichtlich der ausgedrückten Emotionalität und der geäußerten Meinungen eher neutral sein. Dazu gehört eine verständliche Terminologie und ein nachvollziehbarer Satzbau, der sich an den kognitiven Möglichkeiten der Kommunikationspartner ausrichtet.

Alltags- und Adressatenorientierung impliziert weder eine kritiklose Überahme der Interaktionsstile der Zielgruppe noch eine bedingungslose Anpassung im Erscheinungsbild. Damit würden Entwicklungsmöglichkeiten, die den Adressatinnen und Adressaten durch die Erschließung neuer Verhaltensformen geboten werden sollen, verstellt. Fachkräfte sollten die sozialen Signale, die sie durch ihr Verhalten, ihren Sprachstil oder über Kleidung und Accessoires an die Hilfeempfänger senden, kritisch reflektieren und als Wirkungsmomente der Arbeit sinnvoll gestalten.

Alltags-, Lebenswelt- und Adressatenorientierung bezieht sich auch auf das Hilfeziel, nämlich die Wiederherstellung eines autonomen Alltags durch „Hilfe zur Selbsthilfe“, ein Ausdruck, der für die sozialpädagogische Familienhilfe in den Gesetzestext des Kinder- und Jugendhilfegesetzes aufgenommen wurde, aber für andere Angebote der Sozialen Arbeit ebenso gilt (Petko 2004: 32, Helming, Schattner, Blüml 19993 : 229ff. Rauschenbach, Ortmann, Karsten 1993: 12ff.). In der ambulanten Jugendhilfe sollen die natürlichen sozialen Gefüge vorrangig erhalten werden.

Kritisch kann zu dem Konzept angemerkt werden: Lebenswelt- und Adressatenorientierung setzt auf akzeptierende, an das gegebene angepasste und affirmative Handlungsstrategien. Schon Thiersch erkannte, dass der Alltag und die Lebenswelt nicht zu idealisieren seien, sondern beschränkend und destruktiv wirken können (Thiersch 20097: 41ff.). Gerade in der ambulanten Jugendhilfe setzt die vorhandene Lebenswelt den Förder- und Veränderungsmöglichkeiten der betreuten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen oft enge Grenzen und beschränkt auch ihre Teilhabemöglichkeiten in der Gesellschaft. Auf solche destruktiven Tendenzen müssen Fachkräfte nicht mit Akzeptanz, sondern mit Konfrontation und im Extremfall der Schädigung und Gefährdung junger Menschen mit Herausnahme reagieren.

[59]Förderung von Autonomie oder intermediärer Auftrag?

Für Berufspraktikerinnen und -praktiker Sozialer Arbeit können verwirrende „Theoriekonkurrenzen“ entstehen (Winkler 2001: 247), wenn sich aus unterschiedlichen fachlichen Ansätzen eine unübersichtliche Vielfalt möglicher Konsequenzen ergeben. Beispielhaft lässt sich das im Vergleich zwischen dem dienstleistungsorientierten Ansatz (vgl. Dewe, Otto 2002) und dem intermediären Ansatz zeigen (vgl. Heiner 2007), dass sich daraus sehr unterschiedliche und sogar widersprüchliche Schlussfolgerungen für die Praxis ziehen lassen können.

Der dienstleistungsorientierte Ansatz interpretiert die Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit als Beitrag zur Kompensation sozialer Ungleichgewichte und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft und orientiert sich an der Förderung der Autonomie der Personen, die die Angebote sozialstaatlich organisierter Humandienstleistungen in Anspruch nehmen. Die Qualität der angebotenen Leistungen wird danach bewertet, inwiefern sie die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer erfüllen. Die Hervorbringung der Sozialleistungen vollzieht sich in einem Koproduktionsprozess zwischen Fachkräften und Nutzerinnen und Nutzern, wobei professionelles Handeln auf deren aktive Mitarbeit angewiesen ist (vgl. Oelerich, Schaarschuch 2005). Prozess und Ergebnis werden dabei als eine prozessuale Einheit aufgefasst, was in der Sozialwirtschaft als uno-actu-Prinzip der Dienstleistungsproduktion bezeichnet wird (vgl. v. Spiegel 20083). Wesentliches Qualitätskriterium des professionellen Angebots ist sein Gebrauchswert für die Nutzerinnen und Nutzer. Die gesellschaftliche Aufgabe von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern ist bei diesem Ansatz parteilich an den Autonomieinteressen der unterstützten Individuen ausgerichtet.

„Professionelles Handeln ist […] als stellvertretendes Handeln […], d.h. als die stellvertretende Interpretation von Handlungsproblemen, zu begreifen, die aber, so wie ihre Lösungen, in der Verantwortung der AdressatInnen Sozialer Arbeit bleiben […]. Im Zentrum professionellen Handelns steht also nicht „Expertise“ oder „Autorität“, sondern die Fähigkeit der Relationierung und Deutung von lebensweltlichen Schwierigkeiten in Einzelfällen mit dem Ziel der Perspektivenöffnung bzw. einer Entscheidungsbegründung unter Ungewissheitsbedingungen.“ (Dewe, Otto 2005: 197 f.).

Die Aufgabe der Fachkraft besteht darin, die Bedürfnisse, Motive und das Handeln von Adressatinnen und Adressaten herauszufinden, in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit einzuordnen, einzelfallbezogen angepasste Handlungsmöglichkeiten dialogisch zu erarbeiten und zu vermitteln. Durch diesen Prozess ergibt sich, zumindest in der Theorie, eine Erweiterung der individuellen Entwicklungs- und Handlungsoptionen der Adressatinnen und Adressaten.

Dieser Ansatz kann in der Realität zu Konflikten zwischen Fachkräften führen, wenn diese sich jeweils an verschiedenen Personen und ihren Interessen orientieren. Schone und Wagenblass haben am Beispiel der mangelnden Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Jugendhilfe beobachtet, welche Auswirkungen es haben kann, wenn sich Fachkräfte an unter Umständen entgegengesetzten Partikularinteressen einzelner Adressatinnen und Adressaten ausrichten, ohne übergreifende Zusammenhänge einzubeziehen, das Gemeinwohl zu bedenken oder interessenausgleichend zu arbeiten (vgl. Schone, Wagenblass 20103).

Der intermediäre Ansatz, wie er von Maja Heiner vertreten wird, geht dagegen davon aus, dass der grundsätzliche gesellschaftliche Auftrag Sozialer Arbeit in einer [60]Vermittlungsaufgabe besteht, nämlich dem Interessenausgleich zwischen Individuen oder zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. gesellschaftlichen Institutionen.

„Die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit ist eine intermediäre: Sie tritt vermittelnd zwischen Individuum und Gesellschaft mit dem Ziel, ein besseres Verhältnis der Menschen in ihrer näheren und ferneren sozialen Umwelt zu erreichen […]. Ihr Handeln im Rahmen dieser intermediären Funktion wird auch als „Intervention“ bezeichnet, d.h. als Dazwischentreten, als Vermittlung zwischen Gruppen, Organisationen, Einzelpersonen […].“ (Heiner 2007: 101f.).

Da die ambulante Einzelbetreuung eine auf die Förderung einzelner junger Menschen ausgerichtete Jugendhilfemaßnahme ist, bietet sich der Autonomieansatz zunächst als Handlungsorientierung an. Er versagt aber schon bei alltäglichen Situationen wie der Aushandlung von Pflichten und Rechten zwischen Eltern und Kindern. Beim Zusammentreffen jeweils durch professionelle Unterstützer begleiteter Adressatinnen und Adressaten mit unterschiedlichen Interessen führt er zu einer absurden Reduplikation von Konflikten auf der Helferebene. Hier ist ein überparteilicher, vermittelnder professioneller Standpunkt wesentlich hilfreicher.

Nach der These der intermediären Funktion ist Soziale Arbeit in der Hauptsache zwischen Individuen, sozialen Gruppen und Institutionen tätig und zwar genau dann, wenn es hier zu Konflikten und Widersprüchen kommt. Dabei müssen die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Individuen mit den gesellschaftlichen Zugangsmöglichkeiten und Anforderungen ausbalanciert werden. Das Ziel ist eine sozial verantwortete Selbstverwirklichung der Individuen auf der einen und eine sozial gerechte, Zugang und Teilhabe ermöglichende Gesellschaft auf der anderen Seite. Ein funktionierender Ausgleich zwischen diesen beiden Polen, die tendenziell immer in Spannung stehen und der permanenten, dynamischen Vermittlung bedürfen, gewährleistet soziale Stabilität (Heiner 2007: 101 ff.). Dieses Modell setzt die individuellen Bedürfnisse und Ansprüche der Hilfeempfänger nicht absolut, sondern sieht sie jeweils in Beziehung zu den Ressourcen der sozialen Umwelt. Die Gesellschaft wird nicht als verabsolutiertes Großsystem gesehen, das dem Einzelnen anonym und unbeeinflussbar gegenüber steht, sondern als aus dem sozialen Miteinander der Einzelnen entstehendes und durch individuelles Verhalten beeinflussbares Ganzes. Bezogen auf einen Konflikt zwischen Eltern und Kindern bedeutet das, dass in der so ausgerichteten ambulanten Einzelbetreuung Rechte und Pflichten, Interessen und Verantwortung als ineinander greifende Momente des gemeinsamen sozialen Prozesses verstanden und begleitet werden. Es geht also nicht um die parteiliche und advokatorische Unterstützung des jungen Menschen um jeden Preis, sondern um eine Aushandlung der für alle Beteiligten nachhaltig besten kooperativen Lösung und eine lebbare soziale Integration.

 

Während der Autonomie-Ansatz mit egozentrischen und sogar sozialparasitären Haltungen harmoniert und die Strukturen des sozialen Dienstleistungssystems auf reine Bedürfnisbefriedigung der Nutzerinnen und Nutzer zuschneidet, geht der intermediäre Ansatz von einem dynamischen Wechselspiel zwischen den Individuen und ihren sozialen Umwelten aus. Dies beinhaltet als Ziel keine konsumierende, sondern eine aktiv und verantwortlich gestaltende Haltung gegenüber der Gesellschaft.

[61]Partizipation und Inklusion

Der Partizipationsbegriff meint zunächst die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger eines demokratisch verfassten Staatswesens an der politischen Willensbildung. In der Sozialen Arbeit wurde Partizipation seit den 1980er Jahren als Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Sozialplanungsprozessen und in den 1990er Jahren im Sinne einer stärkeren Adressatenbeteiligung an der Steuerung der sozialen Dienstleistungen thematisiert und in den entsprechenden Paragraphen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ausformuliert (vgl. Pluto 2007). Nach wie vor besteht allerdings zwischen dem Partizipationsanspruch des Kinder- und Jugendhilferechts und dem zugrunde liegenden Rechtssystem, das Kinderrechte als von den Rechten der Eltern abgeleitet begreift, ein Widerspruch (vgl. Urban 2004, Münder 2006, Pluto 2007). Immerhin werden infolge der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 im deutschen Recht Kinder zunehmend als eigenständige Rechtssubjekte angesehen und zuletzt wurde im Dezember 2011 durch die Zustimmung des Bundesrats zum BKiSchG der Partizipationsgedanke – bezogen auf die Beteiligung von Erziehungsberechtigten und jungen Menschen – als wesentlicher Teil der Qualität von Jugendhilfe noch einmal stärker im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert.

Bei der Umsetzung von Partizipation stehen verschiedene Modelle zur Auswahl: Advokatorische Konzepte, realisiert zum Beispiel durch Kinder- Frauen- oder Behindertenbeauftragte, beziehen Vertreterinnen und Vertreter der entsprechenden Gruppe in einen Entscheidungs- oder Planungsprozess ein. Verfahrenspflegerinnen und Verfahrenspfleger als Beteiligte in familiengerichtlichen Verfahren nehmen als professionelle Stellvertreterinnen der betroffenen Kinder diese Funktion war. Bei repräsentativen Modellen werden gewählte Delegierte eingesetzt. Unmittelbare Beteiligungsformen erlauben möglichst vielen Betroffenen eine möglichst vollständige und möglichst aktive Teilnahme am gesamten Steuerungs- und Entscheidungsprozess. Das Aushandlungsmodell der Hilfeplanung in der Jugendhilfe nach § 36 SGB VIII folgt diesem Modell. Eine weitere Form ist die geteilte Entscheidung („shared decision making“, Pluto 2007: 24).

Beteiligung bezieht sich in der Jugendhilfe sowohl auf die Auswahl und Steuerung der Hilfe als auch auf ihre Durchführung und bei den stationären Angeboten auch auf den gemeinsamen Alltag in der Einrichtung. Schon bei der Auswahl und Steuerung der Hilfe über die Hilfeplanung können Spannungen zwischen den Interessenlagen verschiedener Parteien aufkommen, zwischen Eltern und Kindern, Elternteilen oder Geschwistern. Es können auch Zielkonflikte zwischen Selbstbestimmungs- und Beteiligungsrechten und der Anpassung an Sachzwänge bestehen. Sobald sich Jugendhilfe im Bereich potenzieller Kindeswohlgefährdung bewegt, kommt als weiterer Aspekt ihr „doppeltes Mandat“ ins Spiel29. Beteiligungsrechte werden ausgesetzt und allgemeinen Schutznormen unterworfen, sobald ein Jugendhilfefall als Gefährdungsfall klassifiziert ist. Die Fachautorin Liane Pluto schreibt hierzu:

[62]„Eine klare Auftragssituation ist wahrscheinlich sogar in den seltensten Fällen gegeben. In der Regel wird sich die Fallkonstellation durch eine diffuse Gemengelage auszeichnen, die sich irgendwo zwischen Hilfe und Kontrolle bewegt und von Eltern einerseits und Kindern andererseits unterschiedlich interpretiert wird.“ (Pluto 2007: 46).

Im Hilfeplanungsprozess sind mindestens zweierlei Machtungleichgewichte in ausgleichende Partizipationsaktivitäten der Fachkräfte einzubeziehen: Das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Fachkräften und Adressatinnen und Adressaten und das zwischen Erwachsenen und Minderjährigen. Darüber hinaus haben die Adressatinnen und Adressaten nicht immer Interesse an einer aktiven Beteiligung und bringen häufig – Erwachsene wie junge Menschen – eine geringe Partizipationskompetenz bezüglich der Verwaltungsabläufe mit. Liane Pluto schreibt:

„Die Anforderung, dass Kinder und Jugendliche beteiligt werden sollen, ist im Bereich der Hilfen zur Erziehung immer auch eine pädagogische und damit eine paradoxe Anforderung. Damit ist gemeint, dass man in Erziehungsprozessen das, was man zu erreichen sucht, bereits vorauszusetzen hat. […] Das gilt auch für Beteiligungsprozesse: Sie sind in dem Kontext der erzieherischen Hilfen immer auch Weg und Ziel zugleich.“ (Pluto 2007: 52).

Es soll ergänzt werden, dass das auf die zu beteiligenden Erwachsenen in vielen Fällen ebenso zutrifft. Bei der Hilfeplanung soll durch eine transparente, an Verständigung und den jeweiligen Kompetenzen der Beteiligten orientierte Verfahrensausgestaltung eine aktive Beteiligung an der Hilfeauswahl und -steuerung gefördert und unterstützt werden. Das praktische Einüben von Beteiligung ist bei der Ambulanten Einzelbetreuung im Vergleich zur stationären Heimerziehung und der Gruppenpädagogik beschränkt, bei denen kollektive Entscheidungsformen alltagspraktisch erprobt werden können. Doch auch hier ergeben sich viele Chancen zur Förderung von Partizipation. Zum einen kann die Betreuungsperson dem jungen Menschen in der Hilfeplanung stellvertretend eine Stimme verleihen oder besser noch: Die Betreuerin oder der Betreuer achtet darauf, dass der junge Mensch dort mit seinen Anliegen angehört und wahrgenommen wird. Das Hilfeplangespräch sollte gemeinsam vorbereitet werden und der junge Mensch kann darin unterstützt werden, seine Perspektive zu entdecken, auszuformulieren und selbst vorzubringen. Dies ist auch in anderen Kontexten wie der Familie und der Schule sinnvoll. Dabei lernt der junge Mensch, eigene Sichtweisen und Interessen zu entwickeln, gegenüber anderen Personen und Institutionen in verschiedenen Konstellationen selbstbewusst und angemessen zu vertreten, praktische Umsetzungswege im Diskurs zu entwickeln und dabei auch Kompromisse auszuhandeln. Auch die Förderung der politischen Willensbildung und Beteiligung und die Unterstützung der aktiven Wahrnehmung eigener Rechte gehört zu den Aufgaben der Einzelbetreuung. Praktizierte Partizipation hat hierbei die Komponenten: Mitdenken, Mitreden, Mitplanen, Mitentscheiden, Mitgestalten, Mitverantworten (Pluto 2007: 53). Betreuende Fachkräfte können die von ihnen betreuten jungen Menschen bei diesen Aktivitäten unterstützen, indem sie sie über Rechte und institutionelle Abläufe informieren, ihnen Zugänge eröffnen, ihre kommunikativen Kompetenzen anregen, entwickeln und fördern, sie zur Wahrnehmung ihrer Rechte ermutigen und sie in schwierigen Situationen begleiten. Stellvertretende Aktivitäten, bei denen die betreuende Person für den jungen Menschen spricht, können dabei am Anfang einer Entwicklung stehen, bergen aber immer die Gefahr der Entmündigung und Passivierung.

Während der Partizipationsgedanke vom Individuum her gedacht ist, reflektiert der Begriff der Inklusion als Leitbegriff des Bildungssystems und der Sozialen Arbeit die strukturellen Bedingungen, die für eine vollumfängliche Teilhabe an der Gesellschaft[63] notwendig sind. Er löst den älteren Begriff der Integration ab. Während Integration noch stark an normativen Vorstellungen orientiert war, hat sich die Idee der Inklusion vollständig davon gelöst. In einer inklusiven Gesellschaft sind die Diversität der Individuen und das Vorhandensein unterschiedlichster persönlicher Kompetenzniveaus vollständig akzeptiert. Die Verantwortung für die Beseitigung von Zugangshindernissen für Einzelne oder Gruppen, seien es räumliche, soziale oder kulturelle Barrieren, und für die aktive Kompensation von Benachteiligungsfaktoren liegt nicht mehr beim Individuum, sondern bei der Gesellschaft. Damit fordert der Begriff Inklusion vor allem die auf Segregation und Leistungsauslese ausgerichteten Bildungsinstitutionen und die Wirtschaft heraus. Die Inkusionsforderung u.a. durch die UN-Behindertenkonvention stellt das gegliederte Schulsystem und die Ausdifferenzierung spezifischer, auf Segregation beruhender Förderangebote fundamental in Frage. Auch für die Soziale Arbeit, die sich in diesen Bereichen etabliert hat, bedeutet Inklusion eine Infragestellung und veränderte Aufgabenwahrnehmung. Inklusion beinhaltet die Überwindung und Aufhebung von Barrieren der Wahrnehmung und Kommunikation, von räumlicher Trennung, das reflexive Aufbrechen von Vorurteilen und die Förderung von Kommunikation, Toleranz und Unterschiedlichkeit. Um dieses Ziel realisieren zu können, müssen spezialisierte Institutionen für Benachteiligte zugunsten breiter aufgestellter Regelinstitutionen aufgelöst werden. Um die zusätzlichen Aufgaben erfüllen zu können, müssen diese Systeme zukünftig mit den entsprechenden Ressourcen und Kompetenzen ausgestattet werden. Dies impliziert eine zunehmende Einbeziehung sozialarbeiterischer Kompetenz in alle gesellschaftlichen Bereiche.

Jugendhilfe arbeitet vorrangig mit als benachteiligt und unterstützungswürdig klassifizierten Personen und Familien. Insbesondere die ambulante Einzelbetreuung wird häufig bei jungen Menschen eingesetzt, die aus verschiedensten Gründen vom Bildungssystem ausgesondert wurden. Inklusion bedeutet, dass die Einbeziehung dieser jungen Menschen in normale gesellschaftliche Abläufe Vorrang haben muss vor speziellen Förderangeboten. Als Reaktion auf die große Zahl an jungen Menschen, die den Weg durch das Bildungssystem nicht schaffen, haben sich zahlreiche Organisationen Sozialer Arbeit etabliert, deren Arbeit letztlich auf sozialem Ausschluss beruht. Inklusiv zu arbeiten heißt, primär auf Reintegration in Regelinstitutionen hinzuwirken.

Soziale Arbeit hat nicht nur mit Menschen zu tun, die durch gesellschaftliche Strukturen und Institutionen ausgeschlossen werden, sondern auch mit denjenigen, die Exklusion gegenüber anderen praktizieren. Ambulante Einzelbetreuung wird als Hilfemaßnahme bei jungen Menschen eingesetzt, die sich als intolerant, andere unterdrückend und gewalttätig zeigen. Dies kann sich als extremistische politische oder religiöse Position ausformen oder als abwertendes Alltagsverhalten gegenüber Behinderten, Menschen mit einer sexuellen Orientierung, die als abweichend bewertet wird, dem anderen Geschlecht, das als minderwertig klassifiziert wird o.ä. Hier besteht die Inklusionsfunktion der Betreuungspersonen darin, die individuellen Gründe für das jeweilige Exklusionsverhalten zu eruieren und eine Veränderung der zugrunde liegenden Einstellungen und des daraus folgenden Handelns anzubahnen, strukturell einzubetten und zu begleiten.

24 Dies wäre zum Beispiel eine Orientierung der ambulanten Jugendhilfe an Sauberkeits- und Bildungsnormen der Mittelschicht.

25 So das Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“, das im § 31 SGB VIII als Leitprinzip der Sozialpädagogischen Familienhilfe formuliert ist.

26 So die Orientierung an Autonomie (vgl. Dewe, Otto 2002, Oelerich, Schaarschuch 2005) und Empowerment (Helming, Schattner, Blüml 19993: 183ff,).

27 Auf der Internetseite des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge werden einige Informationen zum Case Management bereit gestellt. Darüber hinaus bietet die Seite www.casemanager.de von Prof. Dr. Peter Löcherbach verschiedene Informationen über Standards, Organisationen, Weiterbildungsmöglichkeiten und Texte zum Download.

 

28 Die Terminologie variiert je nach Autor, wobei die wesentlichen Schritte übereinstimmen. Hier wird die Terminologie von Löcherbach verwendet.

29 Unter dem „doppelten Mandat“ der Sozialen Arbeit verstand man seit den 70er Jahren eine Verpflichtung der Fachkräfte gegenüber dem Staat auf der einen und den Adressatinnen und Adressaten auf der anderen Seite. Dies wurde als Gegensatz angesehen. Neuere Ansichten gehen von einer doppelten Loyalität aus, die zwar in Spannung steht, aber zwei Seiten einer Medaille bildet (Heiner 2004: 37).

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