Operation Werwolf - Blutweihe

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Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
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Der Mischmasch aus Knochen, Fingernägeln, Hautfetzen und zermanschtem Fleisch, dieser Brei war einmal seine rechte Hand gewesen. Abgetrennt von einem Hackmesser, das in Sichtweite vor ihm auf den Bodenfliesen lag.

Von dem Flittchen dagegen, das sich in Luft aufgelöst zu haben schien, keine Spur.

Und von Wischulke auch nicht, wie konnte es anders sein.

Der Ohnmacht nah, bäumte er sich entschlossen auf, die Uniform, dereinst sein Ein und Alles, mit Blutspritzern übersät.

Dafür würde die Kleine büßen, und wenn es das Letzte war, was er in diesem Leben tat. Ach woher, dafür würden ihm alle Frauen büßen.

Wen genau er sich vorknöpfte, darauf kam es nun wirklich nicht mehr an.

DIES IRAE

Welch ein Zittern, welch ein Beben,

wenn zu richten alles Leben,

sich der Richter wird erheben!

(Wolfgang Amadeus Mozart, Requiem)

FREITAG, 20. SEPTEMBER 1940

2

Berlin-Köpenick, S-Bahnhof Rahnsdorf

23:18 Uhr

»Ist da noch frei, gnädiges Fräulein?«

Da war etwas in ihr, was sie zögern ließ. Eine Art Vorahnung, flüchtig und nur schwer in Worte zu kleiden.

Der Waggon war leer, wozu also das Getue. Von wegen gnädiges Fräulein. Die Zeiten waren längst vorbei. Wenn der Kerl mit ihr anbandeln wollte, den Zahn würde sie ihm ziehen. Von Männern hatte sie die Nase voll, und zwar ein für alle Mal. Egal wer, die konnten ihr gestohlen bleiben. Im Moment wollte sie nur noch eins, auf direktem Weg nach Hause. Ein, zwei Bissen essen und vor dem Zubettgehen eine rauchen. Zu mehr war sie heute Abend nicht imstande. Einfach nur heim, ab in die Falle, Augen zu und nichts mehr sehen oder hören. Und wenn es Willy Fritsch persönlich gewesen wäre, sie hätte ihrem Idol einen Korb gegeben.

Vielleicht lag es ja am Alter, aber nach der Spätschicht kam sie sich wie gerädert vor. Was Wunder auch, wenn man tagtäglich bis zum Umfallen malochte. Die Männer im Betrieb hatten einrücken müssen, die Ledigen zuerst, als Nächstes die Familienväter und zuletzt die Kollegen um die dreißig, also genau nach Plan. Ersatz war nicht in Sicht, und was die Fremdarbeiter aus den Ostgebieten betraf, die dachten nicht daran, sich aus Anhänglichkeit zum Führer ein Bein auszureißen. Wären auch schön dumm gewesen, wenn man es neutral betrachtete.

Und so war es gekommen, wie die Kolleginnen und sie es vorausgesehen hatten. Das Gros der Arbeit blieb natürlich an ihnen hängen, wie zu Hause, so auch am Fließband in der Fabrik. Jeder an seinem Platz, die Frauen an vorderster Front, und sei das Rad im Getriebe der Kriegsmaschinerie auch noch so klein. Allzeit bereit, um Führer, Volk und Vaterland zum Sieg über das perfide Albion zur verhelfen. Selbst dann, wenn man vor Müdigkeit kaum noch geradeaus gehen oder sich auf das, was um einen herum vorging, konzentrieren konnte.

Schuften an der Heimatfront, für gerade einmal 32 Reichsmark die Woche, Nachtzuschlag inklusive. Krankenversicherung selbstredend nicht.

Das hatte sie sich immer schon gewünscht.

»Ich störe doch nicht, oder?«

Obwohl, von Gefahr konnte keine Rede sein. Im Schein der Notlampen, die das Abteil in mattblaues Zwielicht tauchten, konnte sie den Mann auf dem Mittelgang zwar kaum erkennen. Aber das wollte nicht viel heißen, wer weiß, vielleicht war er ja ganz nett. Und was die abgedunkelten Fenster betraf, derentwegen man sich wie im Zoo vorkam, Vorschrift war nun mal Vorschrift. Ob es einem in den Kram passte oder nicht, die Devise lautete, friss oder stirb. Wenn es eine Lektion gab, die sie nach acht Jahren Nazi-Diktatur gelernt hatte, dann diese.

Und überhaupt, die ganze hirnlose Propaganda, und das, ginge es nach Goebbels, von der Wiege bis ins kühle Grab. »Der Feind sieht Dein Licht – verdunkeln!«, so stand es auf den Plakaten im Wartesaal geschrieben. Oder, noch einfühlsamer: »Licht ist Dein Tod!« Mit Verlaub, das war ja wohl ziemlich daneben, wenn nicht gar makaber. Die Luftwaffe über London, und dann so etwas. Wer da nicht stutzig wurde, bei dem war alles zu spät. Entweder es stimmte und die Nazis waren auf der Siegerstraße, oder es handelte sich um billige Parolen. Wahr oder nicht, im Sprücheklopfen waren die Parteibonzen Meister, das musste ihnen der Neid lassen. Auch wenn es kein Mensch mehr hören konnte, sie selbst am allerwenigsten.

Eins ließ sich nicht bestreiten, ob mit oder ohne rosa Brille. Der Krieg war längst noch nicht gewonnen, und wenn sich Goebbels auf den Kopf stellte, um den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Eines nicht allzu fernen Tages würde der Mephisto des Dritten Reiches die Quittung für das Blendwerk bekommen, darauf ging sie jede Wette ein.

Gedämpftes Licht, so weit das Auge des Betrachters reichte. Und nur handtellergroße Gucklöcher, um einen Blick aus dem Abteilfenster zu werfen. Merkwürdig, dass sie gerade jetzt, kurz vor dem Einnicken, den Wunsch nach Kontakt zur Außenwelt verspürte. Das sollte mal jemand verstehen, zumal sie jeden Quadratmeter entlang der Strecke kannte. Der Mond, hier und da ein paar Sterne, eine Limousine mit Abblendlicht, wie ein Trugbild von der Dunkelheit verschluckt, Umrisse von Lagerhallen, Fabrikschloten und Mietskasernen, warmes Licht hinter notdürftig abgedunkelten Fenstern, mehr wäre nicht zu erspähen gewesen. Und trotzdem war da dieser Drang, aus dem hermetisch abgeschotteten Abteil zu verschwinden, in Karlshorst oder wo auch immer auszusteigen und den Rest der Strecke zu Fuß zu gehen.

An sich war der Gedanke absurd, denn wer weiß, was für Typen sich da draußen rumtrieben. Ob an dem Gerücht, ein Serienmörder laufe immer noch frei herum, etwas dran war, nun ja, das wollte sie nicht herausfinden.

Schuld an dem Schlamassel war der Krieg, mit der Meinung stand sie nicht allein. Selbst hier, in einem Abteil 2. Klasse auf der Strecke zwischen Erkner und dem Ostkreuz, hinterließ der Schlamassel seine Spuren. Um gegen Angriffe aus der Luft gefeit zu sein, so die Flut an Propagandaplakaten, dürfe kein Fitzelchen Licht aufblitzen. So weit, so gut. Das Gleiche galt für ihre Datsche, unweit des Betriebsbahnhofes in Rummelsburg gelegen und nur einen Katzensprung von der Haltestelle entfernt. Raus aus der S-Bahn, im Eiltempo durch die Unterführung, über die Fußgängerbrücke und den asphaltierten Weg am Rand des Bahndamms entlang. Und schon war sie in Nullkommanichts zu Hause. Dort, in der spartanisch möblierten Wohnlaube, hatte sie sich nach ihrer Scheidung mit den Kindern verschanzt, der Not gehorchend – und aus Angst, von einem Choleriker im Suff halb tot geprügelt zu werden.

»Ihnen ist doch nicht etwa schlecht, oder?«

Sie verneinte, und beim Klang der sonoren Stimme, Reminiszenz an den Kavalier alter Schule, löste sich ihr Unbehagen in Wohlgefallen auf. Der Mann würde ihr schon nichts tun, und wenn doch, sie würde sich ihrer Haut zu wehren wissen.

»Bitte!« Zu mehr und einer halbherzigen Geste konnte sie sich nicht durchringen, und als habe er mit nichts anderem gerechnet, nahm der Mann auf der gepolsterten Sitzbank Platz.

Gepflegte Manieren, stattlich, um nicht zu sagen attraktiv, vom Akzent her zwischen Masuren und Baltikum anzusiedeln, Arier wie aus dem Bilderbuch, dunkle Handschuhe, die Uniform der Reichsbahn tadellos in Schuss, kurzum: die Seriosität in Person. Von finsteren Absichten, geschweige denn Mordlust, keine Spur.

Hinter allem und jedem den Teufel vermuten, das sah ihr wieder mal ähnlich. Nicht jeder Mann, der mit der S-Bahn fuhr, hatte es auf Frauen abgesehen. Und nicht jeder Mann war so brutal wie das versoffene Wrack, auf das sie vor achteinhalb Jahren reingefallen war.

Das nur zum Thema Ängste, von denen sie ganze Arien schmettern konnte. Dass es jedoch Männer gab, die ihre schlimmsten Befürchtungen übertrafen, darauf wäre sie nie gekommen.

Auch jetzt nicht, trotz ungutem Gefühl.

Um auf Distanz zu gehen, warf sie einen Blick auf die Uhr. Im kalten Zwielicht, das dem Ambiente einen bizarren Beigeschmack verlieh, konnte sie die Ziffern zwar kaum erkennen. Doch die Geste erfüllte ihren Zweck.

Zumindest vorübergehend.

Schwarze Handschuhe, und das bei milden Temperaturen. Die rechte Hand deutlich größer als die linke, spitz wie die Klauen eines Wolfs. Und dann erst dieser Blick, fast wie bei Peter Lorre im Film »M«. Es war zwar schon ziemlich lange her, seit sie ihn im Kino gesehen hatte, doch an die Glubschaugen des Mörders konnte sie sich noch genau erinnern. Damals hatten sie ihr eine Höllenangst eingejagt, so sehr, dass sie Albträume davon bekam.

Welchen Untertitel hatte der Film doch gleich gehabt?

Genau.

»Eine Stadt sucht einen Mörder«.

Und jetzt das.

Von Panik gepackt, atmete sie heftig durch. Besser, sie stieg am nächsten Bahnhof aus. 17 Minuten Fahrzeit, von der höchstens die Hälfte verstrichen war, konnten ziemlich lang werden. Zwei Kilometer und ein paar Zerquetschte zu Fuß, es gab weiß Gott Schlimmeres auf der Welt.

In der Tat, das gab es.

Weit Schlimmeres sogar.

Doch davon ahnte sie in dem Moment, als der Zug den S-Bahnhof in Karlshorst hinter sich ließ, noch nichts.

Dann aber war da plötzlich dieser Geruch, den der Mann im Halbdunkel verströmte.

Und die Pupillen der hervortretenden Augen. Vom halblauten Flüstern, aufgrund der Fahrgeräusche kaum zu verstehen, nicht zu reden: »Welch ein Zittern, welch ein Beben, wenn zu richten alles Leben, sich der Richter wird erheben.«

»Verzeihung, haben Sie es mit mir?«

Wie aus dem Schlaf gerissen, fuhr der Unbekannte in die Höhe. »Schon möglich«, murmelte er vor sich hin, Worte, die wie eine versteckte Drohung klangen. »Nur Geduld, ich bin noch am Überlegen.«

 

Kölnisch Wasser, vermischt mit erkaltetem Schweiß, maskulinen Ausdünstungen und dem Geruch von Doppelkorn, bei dem es ihr glatt den Magen umdrehte. Ein Hauch von erkalteter Asche, Schmieröl und Kohlestaub nicht zu vergessen.

Von wegen Kavalier der alten Schule. So naiv, um dies ernsthaft anzunehmen, hatte auch nur sie sein können.

Die Quittung ließ nicht lange auf sich warten.

Urplötzlich, als könne er Gedanken lesen, schwang ihr Peiniger eine Art Knüppel über den Kopf, und sie ertappte sich bei dem Gedanken, wo er ihn auf einmal herhatte. Sekundenbruchteile später, das Schrillen des Signalhorns im Ort, welches wie das Menetekel ihres Martyriums anmutete, sauste die Hiebwaffe aus Hartgummi auf sie nieder. Halb benommen betastete sie ihren Hinterkopf, riss den Unterarm hoch und drehte sich reflexartig nach rechts.

Vergebens.

Schlag folgte auf Schlag, auf die Schulter, ins Gesicht, auf den Unterarm und die Fläche der linken Hand.

Doch damit nicht genug. Kaum war ihre Gegenwehr erlahmt, zielte der Unbekannte auf den Kopf, immer und immer wieder, vor Wut, die sein Gesicht in eine hasserfüllte Fratze verwandelte, nicht zu bändigen.

Und dann, als sie blutüberströmt auf dem Mittelgang kauerte, einen durchdringenden, dem Kreischen einer Motorsäge ähnelnden Pfeifton im Ohr, hatte ihre letzte Stunde geschlagen.

Als habe er alle Zeit der Welt, entledigte sich der Unbekannte seiner Uniformjacke, hängte sie an einen Haken und zog seinen dunklen Lederhandschuh aus, zuerst den linken, und dann, die Lippen triefend vor Speichel, den rechten, unter dem sich eine Prothese aus Aluminium verbarg.

Vor Entsetzen, das sie bis in die letzte Faser ihres Körpers durchzuckte, brachte sie nicht einmal ein Wimmern hervor, die aufgequollenen Augen starr noch oben gerichtet, von wo aus sich die Prothese wie der Greifarm einer Maschine auf sie herabsenkte, ihre Kehle umschloss und den letzten Rest an Leben in ihr erstickte.

Sekunden später, bevor sich der Tod ihrer erbarmte, verspürte sie einen durchdringenden Schmerz, so stark, dass ein Aufbäumen durch ihren geschundenen Körper ging. Dann aber, als der Unbekannte ihre rechte Hand wie eine Trophäe in die Höhe reckte, war das Martyrium beendet und sie stürzte in einen endlos erscheinenden Schlund hinab.

Immerwährende Finsternis.

Endlich.

Und kein Gedanke an die Schändung, welche die Bestie in Menschengestalt an ihr vollzog.

Oder daran, wie er ihr Gesicht in Stücke riss und ihren leblosen Körper zur Tür schleifte, um ihn bei Tempo 60 aus dem Waggon der Linie 3 zu werfen.

Der Tod war als Erlöser gekommen.

Gerade noch rechtzeitig.

Amen.

RECORDARE

Juste judex ultionis,

Gerechter Richter der Vergeltung,

Donum fac remissionis

schenke Vergebung

Ante diem rationis.

vor dem Tag der Abrechnung.

(Wolfgang Amadeus Mozart, Requiem)

MITTWOCH, 2. JULI 1941

»Deutsches Volk! In diesem Augenblick vollzieht sich ein Aufmarsch, der in Ausdehnung und Umfang der größte ist, den die Welt bisher gesehen hat. Von Ostpreußen bis zu den Karpaten reichen die Formationen der deutschen Ostfront. Die Aufgabe dieser Front ist daher nicht mehr der Schutz einzelner Länder, sondern die Sicherung Europas und damit die Rettung aller. Ich habe mich deshalb heute entschlossen, das Schicksal und die Zukunft des Deutschen Reiches und unseres Volkes wieder in die Hand unserer Soldaten zu legen.

Möge uns der Herrgott gerade in diesem Kampfe helfen!«

(Adolf Hitler in einer Proklamation am 22. Juni 1941)

3

Berlin-Charlottenburg, Tanz-Kabarett »Kakadu« an der Kreuzung Ku’damm / Joachimsthaler Straße

23:10 Uhr

Gestapo.

Auch das noch. Ausgerechnet jetzt, außerhalb der Sperrstunde. Und mitten im größten Trubel.

Momentan blieb ihm wirklich nichts erspart.

Emil Leschek, Türsteher im Tanz-Kabarett »Kakadu«, kannte sich mit Menschen aus. Ein prüfender Blick, der übliche Small Talk, eine scherzhafte, bei Bedarf frivole Bemerkung. Das reichte, um zu wissen, wen man vor sich hatte. Und um sich in Zeiten wie diesen über Wasser zu halten.

In seinem Metier, das lehrte die Erfahrung, durfte man keine Schwäche zeigen. Ein Moment der Unachtsamkeit, und schon hatte man das Nachsehen, will heißen die Kugel einer Parabellum im Kopf. Auch wenn die Nazis das Gegenteil behaupteten, im Vergleich zu den wilden Zwanzigern, als Emil noch groß im Geschäft war, hatte sich diesbezüglich nichts geändert. Damals, vor zwölf, dreizehn Jahren, als Schießereien mit den Bullen an der Tagesordnung waren, wurde unter seinesgleichen nicht lange gefackelt, und wer in der Halbwelt etwas galt, ging in der Plötze ein und aus. Kein Tag, an dem das Überfallkommando nicht ausrücken musste, kein Monat, in dem es nicht gleich mehrere Schlägereien gab. Wildwest in Wilmersdorf, die Schlagzeile traf den Nagel auf den Kopf. Freund und Feind, das heißt Syndikate und Polente, waren nicht immer genau zu unterscheiden, und wer in wessen Sold stand, darüber gingen die Meinungen auseinander. Besser, man behielt seine Gedanken für sich, und, wichtiger noch, man traute niemandem über den Weg. Vorsicht war nun mal die Mutter der Porzellankiste, und Menschenkenntnis das A und O. Nur so, mit einem ganz speziellen Riecher, ahnte man schon im Voraus, was die Stunde geschlagen hatte.

Wie in diesem Moment, als sich das selbstgefällige Kommissgesicht in sein Blickfeld schob.

Gestapo.

Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Leschek, Kiez-Legende und in Kreisen der Halbwelt als Hantel-Emil bekannt, brach der Schweiß aus sämtlichen Poren. Der gebürtige Weddinger hasste alles, was auch nur nach Braunhemd roch, allen voran den Ortsgruppenleiter, mit dem ihn eine innige Antipathie verband. Vor allem aber hasste er die Leute, die vor ihm kuschten, fast so sehr wie die Schergen im dunklen Ledermantel, die jeden Befehl, egal wie verbrecherisch, ohne Wenn und Aber befolgten.

Aus seiner Meinung, die ihm wiederholt Scherereien einbrachte, machte der Türsteher im »Kakadu« kein Geheimnis. Vor zehn Jahren, als der Ku’damm die Bezeichnung »Amüsiermeile« noch verdiente, war er in eine Messerstecherei mit einem Sturmtrupp der SA geraten. Dabei hatte der Zweieinhalb-Zentner-Mann ein Auge eingebüßt, was die Antipathie gegenüber Braunhemden auf die Spitze trieb. Alles, was mit dem Regime zu tun hatte, war für den Koloss mit der blank polierten Glatze ein rotes Tuch, trotz Sondermeldungen von der Ostfront, die seinen Kiez in einen wahren Taumel versetzten.

»Bedaure, der Herr«, ließ Emil den Beamten vor der Tür mit ausgesuchter Höflichkeit wissen, warf einen beiläufigen Blick auf seine Dienstmarke, die attestierte, dass es sich um einen Mitarbeiter der Gestapo handelte, und dachte nicht daran, vor der Geheimpolizei zu kuschen. »Aber heute Abend haben wir geschlossen. Private Feier, tut mir leid.«

Der vordere der drei Männer, die sich um das vergitterte Schubfenster scharten, blinzelte amüsiert. »Na schön«, gab das blutleere Kommissgesicht zurück, kräuselte die gespaltene Oberlippe und bemühte sich, den aufkeimenden Jähzorn zu unterdrücken. »Wie Sie sich denken können, Herr …«

»Sie können ruhig Emil zu mir sagen«, gab der Türsteher mit naivem Lächeln zurück, von dem ein Stan Laurel noch hätte lernen können, betätigte den Alarmknopf neben der Tür und mühte sich redlich, gute Miene zu bösem Spiel zu machen.

Antipathie hin oder her, mit der Gestapo legte man sich nach Möglichkeit nicht an. Acht Jahre Terror hinterließen ihre Spuren, selbst bei ihm, der behauptete, ihn haue so schnell nichts um. Ob als Kraftmensch im Varieté Scala, ob als Amateurboxer oder Geldeintreiber für diverse Syndikate, die in den 20-er Jahren den Ton angaben, ob als Rausschmeißer in anrüchigen Etablissements, von denen die meisten schon lange dichtgemacht hatten, das Original mit der polierten Platte hatte eine schillernde Karriere vorzuweisen. »Das tun hier nämlich alle so.«

Dass ihm sein Herz immer häufiger zu schaffen machte, darüber machte er sich schon Gedanken. Auch deshalb tat Emil Leschek genau das, was jeder andere in seiner Situation getan hätte: Er schaltete einen Gang zurück, im Wissen, dass Heydrichs Henker am längeren Hebel saßen. »Wissen Sie, meine Chefin, die Frau Pommerenke, also die Lola, die kann Extratouren auf den Tod nicht ausstehen, Sie müssten mal sehen, wenn die alte Dame ungemütlich wird, dann ist alles zu spät, das kann ich Ihnen sagen. Unter uns, wenn ich Sie wäre, ich würde die Sache auf sich beruhen lassen, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn die Chefin aus den Pantinen kippt. Mit der Erna ist wirklich nicht zu spaßen, ob Sie es mir glauben oder …«

»Genauso wenig wie mit mir, stellen Sie sich vor!«, fuhr ihm der mittelgroße Brillenträger in die Parade, dessen Blick an einen Leguan auf Beutezug erinnerte, reckte den Kopf, als wolle er das Manko an Körpergröße wettmachen, und stierte Leschek mit hervorschnellender Zungenspitze an. »Wie immer Sie auch heißen mögen, wenn Sie nicht sofort die Tür aufmachen, bekommen Sie es mit mir zu tun. Damit das klar ist, wir können auch anders. Entweder Sie tun, was Ihnen gesagt wird, oder wir lochen Sie ein, bevor Sie oder die Asozialen da drin Piep sagen können. Was das bedeutet, überlasse ich Ihrer Fantasie. Mit Typen wie Ihnen fackeln wir nicht lange, lassen Sie sich das gesagt sein. Vorschlag zur Güte: Falls Sie sich verändern möchten, wir sind Ihnen bei der Suche behilflich.« Im Gesicht des Schnüfflers breitete sich ein Lächeln aus. »Es geht doch nichts über Arbeit an der frischen Luft, finden Sie nicht auch? Im Kreise von Gleichgesinnten, das versteht sich ja wohl von selbst, Kost, Logis und Körperertüchtigung inklusive. Wie sieht es aus, wäre das nichts für Sie? Falls Sie Interesse haben, lassen Sie es mich wissen. Ein Wort genügt, und Sie sind dabei!«

»Schönen Dank auch, der Herr – kein Bedarf.«

»Na, wenn das so ist, wären wir uns ja einig«, knurrte der Vertreter der gefürchteten Geheimpolizei zurück, von einem Durchschnittsberliner so gut wie nicht zu unterscheiden. Breitkrempiger dunkler Hut, dazu passender Anzug, Parteiabzeichen auf dem Revers, dezente, schwarzweiß gestreifte Krawatte. Genau so stellte man sich den dienstbeflissenen Henkersgehilfen vor, wie geschaffen, missliebige Subjekte aus dem Weg zu räumen. Und selbst Leschek, der ein Gemüt wie ein Fleischwolf besaß, das Fürchten zu lehren. »Wären Sie jetzt vielleicht so gut, die Tür aufzumachen? Wir sind in Eile, müssen Sie wissen.«

»Darf man fragen, aus welchem Grund …«

»Na, Sie haben vielleicht Nerven!«, fuhr der Geheimpolizist dazwischen, einen Schmiss auf der linken Wange, was das Bild, das man sich von einem Sadisten machte, abzurunden schien. »Ich schlage vor, Sie halten sich aus allem raus, dann bekommen Sie auch keine Scherereien. So, und jetzt wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich den Heckmeck verkneifen würden. Damit Sie Bescheid wissen, bei mir können Sie mit Ihrer Unschuldsmasche nicht landen.«

Die Hand auf der Klinke, ließ Emil den ungebetenen Besuch passieren, deutete auf die mit rotem Samt ausgekleidete Treppenflucht, die ins Souterrain des mondänen Etablissements führte, und folgte dem Greiftrupp auf dem Fuß. Die Kandelaber an der Wand sandten mattrote Strahlen aus, und während er versuchte, mit dem wortkargen Dreigestirn Schritt zu halten, schienen sich die Silhouetten der Agenten in nichts aufzulösen.

Der Türsteher stieß einen gedämpften Seufzer aus. Egal wo, das Faustrecht war auf dem Vormarsch, und es gab niemanden, der es wagte, sich den Menschenschindern zu widersetzen, geschweige denn gegen das Unrecht vorzugehen. »Ich will ja nichts sagen, Herr …«

»Kriminalobersekretär, falls Sie es genau wissen wollen.«

»Ich will ja wirklich nichts sagen, aber wenn Sie nach Vergewaltigern oder Serienmördern suchen, sind Sie bei uns falsch.«

»Wie bitte?« Auf halbem Weg nach unten, wo ihm eine Pforte aus Mahagoni den Weg versperrte, machte der Anführer des Greiftrupps kehrt. »Sag das noch mal, Presssack!«

Lescheck hätte sich ohrfeigen können. Doch für Vorwürfe an die eigene Adresse, wiewohl berechtigt, war es jetzt zu spät. Der Kraftmensch von einst, Ende der 20-er die Hauptattraktion im Varieté Wintergarten, sackte in sich zusammen.

Ins Fettnäpfchen getreten, wieder mal. Typisch für ihn. Er konnte einfach nicht die Klappe halten. Ein Manko unter vielen, aber mit Sicherheit das größte. Und ein Ausrutscher mit Folgen, fragte sich nur, mit welchen.

 

»Was denn?«

»Stell dich nicht dümmer, als du bist, du Schießbudenfigur. Was du gesagt hast, will ich wissen!«, brüllte der Gestapo-Beamte im Stil eines Feldwebels los, senkte den Blick und stierte Leschek über die Ränder seiner Bürokratenbrille an. »Aber dalli, sonst nehmen wir dich in die Mangel, bis die Zähne in deinem Ganovenarsch Klavier spielen!«

Alle Neune, jetzt hatte er den Salat.

Der Türsteher atmete hektisch durch, und wie um das Desaster perfekt zu machen, in das er sich dank seiner Unbedachtheit hineinmanövriert hatte, griff der Gestapo-Agent zur Waffe.

Warum hatte er nicht einfach die Klappe gehalten. Warum nur. Dann wäre ihm das hier erspart geblieben. Und manch anderes, was ihm blühte, mit dazu.

»Na los, sonst puste ich dir deinen Quadratschädel weg!« Starr vor Schreck, fokussierte Leschek den Schalldämpfer einer Walther PPK, die Hand auf dem polierten Kahlkopf, auf dem sich eine Lache aus Schweißperlen bildete.

»Mach’s Maul auf, oder ich muss ein bisschen nachhelfen!«

An sich gab es für Emil zwei Möglichkeiten, die erste ein Akt der Vernunft, wenngleich seiner nicht würdig, die zweite der schiere Wahnsinn, der Anfang vom sicheren Ende. Entweder er überwand den Groll, der sich in ihm zusammenbraute, gab klein bei und zog letztendlich den Kürzeren, was am Abtransport ins Café Heydrich zwecks Sonderbehandlung nichts geändert hätte, oder er hörte auf seinen Instinkt, der ihm riet, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen.

Endstation Prinz-Albrecht-Straße, Rückfahrkarte nicht vonnöten.

Oder KZ Sachsenhausen, kam ganz drauf an.

Schöne Aussichten, oder nicht?

»Sag mal, bist du taub, oder was? Ich hab dich was gefragt, Fettklops, raus mit der Sprache!«

»Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe keine Ahnung, wovon Sie spre…«

»Und ob du sie hast, halt mich bloß nicht für bekloppt. Ihr Ganoven steckt doch alle unter einer Decke, davon kann man ja wohl ausgehen.« Flankiert von seinen Handlangern, die Lescheks Arme auf den Rücken wuchteten, um dem Zwei-Meter-Riesen Handschellen anzulegen, trat der Anführer des Greiftrupps auf den Türsteher zu. »Ich sag’s nicht noch mal: Entweder du packst jetzt aus, oder du kannst deine Zelte im KZ aufschlagen. Also: Was weißt du über den S-Bahn-Mörder, raus mit der Sprache, sonst drehen wir dich durch die Mangel, dass dir Hören und Sehen vergeht!«

»Nichts«, beteuerte Leschek, wohl wissend, dass dies auch nicht annähernd der Wahrheit entsprach. Das Gerücht, ein Serientäter laufe frei herum und habe bereits mehrere Frauen auf dem Gewissen, ohne dass die Kripo eine heiße Spur gefunden habe, machte seit längerem die Runde, zuerst unter dem Personal der Reichsbahn, wo die Mutmaßungen nur so ins Kraut schossen, in der Folge aber auch dort, wo der Mörder über die Frauen hergefallen war. Allein drei von insgesamt vier Getöteten, die auf das Konto des berüchtigten Killers zu gehen schienen, waren von Letzterem brutal vergewaltigt und im Umkreis von wenigen Kilometern aufgefunden worden. Emil, derzeit wohnhaft in Friedrichsfelde, wo sein Schwager als Rangierer tätig war, hatte als einer der Ersten von den Gräueltaten erfahren, begangen zwischen Erkner und dem Ostkreuz, zumeist nachts und in einem Waggon zweiter Klasse. Die Details, insofern sie der Wahrheit entsprachen, ließen selbst hartgesottene Naturen erschaudern.

Der Mörder, so wurde hinter vorgehaltener Hand kolportiert, stelle alles Bisherige in den Schatten. Auch das, was Berlin an Abscheulichkeiten aufzuweisen habe. Aus Angst, ins Visier der Gestapo zu geraten, hielten sich die Eingeweihten zwar bedeckt, allen voran die Kollegen im Milieu. Dennoch war durchgesickert, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Sittenstrolch handelte, sondern um einen Psychopathen, der seinen Opfern schwere Verstümmelungen zufügte. Details so recht nach dem Geschmack der Acht-Uhr-Blätter, die ihre Leser mit dem neuesten Klatsch und Tratsch versorgten, und geeignet, die Gerüchteküche zum Brodeln zu bringen.

Dabei, das heißt bei makabren Mutmaßungen, war es jedoch geblieben. In den Zeitungen war kein Wort über die Mordserie zu lesen gewesen, und das, wie Emil zu Recht vermutete, nicht ohne Grund. Die Nazis hatten es sich nun mal in den Kopf gesetzt, in Berlin für Recht und Ordnung zu sorgen, mit einigem Erfolg, das musste ihnen der Neid lassen. Ein Serientäter, der nach Belieben meucheln, vergewaltigen und seine Mordfantasien an wehrlosen Opfern abreagieren konnte, so etwas konnte folglich nicht passieren. Was nicht sein durfte, das durfte nun mal nicht sein. Stand doch nicht nur der Ruf der Polizei auf dem Spiel, die nach wie vor im Dunkeln tappte, sondern auch das Ansehen des Regimes, das sich damit brüstete, für Recht, Ordnung und die Reinhaltung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu sorgen.

Ein Name für den Täter war indes schnell gefunden und binnen kurzem in aller Munde. Der Werwolf, behaupteten diejenigen, die über das nötige Quäntchen Fantasie verfügten, habe es vor allem auf junge Frauen abgesehen. Und zwar auf solche, deren Lebenswandel erheblich zu wünschen übrig ließ. Lebedamen oder nicht, an der Tatsache, dass der Täter mit nie dagewesener Brutalität zu Werke ging, bestand laut Flüsterpropaganda kein Zweifel. Kein Wunder also, dass die Gestapo Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um auf die Spur des vermeintlichen Monstrums zu kommen. Und sei es nur, um der Kripo eine lange Nase zu drehen.

Wie Emil aus verlässlicher Quelle wusste, war zwischen den Konkurrenten ein erbitterter Wettstreit ausgebrochen, bei dem die Kripo allmählich ins Hintertreffen geriet. Beide indes, sowohl die Schergen Heydrichs als auch die Ermittler im Präsidium, verfolgten das gleiche Ziel, wiewohl mit gänzlich unterschiedlichen Motiven. Um wen auch immer es sich bei dem geheimnisumwitterten Werwolf handelte, es war an der Zeit, dass etwas geschah. Je länger sich das Monstrum auf freiem Fuß befand, desto rascher würde die Unruhe unter den Berlinern um sich greifen.

Halb Berlin in Panik, für die Nazis der reinste Albtraum.

Und für die Gestapo die Blamage schlechthin.

»Nichts?«, echote der Anführer des Greiftrupps, die Hand am Abzug seiner Dienstwaffe, deren Mündung er auf Lescheks Stirn presste. »Und du bist dir da auch wirklich sicher?«

»So ziemlich.«

»Dein letztes Wort?«

»Mein allerletztes, ob Sie es glauben oder nicht.«

Die Miene des Leguans gefror zu Eis.

»Na schön, du hast es so gewollt!«, stieß Lescheks Gegenüber mit tückischem Zischeln hervor und bedeutete seinen Handlangern, Hantel-Emil nach draußen zu eskortieren. »Den heben wir uns für später auf – abführen. Und über Funk Verstärkung anfordern, aber dalli!«

»Einen Moment noch.«

»Was ist, Rübezahl, du hast es dir doch nicht etwa anders überlegt?«, machte der Scherge von Himmlers Gnaden aus seiner Verachtung keinen Hehl, die Waffe immer noch in der Hand, um im Notfall Gebrauch davon zu machen. »Was glotzt du so bedröppelt aus der Wäsche, Angst vor der eigenen Courage?«

»Weder davor noch vor dir, du halbe Portion – wie käme ich dazu. Und was deine beiden Gorillas angeht, die erledige ich mit links. Was meinst du, wie groß wären eure Chancen, wenn ich keine Handschellen anhätte, eins zu eins, eins zu hundert, eins zu tausend oder eins zu einer Mil…«

Er konnte einfach nicht die Klappe halten. Dieses Manko, auf das er noch nie so stolz gewesen war wie heute, sollte den 58-Jährigen das Leben kosten.

Das Letzte, was Hantel-Emil spürte, war die Spitze einer Injektionsnadel, die sich tief in die rechte Hüfte bohrte, ein untrügliches Zeichen, dass er übers Ziel hinausgeschossen war.

Blieb also nur, die Augen zu schließen. Und sich selbst zu seinem Entschluss zu gratulieren, so folgenreich er auch gewesen war.