Tragödie im Courierzug

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»Beißen die Fische?«, fragte Ferdinand.

»Es könnte besser sein, Herr Offizier«, antwortete der Graue und zeigte auf einen Eimer, der lediglich klares Wasser enthielt.

»Fischen Sie hier des Öfteren, meine Herren?«

Die beiden sahen sich an, als befürchteten sie, etwas Falsches zu sagen. Sie schwiegen erst einmal. Dabei war das Angeln hier nicht verboten, schließlich handelte es sich nicht um ein privates Flussufer.

»Ich ermittle in einer militärischen Angelegenheit und erbitte lediglich ein paar Auskünfte.« Ferdinand dachte daran, wie er bei der Begrüßung der beiden Männer erst nach dem bösen Blick eine vernünftige Reaktion erhalten hatte, und fügte hinzu: »Die Informationen sind mir allerdings sehr wichtig.«

Der Alte zog den Kopf ein, der Jüngere starrte auf den Boden. Die beiden sahen aus, als trauten sie sich nicht einmal, im Erdboden zu versinken.

»Fischen Sie immer an dieser Stelle?«

Der Alte schaute zum Jüngeren, der hob den Kopf. War das ein Nicken? Nach einigem Zögern antwortete der Alte: »Wenn es wärmer ist, gibt es eine Menge Leute, die hier fischen. Gelegentlich sitzen wir daher auch weiter stromaufwärts.«

»Wie viele Angler gibt es denn hier gewöhnlich, sagen wir, im Spätsommer?«

Der Alte seufzte. »Puh … Bei gutem Wetter vielleicht ein paar Dutzend. Auf dieser Seite des Flusses.«

»Kennen Sie die anderen Angler alle?«

»Nicht alle, aber die meisten. Wenngleich wahrlich nicht alle unsere Freunde sind.« Der Alte wiegte den Kopf. »Sehr viel zu reden gibt es beim Fischen auch nicht.«

»Sitzen Sie gelegentlich auch dahinten?« Ferdinand zeigte stromabwärts, zu der Biegung, wo sich das Gestrüpp mit dem Leichnam befand.

»Dort?« Die Frage klang wie: Sind Sie noch bei Sinnen? Der Alte schlug prompt die Hand vor den Mund.

Ferdinand reagierte mit einem scharfen Blick.

»Es ist nur so«, half der Jüngere seinem Kompagnon, »dass dort unten der Fluss schmaler und daher die Strömung stärker wird. An dieser Stelle beißen die Fische nicht. Da treffen sich eher Liebespaare. Oder Ihresgleichen, wenn es einen Disput auszutragen gilt.«

Ferdinand hatte von den Duellen gehört, die zwar illegal, aber zumeist geduldet waren. Dass in unmittelbarer Nähe eines beliebten Ortes für die Zweikämpfe ein toter Offizier lag, ließ den Leichenfund in einem neuen Licht erscheinen.

Vier

13. Januar, 4 Uhr nachmittags

Zu Gesprächen in das Bureau des Schuldirektors ging Oberst-Lieutenant Christian Philipp von Gontard auch nach all den Jahren an der Lehranstalt immer noch mit einem Gefühl der Unsicherheit. Das galt insbesondere, wenn Generalmajor von Schnöden ihn so überraschend zu einem Termin einbestellte. Gontard hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Selbst besonders dumme Studenten wie der dicke von Ahlewitz konnten sich kaum über eine ungerechte Behandlung beklagen. Andererseits ließen sich ostpreußische Junker bei der Unterstützung ihrer degenerierten Nachkommen nicht lumpen. Erwartete Gontard eine Warnung? Wollte von Schnöden den väterlichen Freund spielen, der auch nichts für die Dummheit in der Welt konnte, ihn aber um Obacht im Umgang mit den Strohköpfen bat? Für solche Albereien fühlte Gontard sich zu alt. Daher klopfte er an die Tür, dass es krachte.

Der Diensthabende öffnete, als habe er dort gewartet. »Ich werde den Herrn Generalmajor umgehend über Ihr Kommen unterrichten«, sagte er aus dem Vorzimmer heraus. Der dürre Kerl sah aus wie einer von denen, die jeden Abend soffen, denn er trug schon mit seinen jungen Jahren eine purpurrote Nase. Diese verharrte regungslos, bis Gontard nickte. Dann flitzte der Mann los.

Gontard trat ins Vorzimmer und schaute dem Gefreiten hinterher, der im Bureau des Generalmajors verschwand. Kaum einen Wimpernschlag später tauchte die Schnapsnase wieder auf. »Der Generalmajor erwartet Sie.«

Gontard dankte mit einem Handzeichen und schritt durch das Vorzimmer zur offenen Tür des Schuldirektors.

»Da sind Sie ja!«, sagte von Schnöden und blickte von Gontard zur Wanduhr, die gerade vier Mal schlug. »Pünktlich wie die preußische Post. Das lob ich mir, mein lieber Herr Oberst-Lieutenant. Nehmen Sie doch Platz!«

Gontard setzte sich auf den Sessel neben dem kleinen Teetisch, und auch der Generalmajor ließ sich ins Polster fallen. Obschon sich der Schuldirektor auf einem höheren Sitz niedergelassen hatte, wirkte seine Gestalt gebeugt, als drücke eine Last auf seine Schultern. »Wie geht es der werten Familie, Herr Oberst-Lieutenant?«

»Alle sind wohlauf«, sagte Gontard und dachte an die Form der Einbestellung mittels Bote und Schriftstück. So einen Aufwand betrieb keiner, um sich nach dem Befinden der Familie zu erkundigen. Dennoch klang von Schnödens Freundlichkeit echt.

Der Schuldirektor schien sich mit der Antwort nicht zufriedenzugeben und schaute aufmunternd.

Also fuhr Gontard fort: »Meine Frau und die Tochter hüten das traute Familienheim. Und mit meinem Sohn in der Breslauer Garnison correspondiere ich.«

Von Schnöden setzte ein verständnisvolles Großvaterlächeln auf und fragte: »Meldet er sich denn regelmäßig? Man hört ja viel über das mangelhafte Verhältnis der jungen Leute zum geschriebenen Wort.«

»Ich kann nicht klagen, beinahe jede Woche trifft Post von ihm ein.« Gontard fühlte sich ein wenig verschaukelt. Was sollte dieses Geplauder?

»Das freut mich.« Von Schnöden strich sich durch seinen eisgrauen Schnurrbart, als müsse er das Lächeln wegwischen. »Dennoch ist es wohl an der Zeit, dass Sie Ihren Filius wieder einmal persönlich beehren, lieber Herr Oberst-Lieutenant.«

Gontard merkte, wie die Spannkraft aus seinen Gesichtsmuskeln zu entschwinden drohte. Gerade so konnte er verhindern, dass ihm die Kinnlade herunterklappte.

»Ich sehe schon, Sie fragen sich, was es mit meiner Bemerkung auf sich hat.«

Gontard fand keine Worte. Immerhin gelang es ihm, die Augenbrauen zu heben. So hatte er wenigstens das Gefühl, nicht wie ein Narr auszusehen.

Das großväterliche Lächeln im Gesicht des Schuldirektors wurde immer breiter. »Am besten, Sie nehmen gleich heute Nacht den Schnellzug.«

»Heute Nacht?« Gontard merkte, dass er die Worte geradezu gerufen hatte, eine Spur zu laut.

»Ja.« Von Schnöden wurde mit einem Schlag ernst.

Gontard kannte die Angewohnheit des Schuldirektors, in Rätseln zu sprechen. Er ließ auch nicht mit sich diskutieren, wenn er eine Order von oben hatte – und genau darauf deutete das geheimnisvolle Verhalten von Schnödens hin.

»Sie müssten sich das Wochenende freihalten, mein lieber Oberst-Lieutenant. Es geht um einen Auftrag, zu dessen Erledigung ich eine Person brauche, der ich restlos vertrauen können muss.« Das klang wie ein Kompliment. Das Antlitz des Schuldirektors wirkte plötzlich so wichtig wie seine Uniform.

Gontard schwieg.

»Ich kann Ihnen keine Details nennen«, fuhr von Schöden fort und zog ein Couvert aus seinem Waffenrock. »Dieses Schreiben muss auf Geheiß von ganz oben Generalmajor von Frohwitz übergeben werden. Ungeöffnet und persönlich. Daher möchte ich jemanden schicken, auf dessen Loyalität ich mich blind verlassen kann.«

Wohl eher jemanden, der keine Fragen stellt, dachte Gontard. Er sagte: »Ganz oben heißt …« Von Schnöden nickte und schwieg.

Bei Seiner Majestät oder der königlichen Familie wollte Gontard nicht zwischen irgendwelche Fronten geraten, da stand man zu schnell auf der falschen Seite. Daher murrte er: »Nun, mein Bursche ist krank, und eigentlich wollte ich am Wochenende …«

»Ach, hören Sie auf, mein lieber Herr von Gontard«, unterbrach ihn der Schuldirektor. »Wenn Sie jemanden brauchen, der Ihre Bagage trägt, dann verpflichten Sie doch einen Ihrer Lieutenants. Sie kennen mich lange genug und sollten wissen, dass ich mit so einem Anliegen nur an Sie herantrete, wenn eine außerordentliche Dringlichkeit vorliegt.«

»Also gut.« Gontard streckte die Hand nach dem Schreiben aus. Von Schnöden ließ ohnehin nicht mit sich reden. Deshalb beschloss Gontard, das Positive an der Sache zu sehen: Er würde Ferdinand auf Kosten Seiner Majestät besuchen.

Von Schnöden übergab Gontard das Couvert und sagte: »Hierüber verlieren Sie kein Wort! Sie fahren aus privaten Gründen zu Ihrem Sohn in die Garnison. Verstanden?«

Ferdinand von Gontard schritt den Exerzierplatz entlang. Ein Zug Rekruten übte unter den Befehlen eines Gefreiten den Marsch im Stechschritt. Ansonsten herrschte Ruhe – endlich. Quappe saß beim Feldscher und jammerte dem bestimmt die Ohren voll. Nach der ersten Einschätzung des Militärarztes hatte der Knecht sich das Bein nicht gebrochen, sondern nur verstaucht. In ein paar Tagen sollten die Schmerzen nachlassen. Vermutlich würde Quappe dennoch den ganzen Winter hindurch auf seine Verletzung verweisen, um seine Dienstpflichten so weit wie möglich zu umgehen.

Das Bündel mit den Fundstücken drückte immer mehr auf Ferdinands Schultern. Der Stoff taute offenbar auf, und die abgestandene Nässe kroch in Ferdinands Waffenrock. Das Zeug roch nach vermoderten Pilzen. Diesen Geruch sollte seine Uniform nicht annehmen. Also lief Ferdinand schneller, ließ die Befehle und Stechschritte hinter sich.

Auf dem Kasernenhof schlitterte er über ein vereistes Stück des freigeschaufelten Weges. Er ruderte mit den Armen, das Bündel fiel zu Boden, doch er selbst konnte sich aufrecht halten. Dabei kam er sich vor, als balanciere er über Murmeln. Er rutschte immer schneller. Gerade noch schaffte es Ferdinand, mit einem Satz zur Seite zu springen. Im Schnee fand er schließlich Halt. Die Knie zitterten noch, aber die Gefahr war gebannt. Glück gehabt! Verletzt wäre er kein guter Ermittler gewesen. Auch wenn er nicht so ein Theater wie Quappe veranstalten würde. Nicht einmal, wenn eines seiner Beine beim Feldscher geblieben wäre. Obwohl, dann vielleicht schon … Ferdinand schob den Gedanken beiseite, befreite sich aus dem Schnee und hob das Bündel auf, um durch den Tiefschnee neben dem Pfad zur Unterbringung für niedere Offiziere zu stapfen.

 

Auf der Treppe zu seiner Stube hinterließ jeder seiner Schritte eine Pfütze. Zum Glück musste er nur bis ins erste Obergeschoss. Ferdinand nahm je zwei Stufen mit einem Schritt, bog in den Gang ein und riss die Tür zum Zimmer auf. Obwohl der Ofen nicht befeuert war, überwältigte ihn die Wärme. Es fühlte sich nicht wie Frühling an, auch nicht wie Sommer – ein Zuhause war so etwas wie eine Jahreszeit für sich, dachte Ferdinand. Selbst wenn es sich nur um eine Bude in der Kaserne handelte.

Gewöhnlich teilte Ferdinand sich das Zimmer mit einem anderen Lieutenant. Der, ein schweigsamer und nicht besonders heller junger Mann namens Alfons von Zwiewitz, hatte gerade Sonderurlaub und weilte in seiner oberschlesischen Heimat, da sein Vater im Sterben lag. So hatte Ferdinand die Bude für sich allein und konnte sich ausbreiten. Er legte das Bündel auf den Tisch und breitete das Textil aus. Einzelne Stofffetzen brachen sogleich aus dem Überzieher. Ferdinand legte die Pickelhaube, welche die Witterung gut überstanden hatte, zur Seite und wandte sich den Resten des Waffenrocks zu. Die Platte reichte für den modrigen Stoff kaum aus, also stapelte er die Stücke, die zu zerfallen drohten, am Rand. Doch auch beim Rest waren Farbe und Form kaum auszumachen. Nicht einmal die Waffengattung konnte er anhand der Schulterklappen identifizieren. Wie sollte er da Rückschlüsse auf den ehemaligen Träger des Kleidungsstücks ziehen?

Ferdinand zog den Schemel herbei und setzte sich. Der Stoff auf dem Tisch sah aus wie direkt aus dem Komposthaufen gezogen. Genauso roch es inzwischen in der gesamten Stube. Abgesehen von dem Helm und dem zerfallenden Waffenrock, hatte Ferdinand keinerlei Hinweise darauf, wessen Leichnam in der Hecke an der Oderaue lag und vor sich hin verweste. Offenbar handelte es sich um einen Soldaten Seiner Majestät. Doch davon gab es allein in Breslau Tausende. Möglicherweise hatte der Mann auch gar nicht in Breslau gewohnt, sondern war zu Besuch in der Stadt gewesen. Wo sollte Ferdinand unter diesen Umständen mit seinen Nachforschungen anfangen? Vielleicht führten diese Gedanken aber auch zu weit, und es war am besten, er suchte die Lösung weiterhin vor sich auf dem Tisch, auch wenn sie in einem Haufen Kleidung steckte, der seinerseits einen ziemlich aufgelösten Eindruck machte. Ferdinand musste bei dem Gedanken schmunzeln, dass sich die Lösung gerade vor seinen Augen auflöste. Doch vielleicht wies das Wortspiel durch die innere Logik, die Grotesken so häufig innewohnte und den Scherz erst ermöglichte, auf etwas hin.

Ferdinands Aufmerksamkeit hatte bisher dem Äußeren des Waffenrocks gegolten. Aber womöglich sollte er eher im Innern nach einem Hinweis suchen. Ferdinand riss Stück für Stück den Stoff von dem Kleidungsstück und legte die Fetzen zum Moderkram am Rand der Tischplatte. Da war etwas! Im Futter der Brustpartie fühlte er einen Gegenstand. Ein Etui? Unter dem Futter befand sich eine Tasche. Ferdinand riss einen Streifen Stoff ab, und Leder wurde sichtbar. Das Fundstück hatte die gleiche Farbe angenommen wie die Textilien, ein Braungrau, als wäre der gesamte Fund von einem zu groß geratenen Regenwurm verdaut worden. Ferdinand hob den Gegenstand vorsichtig hoch. Es handelte sich nicht um ein Etui, sondern um ein Notizbuch. Der Einband zeigte keinen Aufdruck, weder Initialen noch ein Wappen oder Ähnliches. Auf der ersten Seite konnte Ferdinand die Schrift allenfalls erahnen, zu verblichen war die Tinte und zu verlaufen auf dem klammen Papier.

Es klopfte an der Tür.

»Ja, ja!«, rief Ferdinand und sprang auf.

Ein junger Corporal polterte ins Zimmer und meldete: »Herr Lieutenant von Gontard, mich schickt die Poststelle mit einer telegraphischen Nachricht.«

Ferdinand merkte, wie sein Herz ein wenig schneller schlug.

Der Junge reichte ihm einen Zettel.

Ferdinand las:

Komme zum Wochenende – Stopp – Ankunft morgen mit Schnellzug – Stopp – Vater – Stopp

Wenn Quappe stand, sah er völlig gesund aus. Ein ganz anderes Bild gab sein Gang ab. Der Stallbursche hinkte nicht einfach nur, seine ganze Körperhaltung wirkte, als bewältige er seine letzten Schritte. Ferdinand ging dieses Verhalten auf die Nerven. Vielleicht wäre ein Mädcheninternat die bessere Adresse für den Kerl! Doch Ferdinand ertrug das Gehabe, denn er wollte unbedingt mit jemandem reden, bevor er erneut zu Generalmajor von Frohwitz ging.

»Und Sie bezahlen det Bier?«, vergewisserte Quappe sich.

»Wenn wir jemals in der Wirtschaft ankommen, dann ja.«

Prompt humpelte Quappe schneller. Sie schritten am neuen Schauspielhaus vorbei, über die Schweidnitzer Straße in Richtung Großer Ring. Der Verkehr wurde immer dichter, daher drängten sie an den äußersten Wegesrand. Hier standen zwar Bettler und Kolporteure herum, aber Quappe hätte den Droschken und Reitern in der Straßenmitte mit seinem verletzten Fuß nicht schnell genug ausweichen können.

Vor der Brücke über die Ohle kam ihnen eine Gruppe Nonnen entgegen. Die Frauen schritten stumm, und dennoch machten alle Passanten sofort Platz. Quappe und Ferdinand waren gezwungen, kurz anzuhalten. Der Stallbursche rollte mit den Augen. Ferdinand wusste, dass Quappe mit dem Verkleidungsbohei der Katholiken nichts anfangen konnte, aber Breslau war Bischofssitz, da liefen eben Nonnen durch die Stadt. Immerhin beeilte Quappe sich in der Folge noch etwas mehr.

Nach der kleinen Brücke über den Fluss wurde die Straße ein wenig breiter, und gleich nach dem alten Schweidnitzer Thor hatten sie es geschafft. Während die Massen zu Fuß, zu Pferde oder im Wagen weiter in Richtung Großer Ring strömten, bogen sie in die Junckherrngasse ein. Dabei sah Ferdinand aus dem Augenwinkel einen Soldaten in der Menge. Den kannte er doch! Woher, fiel ihm aber nicht ein.

Quappe humpelte hurtig vornweg, sicher zog ihn das Bier an.

Ferdinand blieb keine Zeit, weiter über den Mann in Uniform nachzudenken. Schon nach ein paar Schritten in der Junckherrngasse erreichten sie die Wirtschaft »Zur Goldenen Gans«. Es handelte sich um eine bei Soldaten beliebte Bierschenke. Ferdinand und Quappe tranken hier des Öfteren ein Glas zusammen. Auch in dieser Kneipe lauschten natürlich die Ohren Seiner Majestät, dennoch verkehrten aufgeklärte Geister wie die Dichterin Friederike Kempner in der »Gans«. Vielleicht lag es am Schankwirt, denn der achtete strikt darauf, dass jeder trank – immer. Ferdinand wusste nicht, warum, aber nie wagte ein Gast zu widersprechen. Lieber verließen die grauen Gestalten das Lokal.

Ferdinand öffnete die Tür, und ein Schwall Kneipenluft schlug ihm entgegen. Es roch, als sei eine ganze Lieferung Tabak verbrannt worden. Er trat in die Wolke, Quappe folgte ihm.

In der Wirtschaft schlugen vielleicht ein Dutzend Männer den Nachmittag tot, eine eigentümliche Mischung aus Offizieren und Schutzmännern mittleren Ranges, Bürgersleuten und Gesindel. In der Ecke brüllten ein paar Studenten, die Schärpen einer Verbindung trugen. In wenigen Stunden würden sie aus der Vielzahl der abendlichen Kneipenbesucher kaum noch herauszuhören sein.

Ferdinand mied normalerweise die Nähe zu den jungen Verfechtern der deutschen Sache nicht, doch jetzt hatte er etwas Dringendes mit Quappe zu besprechen und nahm an einem Tisch in der gegenüberliegenden Ecke Platz. Kaum saßen sie, stellte der Wirt zwei Humpen Bier auf den Tisch. Ferdinand bedankte sich und zog das Notizbuch aus dem Waffenrock.

»Nun machen Se ma nich so hastig! Ick hab Durst.« Quappe hob schon beim Sprechen seinen Krug in die Höhe.

Er hatte ja recht, Leichen liefen nicht weg, aber Bier wurde schal. So ließ Ferdinand seinen Humpen gegen Quappes Krug krachen. Als ihm der Gerstensaft die Kehle herunterrann, stellte er einmal mehr fest, dass die Breslauer sich aufs Bierbrauen verstanden. In Berlin gehörte eine gewisse Kennerschaft dazu, eine Wirtschaft mit gutem Bier zu finden – hier an der Oder bekam man nur mit viel Pech ein schlechtes. Ferdinand stellte den Krug ab und legte das Notizbuch auf den Tisch.

Quappe fragte: »Und det ham Se im Waffenrock von dem Toten jefunden?«

Ferdinand nickte. »Die Seiten sind klamm und lassen sich kaum umblättern. Bis jetzt habe ich kein einziges Wort entziffern können.«

»Det heißt, wir wissen so jut wie nix.«

Ferdinand trank einen Schluck Bier. Wussten sie wirklich nichts?

»Na ja, immerhin könn’ wa sagen, det da ’n Soldat liegt. Schon wejen die Pickelhaube.«

Daran bestand kein Zweifel. Nur half ihnen diese Information nicht allzu viel, wie Ferdinand schon in seiner Stube festgestellt hatte.

»Und von hier is er bestimmt och nich«, mutmaßte Quappe und trank einen großen Schluck.

»Wie kommen Sie zu der Annahme?«, fragte Ferdinand.

»Der liegt da ja schon ’ne Weile, und inne Garnison jibt et keene Vermissten. Det hätten wa doch jehört.«

»Da haben Sie recht«, pflichtete Ferdinand dem Burschen bei und nahm den Biernachschub vom Wirt entgegen.

»Det kann also irjendeena aus irjendeenem Truppenteil im Reich von Seina Majestät sein. Wenn wa doch nur det Buch trocken kriejen würden …« Quappe kippte sein Bier weg, als wolle er heute noch den gesamten Vorrat der Kneipe zunichtemachen.

»Wir bräuchten einen sehr warmen Raum.«

»Inne Küche is et warm.«

»Aber zu feucht.«

»Det stimmt.«

Schweigend tranken beide.

»Ich hab’s!« Ferdinand verschluckte sich beinahe bei den Worten. »Sie müssen doch in der Bäckerei immer die Reste für die Fütterung im Pferdestall der Garnison holen.«

Fünf

13. Januar, 5 Uhr nachmittags

Meine über alles verehrte Luise,

welcher Dichter könnte beschreiben, welche Wärme ich in diesem Winter verspüre. Nur ein Gedanke an Dich zaubert mich in den heißesten Sommer auf Erden. Die Sonne scheint vielleicht gerade nicht über der Residenzstadt, aber in meinem Herzen brennt ein Licht, heller, als es je ein Mensch erblickt hat.

Wohl nur die allergrößten Meister fänden Worte für mein Glück. Ich hingegen muss es bei diesen bescheidenen Zeilen belassen. Was wünschte ich mir in diesem Moment, so geistreich zu sein wie Clemens Brentano, der an seine Geliebte schrieb: »Solch Leid und solche Freude ist mir aus keinem Brunnen gequollen, als von Deiner Lippe, aus Deinen Augen.« Wie schade, dass diese Beteuerung nicht von mir ist. Dabei kann kein Dichter, kein Ritter und wohl überhaupt kein Mann auf Erden stärker empfinden als ich.

Die Zeit bis zu unserem nächsten Treffen will mir unendlich lang erscheinen. Ach, wäre doch nur schon Samstag! Was würde ich darum geben, mit Dir durch den Thiergarten spazieren zu können und einen Moment der Zweisamkeit auf den abgeschiedenen Wegen zu genießen, geschützt vor den Augen all dieser Menschen, die Dich an meiner Seite erkennen könnten.

Sicher wird der Tag kommen, an dem ich Deinem Vater unsere besondere Bekanntschaft offenbaren darf. Es sind ja nur noch ein paar Monate, bis ich das Studium beschließe. Sicher werde ich in der Folge eine Stellung bekommen, die es mir ermöglicht, eine Familie zu gründen. Dann werde ich auch würdig sein, Dich, meine Liebe, in aller Öffentlichkeit an meiner Seite zu wissen. Solch ein vollendetes Glück wage ich mir kaum vorzustellen. Allein, wo ist der Mensch frei, wenn nicht in seinen Träumen? In meiner Einsamkeit bleiben mir die Vorstellung einer wundervollen Zukunft und das Papier, auf dem ich meine Sehnsüchte mir Dir teilen kann.

Im Übrigen erscheint mir Dein Vater nicht als der strenge Mensch, den Du in ihm siehst. Mir deucht, er hat ein großes Gespür für die rechtschaffenen Dinge im Leben. Freilich, sein Auftreten gebietet Ehrfurcht, und bevor ich ihn in einer persönlichen Causa zu sprechen wagte, würde ich mir sicherlich mehr Gedanken machen als vor der schwierigsten Prüfung. Bei aller Strenge präsentiert Dein Herr Vater sich bei Lehrveranstaltungen aber auch als aufmerksamer Zuhörer. Dass es Kommilitonen gibt, deren Dummheit gerade dadurch offenbar wird, verschafft mir – so ehrlich bin ich – durchaus Genugtuung. Es gibt Studenten, die den Zorn Deines Herrn Vaters mit vollem Recht zu spüren bekommen.

 

Doch ich schweife ab, verzeih mir dies, meine Herzallerliebste. Ich will Dich nicht mit den profanen Angelegenheiten eines Ingenieurstudiums langweilen. Lieber schwöre ich Dir bei allem, was mir heilig ist, wie sehr ich mich nach Dir verzehre. Wenngleich mir dafür wiederum die Worte fehlen, weil es einfach unbeschreiblich ist. In Hoffnung auf Dein Verständnis verbleibt in Liebe

Dein Claudius

»Da junge Herr Offizia is uff seine Bude.« Die Alte klang nicht nur wie eine Hexe, sie sah auch aus wie eine. Mit ihren knochigen Fingern zeigte sie die Treppe hinauf.

Christian Philipp von Gontard zögerte. Die Stufen machten den Eindruck, als seien sie für die nächsten Tage als Brennholz vorgesehen.

»Det hält schon seit Jaahn«, krächzte die Alte.

Nun, Dinge gingen zumeist kaputt, nachdem sie jahrelang gealtert waren. Der Hinweis der Frau beruhigte Gontard also nicht. Aber nur diese Treppe führte zu Lieutenant Colders Behausung. Vorsichtig nahm Gontard Stufe für Stufe und klammerte sich dabei an das Geländer. Das wirkte genauso morsch wie die gesamte Treppe. Bei jedem Schritt ächzte das Holz, als liege das ganze Haus im Sterben. Aber wie durch ein Wunder hielten die Stufen. Gontard erreichte den ersten Stock und blickte fragend zur Alten hinunter.

Die Vermieterin zeigte auf die Tür der rechten Kammer und schlurfte davon. Behutsam klopfte Gontard an die Tür. Nicht, dass die noch aus den Angeln fiel! Drinnen blieb es ruhig. Also schlug er fester auf das Holz.

In der Kammer grummelte jemand ein »Hm«, das klang, als wolle er nicht gestört werden. Das galt wohl der Alten, mutmaßte Gontard, und öffnete die Tür.

Colder saß an seinem Secretär und blickte zur Tür. Er schaute, als bekomme er Besuch von einem Gespenst. Während sein Kopf wie festgenagelt zur Tür gerichtet blieb, kramte er mit den Händen auf dem Secretär herum, steckte zwei Blätter in einen Stapel Papier und legte Bücher obendrauf.

Wollte der junge Lieutenant etwas vor ihm verstecken? Gontard fiel beim besten Willen nichts ein, was Colder zu verbergen haben könnte. Die Leistungen und das Verhalten des Studenten ließen keine Wünsche offen. Alle anderen Belange interessierten Gontard nicht.

Colder hatte sein Gewühle in den Papieren beendet und schoss so schnell hoch, als wolle er die Trödelei am Schreibtisch beim Aufspringen wettmachen.

Gontard sagte: »Begrüßt hatten wir uns heute schon in der Lehrveranstaltung, Herr Lieutenant, also komme ich gleich zur Sache. Ich habe ein Anliegen.«

»Selbstverständlich, Herr Oberst-Lieutenant. Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?«

»Vielleicht sollten wir uns zunächst setzen.«

Colder schnappte seinen Schemel und eilte um den Tisch herum. Er bewegte sich steif, seine Bewegungen sahen aus, als versuche er im Stechschritt zu rennen. Zum Glück schaffte er die vier, fünf Schritte, ohne zu stürzen. Der Lieutenant wies auf einen weiteren hölzernen Stuhl. »Eine bessere Sitzgelegenheit habe ich leider nicht zu bieten, Herr Oberst-Lieutenant.«

»Danke sehr.« Gontard spürte seine schweren Beine. Das Laufen im Berliner Gedränge strengte ihn stets an. Da war ihm sogar der harte Holzstuhl recht.

Colder blieb stehen und setzte sich auf ein Zeichen Gontards. Der Lieutenant sah aus, als erwarte er eine Belobigung.

»Es ist so, dass mein Knecht derzeit leider unabkömmlich ist.«

Colders Blick fehlte jegliches Verständnis.

Diese Miene kannte Gontard an dem jungen Mann noch gar nicht. »Ich habe eine dringende Mission zu erfüllen und benötige dafür die Assistenz eines zuverlässigen Mannes.«

Colders Gesichtsausdruck hellte sich auf, dennoch sagte er: »Ich verstehe nicht …«

»Nun, Herr Lieutenant, ich würde gern auf Ihre Dienste zurückgreifen.«

Dem jungen Lieutenant gelang es, noch aufrechter zu sitzen als zuvor. Ob der durch die Decke wachsen konnte?

»Die Mission würde noch heute beginnen.«

»Es ist mir eine große Ehre, Ihnen dienen zu dürfen, Herr Oberst-Lieutenant.«

»Gut, dann packen Sie bitte Ihre Garderobe zusammen. Sie sollte für zwei bis drei Tage reichen.« Gontard zog seine Taschenuhr hervor und klappte sie auf. »Schaffen Sie es, sich gegen neun Uhr abends in meinem Hause in der Dorotheenstraße einzufinden?«

»Eine Reise …« Colder sank in sich zusammen.

»Mit der Eisenbahn«, bestätigte Gontard.

»Aber ich wollte doch …« Colder verschluckte den Rest des Satzes.

»Es geht nach Breslau, mit dem neuen Schnellzug«, sagte Gontard aufmunternd.

Colder schwieg. In seinem Gesicht verrichteten die Muskeln Schwerstarbeit.

Gontard klappte seine Uhr zu. Bei dem Geräusch musste er immer an eine Wasserblase denken, die auf der Oberfläche eines Sees platzte. Manchmal schaute er nur nach der Uhrzeit, um das Chronometer zu öffnen und wieder zu schließen. Während er die Uhr zurück in die Tasche steckte, blickte er zu Colder und sagte: »Wenn Sie absolut unabkömmlich sind, würde ich auch eine andere Lösung finden.«

»Nein, nein. In der Dorotheenstraße soll ich mich einfinden, sagten Sie. Um neun?«

Gontard nickte.

»Ich werde selbstverständlich pünktlich sein.«

Ferdinand von Gontard spazierte mit Quappe am Stadtgraben entlang. Das Bier schien heilsame Wirkung zu haben: Quappe lief zwar nicht gerade wie ein junger Hengst, aber das Humpeln war kaum noch zu erkennen. Vielleicht lag das auch am schummrigen Licht. Die Bäume standen kahl wie Skelette und warfen lange Schatten auf den Weg. Es war noch nicht einmal halb vier, und trotzdem begann es schon zu dämmern. Wie viel der zwanzig Minuten frühere Sonnenuntergang im Vergleich zu dem in Berlin ausmachte, merkte Ferdinand vor allem in der Winterzeit. Im Januar war der Mittag kaum vorüber, und der Tag schien schon wieder vergangen.

Sie kamen am neuen Gefängnis vorbei, das gerade erst eingeweiht worden war. Die beiden Türme um das Haupttor gaben dem Carré etwas Kathedralenhaftes. Überhaupt schien Geheimrath Busse, als er die Pläne für den Komplex gezeichnet hatte, vor allem die Demonstration behördlicher Allmacht im Sinne gehabt zu haben: Wie eine Trutzburg ragte der Bau neben dem friedlichen Stadtgraben auf. Im Innern fanden nicht nur die Zellen für die Delinquenten Platz, sondern auch das Stadtgericht mitsamt seinen Bureaus und dem Archiv. Zudem hatte die hiesige Inquisition hier ihren Sitz, so dass eine Kirche ebenfalls nicht fehlen durfte. Der Südflügel, den sie nun erreichten, war jedoch den weltlichen Büßern vorbehalten. Ferdinand hatte gelesen, dass der Gefängnistrakt sich über drei Etagen erstreckte. Dabei maß eine einzelne Zelle ganze sieben mal zehn Fuß. An Stangen konnten die Insassen des Nachts Hängematten befestigen. Diese wurden morgens eingezogen, und dann blieb den Häftlingen als Abwechslung in dem kahlen Raume nur der Lokus. Lediglich die Zellen für die besseren Häftlinge verfügten zusätzlich über einen Schemel und einen Tisch. Das war auch nicht gerade als Luxus zu bezeichnen, aber immerhin besser, als den ganzen Tag im Kreis zu laufen.

Ferdinand merkte, wie sich die Härchen auf seinem Arm aufstellten – und das führte er nicht auf die Kälte zurück. Eine Berührung an der Schulter riss ihn aus seinen Gedanken.

Quappe tippte ihn unaufhörlich an. Dabei wies der Stallbursche mit dem Kopf gen Schweidnitzer Thor.

Von dort kam der Soldat herbeigeeilt, den Ferdinand auf dem Weg zur Schankwirtschaft schon einmal gesehen hatte. Nun erkannte Ferdinand ihn: Es war der Diensthabende des Bataillonskommandeurs von Frohwitz. Verfolgte der Mann sie? Hier am Stadtgraben konnte er nicht in der Masse untertauchen. Die Zahl der Passanten hielt sich in Grenzen, und die kahlen Bäume und Hecken boten auch kaum die Möglichkeit, sich zu verbergen. Ferdinand blieb stehen und wandte sich dem Gefreiten zu. Der nickte ihnen zu und näherte sich mit schnellem Schritt.

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