Chaosköniginnen

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ABSERVIERT


So schnell sie ihre Füße tragen, hastet Fritzi das Treppenhaus hinunter und auf den Hof. Endlich draußen schnappt sie nach Luft. In dieser Klasse bleibt sie keinen Tag länger! Keine Schulstunde länger! Vor lauter Empörung quellen heiße Tränen aus ihren Augen und laufen ihr über die Wangen. In ihrem Kopf herrscht das reinste Chaos. Ohne genau zu wissen, warum, wird sie von ihren Füßen zum Haupthaus getragen. Auf der Wiese neben dem Eingang sitzt Herr Renneberg mit seiner Französischklasse im gemütlichen Kreis. Sie sprechen erste französische Worte im Chor: »Bon-jour.«

Fritzi fängt Lous Blick auf, die schaut peinlich berührt in die andere Richtung. Eine beste Freundin wäre jetzt herbeigeeilt, oder nicht? Fritzi wischt sich die Tränen von den Wangen und schlüpft durch die schwere Tür des Haupthauses.

Ihre Füße haben es so eilig, sie kommt selbst kaum mit, bis sie endlich vor dem Büro der Schulleiterin haltmachen. Ohne zu klopfen, geschweige denn auf ein »Herein« zu warten, stürmt Fritzi völlig außer Atem das Büro von Frau Doktor Fleck. Die Schulleiterin setzt ihre Lesebrille ab und schaut Fritzi besorgt an.

Wenig später hält Fritzi eine dampfende Tasse Tee in der Hand und erzählt: »Aber als ich in der Aula heute Morgen nicht aufgerufen wurde, hab ich mich gewundert. War ja nur noch die Lateinklasse übrig, dabei hab ich doch Französisch gewählt, verstehen Sie? Spanisch wäre auch okay für mich, aber Latein geht gar nicht.«

Frau Doktor Fleck verzieht keine Miene. Ihre grauen Haare passen perfekt zu ihrem maßgeschneiderten hellgrauen Tweed-Kostüm. Sie hört aufmerksam zu, dann greift sie zum Telefonhörer. »Frau Ritter-Kurzberger, würden Sie mir bitte den Fremdsprachen-Wahlzettel von Fritzi Winter rübermailen? Ja, danke.«

Fritzi schluckt. Diesen blöden Wahlzettel hat sie total vergessen. Wer ahnt denn, dass die Schule so was aufhebt?!

»Also ich habe hier nur einen Zettel, auf dem du Latein angekreuzt hast«, stellt Frau Doktor Fleck mit Bedauern fest.

»Das muss der erste Zettel sein, ich hatte ja zuerst Latein gewählt, und dann hat meine Mutter noch mal Bescheid gesagt, dass ich doch Französisch nehmen will.«

»Hm«, die Direktorin klickt sich durch Dateien auf ihrem Computer und wendet sich dann wieder Fritzi zu: »Über einen zweiten Zettel kann ich hier nichts finden. War das in den Ferien?«

»Nein.« Fritzi versagt fast die Stimme beim Lügen. »Ein paar Tage vor den Ferien«, flüstert sie.

Frau Doktor Fleck schaut nochmals auf ihren Computer, bevor sie antwortet: »Tut mir leid, Fritzi, ich finde hier keinen Vermerk. So kann ich keine Ausnahme machen. Es sei denn …«, sie zögert.

»Es sei denn – was?«

»Die anderen Klassen sind voll. Wenn du allerdings einen Schüler oder eine Schülerin zum Tauschen findest, könntest du wechseln.«

»Na klasse.«

»Wie bitte?«

»Sie meinen, wenn ich jemanden finde, der jetzt noch in die Lateinklasse wechseln will, können wir tauschen?«

Die Direktorin nickt.

»Aber das ist doch aussichtslos.«

Frau Doktor Fleck zuckt bedauernd mit den Schultern. »Mir sind hier die Hände gebunden.«

Fritzi setzt zu einem letzten Versuch an. »Bitte, stecken Sie mich in eine andere Klasse, völlig egal, welche. Niemand wird merken, dass ich da bin. Bitte!«

»Tut mir leid, Fritzi.«

Fritzi schlurft die Treppe hinunter und hat es plötzlich gar nicht mehr eilig. Hätte Frau Doktor Fleck nicht einfach mal ein Auge zudrücken können? Sie späht durch die Glastür des Hauptgebäudes hinaus auf den Hof und hat wenig Lust, erneut an Lou und ihrer Französischklasse vorbeizulaufen. Also wartet sie, dass es zur großen Pause klingelt, und beobachtet so lange alles aus der Ferne. Herr Renneberg ist schon seit Jahren ihr Lieblingslehrer, er unterrichtet auch Sport, Fritzis bestes Fach. Klar, in Kunst und Englisch ist sie auch gut, aber Sport ist einfach das Beste! Ob sie auch weiterhin Sport bei ihm hat?

Mit dem Klingeln füllt sich der ganze Hof mit Schülern. Fritzi verlässt das Gebäude. Lou steht gerade aus dem Gras auf. Ob sie zu ihr hinübergehen soll? Sie hat so viele Fragen, will wissen, was eigentlich passiert ist. Vielleicht ist jetzt der richtige Moment für ein bisschen Klartext. Sie nimmt all ihren Mut zusammen und steuert direkt auf die Wiese neben dem Haupthaus zu. Sie steht schon direkt hinter Lou und will sich gerade räuspern, als sie ein paar Gesprächsfetzen auffängt. »Hey, Emmi, kommst du dann nach der Schule mit zu mir?«

»Klar! Sollen wir Doro und Mandy auch fragen?«

Lou nickt und wendet sich ab. Fritzi duckt sich weg und taucht in einer Schülertraube unter, ehe Lou oder eine der anderen sie bemerkt. Neben dem Kioskbüdchen setzt sie sich allein auf ihr Longboard. Man hat hier einen guten Blick über den ganzen Hof. Fritzis Gedanken kreisen um Lou. Lou, die jetzt nicht an ihrem Stammplatz neben ihr sitzt. Die heute auch bestimmt nicht zum Mittagessen mit in die Grüne Gans kommt, wie an fast jedem anderen Schultag ihres Lebens bisher. Heute also keine gemeinsamen Hausaufgaben und erst recht kein gemeinsames Longboarden. Diese Lou, am gegenüberliegenden Ende des Hofes, lädt nicht nur Emma, sondern sogar auch Doro und Mandy zu sich nach Hause ein. Die beiden sind der anorektische Untergang ihres Jahrgangs, nennen sich ironischerweise die Eiscafé-Tussis, leben mehr auf ihren Insta-Accounts als in der echten Welt. Über Magersucht macht man keine Scherze, aber die beiden sind auch kein Scherz. Nichts an all dem hier ist ein Scherz.

Fritzi versucht, einen schrecklichen Gedanken immer wieder zu verdrängen, schafft es aber nicht. Eine quälende Frage brennt ihr unter den Nägeln: Ist Lou seit Neuestem etwa eine Eiscafé-Tussi?

Sie trägt ein kurzes Blümchenkleid, unter dem andauernd ihre Unterhose hervorblitzt, und ihre wilden Locken werden von unzähligen Spängchen verziert. Spängchen!? So was hat ihre Lou noch nicht einmal besessen. Der Gong markiert das Ende der großen Pause, ohne dass Fritzi auch nur den Hauch einer Chance gewittert hätte, für drei Sekunden allein mit Lou zu sprechen. Sie lauert ihr in der kleinen Pause auf und wartet nach dem Unterricht vor dem Französischtrakt. Aber Lou bewegt sich nur noch im Schwarm ihrer neuen Freundinnen.

Also steigt Fritzi nach der letzten Stunde auf ihr Longboard und rollt allein die Adenauerallee entlang. Was war das bloß für ein grässlicher erster Schultag? Lou hat sie hängen lassen, richtig abserviert sogar. Bei dieser Erkenntnis versetzt es Fritzis Herz einen Stich.

Sie zieht ihr Handy hervor und scrollt durch alte Nachrichten von Lou, die sie sich über den Sommer geschickt haben. Fotos vom Strand, Küsse und Grüße. Einmal kam eine lange Nachricht von Lou. Klar, es war weniger, als sie sich sonst in den Ferien geschrieben haben, aber Fritzi hat sich nicht viel dabei gedacht. War das ein Fehler?

Der ganze Nachrichtenverlauf bietet keinen Anhaltspunkt, warum Lou sauer auf Fritzi sein könnte. Es muss doch eine logische Erklärung für alles geben. Sie sind beste Freundinnen seit dem Kindergarten. So was ändert sich doch nicht von heute auf morgen, oder? Ist Lou überhaupt noch ihre Freundin?

Zu Hause in der Grünen Gans wartet schon ihre Mutter Ulla mit dem Mittagessen. »Hallo, mein Herz.«

»Hallo, Mama.« Fritzi lässt Longboard und Rucksack an der Garderobe fallen.

Ulla trägt ihren »Kreativ-Anzug«, wie sie ihn nennt. Ein in die Jahre gekommener, zu großer Blaumann, mit hoch gekrempelten Ärmeln und Beinen, den sie zum Schreinern, Basteln und Malen anzieht. Sie baut leidenschaftlich gern Möbel. Jedes Zimmer der Grünen Gans hat sie selbst gestaltet, mit eigenen Möbeln und Ideen. Bloß Zimmer Nummer neun ist nicht zu empfehlen. Sven sagt, hier habe sie sich ein wenig »verkünstelt«. Von ihr hat Fritzi die grünen Augen, die schnittlauchartigen, hellbraunen Haare und ihre unzähligen Sommersprossen geerbt.

»Na, wie war der erste Tag? Bist du allein?« Ulla will ihr einen Kuss auf die Stirn geben, aber Fritzi rauscht förmlich an ihr vorbei in die Küche.

»Siehst du noch jemanden außer mir?!«, gibt sie pampig zurück und bereut es im gleichen Augenblick. Fritzis Blick fällt auf den Tisch. Ihre Mutter hat für vier gedeckt.

Ulla lüpft die Brauen. »Na holla, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«

In diesem Moment kommt Marlene in die Wohnküche gestürmt. »Warum hast du nicht auf mich gewartet?«, beschwert sie sich.

»Vergessen.«

»Du hast mich vergessen?« Marlene gibt sich keine Mühe, den vorwurfsvollen Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen.

»Entschuldige, es war einfach …« Sie zögert.

»Es war was?!«

»Ein richtiger Scheißtag!« Fritzi lässt sich bedröppelt auf einen Stuhl fallen.

»Was ist denn passiert?«, fragt Marlene etwas besänftigt. »Und wo ist Lou?«

»Habt ihr euch gestritten?«, will Ulla wissen.

»Ich weiß es nicht.«

»Du weißt nicht, wo sie ist, oder du weißt nicht, ob ihr euch gestritten habt?«, hakt Marlene nach.

»Beides.«

Ulla stellt eine dampfende Auflaufform mit Lasagne auf den Tisch. »Wie beides? Wie geht das denn?«

Fritzi zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es einfach nicht.«

 

Marlene setzt sich auf ihre eine und Ulla auf ihre andere Seite. Fritzi erzählt von der Klassenaufteilung, von ihrem neuen Blödmann von Lehrer, von Lou und von Emma.

Als sie sich alles von der Seele geredet hat, ist Marlene fuchsteufelswild. »Soll ich dir mal was sagen?«, sie wartet Fritzis Antwort nicht ab. »Lou ist für mich gestorben!« Sie haut mit der Faust auf den Tisch, Gläser und Geschirr scheppern. Fritzi sucht den Blick ihrer Mutter. Die sitzt mit nachdenklicher Miene vor ihr. Ihre verspannte Stirn wirft eine Falte. Marlene gibt ein heftiges Schnauben von sich. »So eine Verräterin!« Dankbar für die Loyalitätsbekundung ihrer kleinen Schwester lächelt Fritzi und Marlene legt ihr den Arm um die Schultern. »Das hast du nicht verdient, Streit hin oder her!«

»Das würde ich aber auch mal sagen!«, klinkt sich Ulla ein. »Schließlich war die ganze Latein-Sache doch ihre Idee, oder?«

Fritzi nickt.

»Dass sie so eine Nummer abzieht. Kaum zu fassen.«

In diesem Augenblick kommt Sven in die Küche, die Hände voll mit Tüten aus dem Großmarkt. »Hab ich was verpasst?«

»Lou hat Fritzi verraten!«, tönt Marlene.

»Wie?« Sven sieht Fritzi entrüstet an.

»Sie ist jetzt doch in Französisch«, murmelt Fritzi kleinlaut.

»Und du?«, fragt Sven.

»Allein in Latein.«

»Diese Mistbiene!«, schimpft er. »Lässt dich einfach allein?«

»Leider nicht ganz allein. Torben, Yessin und Bo sind mit mir in der Klasse gelandet.«

»Das wird ja immer besser!«, stöhnt Ulla.

»Lou hat dich einfach richtig abserviert!«, führt Marlene etwas zu dramatisch aus.

Ulla legt ihr beschwichtigend die Hand aufs Knie. »Ist gut, Lene, ich glaube, wir haben es alle verstanden und es ist auch so schon schwer genug für deine Schwester.«

»Vielleicht ist es ja auch meine eigene Schuld.«

»Wie bitte sollst du daran schuld sein, dass Lou dir keinen reinen Wein einschenkt?« Ullas Stimme bebt sachte, wie sie es immer tut, wenn sie wahrhaft aufgebracht ist.

»Aber was soll ich denn jetzt machen?«

»Na wir gehen zur Schulleitung und sagen, dass du nicht in der Lateinklasse bleiben willst, ist doch völlig klar!«, antwortet Sven prompt.

»Das hab ich schon versucht.«

»Dann wechselst du die Schule!«

»Och nööö!«, protestiert Marlene.

»Du willst, dass ich auf diese private Spießerschule gehe?«

»Wieso nicht?«

»Wir können uns das nicht leisten, Sven. Was willst du denn, Fritzi?«

Sie zuckt mit den Schultern. Eigentlich will sie einfach nur, dass alles wieder so ist wie immer.

»Aber wenn du doch dahin willst«, wendet sich Sven an Fritzi, »dann kriegen wir das Finanzielle irgendwie hin!«

»Sven!«

»Es geht hier um unsere Tochter, Ulla.«

»Trotzdem will ich nicht, dass du versprichst, was du nicht halten kannst.«

»Nicht streiten! Ich will da sowieso nicht hin.«

»Ein Glück!«, stößt Marlene erleichtert aus.

Für einen Moment, der so zäh ist wie Kaugummi, sagt niemand ein Wort.

»Gib dir selbst und deiner neuen Klasse einfach ein bisschen Zeit. Ich bin sicher, du findest Freundinnen und wenn es nur eine ist«, versucht Ulla, ihr Mut zu machen.

»Und wenn es keine ist, hast du ja immer noch mich!«, gibt Marlene zu bedenken und zwinkert ihr zu.

»Ein Glück!«, antwortet Fritzi halb im Ernst, halb ironisch.

»Oh manno, du bist so fies. Wozu hat man denn eine Schwester, wenn man nicht mit ihr befreundet sein darf?«

Fritzi nimmt Marlene in den Arm und kitzelt sie ein bisschen. »Wir sind Schwestern, das ist tausendmal mehr als beste Freunde, du Gurke.«

»So gefällst du mir schon viel besser!«, sagt ihre Mutter und räumt den Tisch ab. »Spür mal in dich rein, was du heute noch brauchst, um morgen gestärkt zur Schule zu gehen, ja?«

Fritzi nickt.

»Genau, spür mal in dich rein«, feixt Marlene. »Wie wäre das zum Beispiel?« Sie fängt an Fritzi wild zu kitzeln, aber die lacht kaum. Marlene lässt entsetzt von ihr ab. »Mama, es steht wirklich schlecht um Fritzi!«

»Den Eindruck habe ich auch!«, gibt Ulla besorgt zu. »Soll ich dich zur Baracke fahren? Dann könntest du eine Runde longboarden?«

Fritzi schluckt. Wenn Mama das freiwillig anbietet, muss sie wirklich elend aussehen. Aber bei dem Gedanken an die neue Strecke zieht sich ihr Herz zusammen wie eine kleine, schrumpelige Rosine. »Mir ist heute gar nicht nach boarden.«

Ihre Eltern tauschen einen besorgten Blick.

»Lass uns wissen, was du brauchst, ja?«

Fritzi nickt und verlässt die Küche.

»Morgen sieht die Welt bestimmt ganz anders aus!«, ruft Sven hinter ihr her.

»Hoffentlich«, murmelt Fritzi und verschwindet in ihr Zimmer.


CHAOS


Am nächsten Morgen wird Fritzi unsanft aus dem Schlaf gerissen. Marlene fummelt in ihrem Gesicht herum.

»Aua!«, stöhnt Fritzi total verschlafen. »Was machst du denn da?« Sie zieht sich schützend ein Kissen über das Gesicht.

»Maaa-maaa, ist es normal, dass Pickel wehtun?«, ruft Marlene durch die angelehnte Zimmertür in den Flur.

Fritzi reißt die Augen auf. »Pickel? Wieso Pickel?«

Marlene zeigt bedeutungsvoll auf ihr Kinn. »Vielleicht ist es gar kein Pickel, sondern ein bösartiges Geschwür, oder dir wächst da ein drittes Auge, oder du kriegst einen Frauenbart, so wie Frau Peschel vom Fischgeschäft. Mama sollte sich das ansehen, glaub mir.«

Fritzi berührt sachte ihr Kinn. Sie spürt förmlich, wie es dort unter ihrer angespannten Haut pulsiert. Mit einem Satz ist sie auf den Beinen, läuft aus dem Zimmer und eilt durch den Flur ins Bad. Der Spiegel zeigt das volle Ausmaß der Katastrophe: Ein rot glühender Pickel.

»Nicht gerade ein Einsteigermodell, wenn du mich fragst!«, kommentiert Marlene ungefragt.

Sie hat recht. Der Pickel sieht aus wie ein Vulkan, der jeden Augenblick ausbrechen könnte.

»Soll ich ihn dir ausdrücken?«

»Iiih. Du bist so eklig, Lene!«

»Ich finds auch eklig, echt, aber für dich würde ich das Opfer bringen!«

»Du bist zu gut zu mir«, gibt Fritzi ironisch zurück.

Marlene grinst breit.

Beim Anblick ihres Kinns wird Fritzi heiß und kalt. Sie legt sich selbst die Hand auf die Stirn. »Ich glaub, ich habe Fieber.«

»Maaa-maaa«, ruft Marlene in den Flur. »Fritzi hat Fieber!«

Ulla kommt, in ein Handtuch gewickelt, ins Badezimmer. »Hat er schon ein weißes Häubchen?«

»Mama! Iiih!«, stöhnt Fritzi.

Ulla schiebt Marlene beiseite, um die Stelle genauer zu begutachten. »Ist ja ein ganz schöner Brummer.«

»Sag bitte nicht Brummer!« Fritzi schließt angewidert die Augen.

»Brummer? Was für Brummer? Haben wir ein neues Hornissennest?«, ruft Sven aus dem Flur und kommt direkt angelaufen. Ein Blick auf Fritzis Kinn verschlägt ihm die Sprache. »Oh.«

»Will vielleicht auch noch einer anfassen?!«, fragt Fritzi aufgebracht.

Marlene hebt begeistert die Hand. »Ich!«

»Ich mach dann mal Frühstück, ja?« Sven verschwindet Richtung Küche und lässt die Winter-Frauen im Badezimmer zurück.

Ulla dreht Fritzis Kinn ins Licht. »Keine Sorge, mein Schatz, den können wir abdecken.«

Marlene reibt sich voller Vorfreude die Hände. »Jetzt geht es deinem Freund an den Kragen.«

»Das ist nicht mein Freund!«

»Was bist du denn so?«, schnauft Marlene beleidigt.

»Hast du mich mal angeguckt?«

Marlene zuckt verständnislos mit den Schultern. »Sei doch froh. Das ist der erste Vorbote deiner Pubertät, jetzt gehts endlich los!«

Fritzi sieht nicht begeistert aus, im Gegenteil.

Marlenes Augen hingegen leuchten, als sie aufzählt: »Bald kriegst du einen richtigen Busen und hast deinen ersten Kuss und dann kriegst du auch noch deine Periode!«

»Bloß nicht!«

»Ich wünschte, bei mir würde es auch schon losgehen.«

»Du spinnst!«, murmelt Fritzi.

»Wann kriegt man denn seine Tage, Mama?«

»Meistens zwischen elf und vierzehn.«

»Und den ersten Pickel?«

»Auch so um den Dreh.«

Marlene sieht ihre Schwester mit einem verschwörerischen Blick an. »Wenn was bei dir passiert, erzählst du es mir sofort, okay? Und ich dir auch.«

»Wenn was passiert?«

»Irgendwas von alldem! Wenn du Brüste kriegst oder deine Tage oder wenn du dich verliebst! Ich meine –, jetzt wo du Lou nicht mehr hast, ist ja klar, dass du jemand Neues zum Reden brauchst, und ich kann das überbrücken! Echt! Ich wär ’ne gute beste Freundin für dich! Bitte sag Ja, bitte!«

»Ich überleg es mir, okay?« Schon als die Worte ihren Mund verlassen, tut es Fritzi leid, denn Marlene, die offenbar auf ein begeistertes »Ja, ich will!« gehofft hatte, sieht sie enttäuscht an, dreht sich um und verlässt das Badezimmer.

Ulla tupft und schmiert den Inhalt unzähliger Tuben und Töpfchen auf Fritzis Kinn. Fritzi versucht, einen Blick in den Spiegel zu werfen.

»Warte, bin gleich fertig.« Ihre Mutter pudert die Stelle mit Babypuder ab und klatscht in die Hände. »Sooo, schon besser, oder?«

Fritzi schaut sich im Spiegel an. Es ist überhaupt gar kein bisschen besser. »So geh ich nicht.«

»Wie? So gehst du nicht. In die Schule?«

»Ich mach mich doch nicht lächerlich, Torben hat es eh schon auf mich abgesehen. Ich bin da ganz alleine und du hast selbst gesagt, ich soll neue Freunde finden. Wenn ich aussehe wie Rudolf das Rentier, dem die rote Nase aufs Kinn gerutscht ist, will bestimmt niemand mit mir befreundet sein. Im Gegenteil, das hängt mir dann bis in alle Ewigkeit nach und steht in fünf Jahren in meinem Abibuch.«

»Bei aller Liebe, mein Schatz, aber wegen dieses Pickels bleibst du heute sicherlich nicht zu Hause!«

Fritzi sieht ihre Mutter flehend an. »Ich zieh auch alle Gästebetten ab. Bitte! Ich kann so nicht vor die Tür.«

Ulla seufzt verständnisvoll, aber erklärt dann: »Eine wahre Schönheit kann nichts entstellen.«

»Dann kleben wir ein Pflaster drüber, ja? Ich könnte sagen, dass ich beim Longboarden aufs Kinn gefallen bin. Das ist tausendmal cooler als dieser Vulkanpickel!«

»Hier geht es nicht um Coolness, hier geht es um deinen Körper! Und der ist ganz wunderschön, so wie er ist.«

»Ja-ha, weiß ich ja, aber dieser Pickel ist kein Teil von meinem Körper.«

»Doch. Und es ist ganz wichtig, dass du zu deinem Körper stehst, ganz egal, was er hervorbringt.«

Während Ulla spricht, steigt in Fritzi unaufhaltsam Wut auf. Warum haben Eltern keinen Stummschalter?!

»Du wirst lernen, die Signale zu verstehen, die dir dein Körper sendet. Dieser Pickel wird nicht der einzige bleiben, und du wirst lernen müssen, mit ihnen umzugehen.«

Fritzi schnaubt, aber Ulla bleibt liebevoll und gelassen. »Wenn du möchtest, stecke ich dir die Haare schön hoch, das lenkt die Aufmerksamkeit ein bisschen um?«

»Oh ja, das ist doch ’ne tolle Idee!«, klinkt sich Marlene wieder ein.

Eine halbe Ewigkeit später verlässt Fritzi mit aufwendiger Hochsteckfrisur die Grüne Gans. Frustriert wirft sie ihr Longboard auf den Boden und betrachtet sich selbst in der Kamera ihres Handys.

»Ich sehe aus wie eine Pickelkuh mit Wischmopp-Frisur.«

»Fritzi!«, ertönt die Stimme ihres Vaters.

Sie steckt eilig ihr Handy weg. »Ja, ich fahr doch schon!«

Sven kommt zu ihr. »Warte! Du hast was vergessen.« Er hält ihr eine Brotdose hin.

»Das ist nicht meine, ich hab die grüne schon eingesteckt.«

»Glaub mir, das ist deine!« Sven drückt ihr die Brotdose mit Nachdruck in die Hand. »Wenn du um die Ecke bist, mach die Haare wieder auf, ja? Deine Mutter hat sich da irgendwie verkünstelt.«

Ulla steht winkend am Fenster, Sven und Fritzi winken zurück.

 

»Und jetzt los, nicht dass du zu spät kommst!«

»Danke, Papa.«

Er klopft ihr zum Abschied auf die Schulter. »Ich hoffe, dein Tag heute wird besser als gestern! Lass dich nicht unterkriegen!«

Fritzi steigt auf ihr Board und fährt los. Im Rollen lugt sie in die Brotdose – ein Päckchen Pflaster liegt darin. Papa ist der Beste!

Mit offenen Haaren und einem Pflaster auf dem Kinn fährt Fritzi durch das große, gusseiserne Tor der Herzberg Gesamtschule. Sie lässt den Blick über die ankommenden Schüler schweifen.

KRAWUMM! Etwas reißt sie mit voller Wucht von den Füßen. Ein lautes Scheppern, ein harter Aufprall. Umstehende kreischen. Fritzis Kopf knallt heftig auf den Boden. Heiße Flüssigkeit läuft über ihren Arm und schwappt ihr ins Gesicht. Für einen Augenblick sieht sie Sternchen, dann schmeckt sie Kakao.

Hat sie sich den Kopf aufgeschlagen? Ist sie ohnmächtig? Alles schmerzt, mit ihrem Knie stimmt etwas nicht und ihr Ellbogen blutet. Fritzi blinzelt. Sie liegt zusammen mit zwei weiteren Mädchen in ein Fahrrad verknotet auf dem Boden. Überall sind Scherben verteilt, anscheinend von einer kaputten Tasse. Dazwischen ein Lippenstift, ein paar Tampons, Schminkzeugs und Fritzis altes Handy. Das Display ist gesprungen.

Sie spürt die Blicke der umstehenden Schüler auf sich, einige lachen. Sie muss sofort an ihr Pflaster denken. Klebt es noch? Hoffentlich ist es nicht verrutscht! Sie würde am liebsten im Erdboden versinken. Ein paar Schüler zeigen sogar mit dem Finger auf sie. Was für ein Chaos! Wenn jetzt auch noch ihr Vulkanpickel unter dem Pflaster zum Vorschein kommt, hat sie genug Lästermaterial für das ganze Schuljahr geliefert!

Oder hat vielleicht sowieso schon der gesamte Jahrgang mitbekommen, dass Fritzi und Lou, das Superduo, seit Neuestem getrennte Wege gehen? Sie versucht, die Hand zu ihrem Kinn zu führen und das Pflaster zu checken, doch ihre Finger klemmen irgendwo in den Speichen des Fahrrads fest.

Sie bewegt ihren Kiefer hin und her. Ein Glück, sie spürt die Klebestreifen des Pflasters auf der Haut, Vulkanpickel-Präsentationsgefahr gebannt! Sie atmet auf. Doch so langsam meldet sich der Rest ihres Körpers. Sie kann sich nicht rühren, nicht einmal zappeln. Was ist denn überhaupt passiert?

»Hal-loo-hoo, könnt ihr ma’ aufstehen!? Das tut echt weh hier unten«, ruft sie dem flauschigen, fliederfarbenen Pullover entgegen, der ihr die Sicht verdeckt.

Eine Stimme antwortet: »Ach du Schande, das tut mir unendlich leid! Meine Bremse hat nicht funktioniert. Seht ihr meine Brille irgendwo?«

Die Stimme kommt Fritzi bekannt vor. Ist das Peti? Etwas bewegt sich, ein Pedal des Fahrrads schiebt sich Fritzi in die Seite. Sie späht am fliederfarbenen Pullover vorbei. Peti krabbelt mühsam aus dem Fahrradknoten heraus. Ohne Brille ist sie kaum wiederzuerkennen. Blind wie ein Maulwurf tastet sie überall danach. Der fliederfarbene Pullover bewegt sich abermals und Fritzi erkennt Chiara Vanzetti. Kakao tropft von ihren Händen.

»Ähm … könntest du mal aufstehen, du sitzt auf meinem Knie«, meldet sich Fritzi vom Boden.

Chiara schluchzt: »Kann nicht.«

»Steh auf! Du tust mir weh, verdammt.«

Chiara rutscht ein Stück zur Seite und gibt zumindest das Fahrrad frei. Fritzi schiebt das Rad mit aller Kraft von sich herunter und schnappt nach Luft.

»Du sitzt immer noch auf meinem Knie!« Fritzi drückt Chiara hoch und rappelt sich auf.

KRACK!

»Mist!«

»War das meine Brille?«, fragt Peti entsetzt. Fritzi schluckt. Die umstehende Schülerschar kriegt sich kaum ein vor Lachen. Ist ihr Pflaster etwa jetzt verrutscht? Nein! Ihre Mitschüler lachen weder über sie noch über die Brille suchende Peti. Denn da ist ein halb nackter Mädchen-Po! Chiaras Hose ist genau in der Mitte gerissen und zeigt zu allem Übel auch noch ihren Schlüppi mit pinken Herzchen.

»Ach du Schande«, murmelt Fritzi und schaltet blitzschnell. Sie zieht ihren Sweater über den Kopf und schlingt ihn Chiara um die Hüften. »Keine Sorge, die haben fast nichts gesehen!«

»Meinst du?«, fragt sie verunsichert.

Fritzi nickt, obwohl sie in Wahrheit gar nicht sicher ist. Hauptsache, diese Deppen haben kein Foto gemacht. Fritzi hebt Petis Brille auf und drückt ihr die Teile in die Hand.

»Oh Mist!«

»Tut mir leid.«

Peti hält sich das verbogene Gestell vor die Augen und sieht Fritzi an. »Mir tuts leid. Meine Bremsen, ich weiß auch nicht, was los war. Es ging alles so schnell!«

Die drei Mädchen blicken sich um. Ihre Sachen liegen überall verstreut. Fritzi greift nach ihrem Handy und begutachtet missmutig das gesprungene Display.

Chiara schluchzt.

Fritzi sieht sie an. »Deine Sachen?«

Chiara nickt.

»Nicht bücken, klar?«, raunt sie ihr zu und sammelt alles auf.

»Danke«, flüstert Chiara ergeben und zieht den Knoten von Fritzis Sweatshirt noch ein wenig enger.

Hoffentlich denken ihre Mitschüler jetzt nicht, dass dieses peinliche Zeug ihr gehört, bloß weil sie es aufsammelt. Auf die Idee zu helfen, kommt sonst niemand. Typisch. Yessin, Bo und Torben bewerfen sich mit den Tampons. Die anderen tuscheln und kichern.

Endlich entdeckt Fritzi ihr Longboard, will es sich schnappen und berührt dabei eine andere Hand. Sie schaut nach oben, geradewegs in die warmen braunen Augen von Jannik. Sein Mund verzieht sich zu einem freundlichen Lächeln, irgendetwas daran macht Fritzi froh. Zumindest für eine Sekunde.

»Alles klar bei dir?«, raunt er. Seine Stimme ist überraschend tief, trotzdem weich im Klang.

Sie nickt.

»Cooles Board«, sagt er und wendet sich Peti zu, bevor Fritzi noch etwas erwidern kann.

Sie beobachtet, wie er seiner Schwester aufhilft, sich ihre Wunden genauer ansieht und die Kette des Fahrrads wieder einhängt. Da tippt ihr jemand auf die Schulter.

»Fritzi«, fragt Chiara schüchtern, »weißt du, wo wir Deutsch haben?«

»Hier lang.« Sie stapft los, Chiara folgt ihr und wringt dabei die Ärmel ihres fliederfarbenen Pullovers aus. Kakao tropft auf den Boden.

»Sollen wir vorher noch aufs Mädchenklo, damit du deinen Pulli auswaschen kannst?«

Chiara nickt.

Sie humpeln ein paar Meter nebeneinanderher zum Mädchenklo. Fritzi hält die Tür auf.

»Ich glaube, du musst ins Sekretariat«, sagt Chiara.

»Wieso?«

»Schau dich mal an!«

Fritzi folgt ihrem Blick. Blut läuft ihr in langen Fäden über den Arm. Ihre Jeans und sogar ihre Sneaker sind schon voller Flecken.

»Oh.«

»Tut das nicht weh?«

Fritzi schüttelt den Kopf.

»Bestimmt das Adrenalin. Soll ich dich begleiten?«

»Nicht nötig, ich hab Pflaster dabei.« Sie hat keine große Lust darauf, im Sekretariat eventuell noch Frau Doktor Fleck zu begegnen. Sie lässt sich von Chiara den Ellbogen verarzten.

»Du mit deinen Pflastern überall …«

»Oh nein«, stöhnt Fritzi, »jetzt seh ich aus wie ein Pflaster-Opfer, oder?«

»Nein, alles gut. Du siehst …«, Chiara betrachtet sie. »Du siehst cool aus, ziemlich draufgängerisch.«

Fritzi grinst verschmitzt.

»Ohne die neuen Pflaster hätte ich gewettet, dass du da am Kinn bloß einen Pickel versteckst, aber jetzt wirkt es, als hättest du ’n krassen Sturz mit deinem Skateboard hingelegt.«

»Cool!«, gluckst Fritzi. »So hat unser Unfall wenigstens ein Gutes.«

»Wieso?«

»Na, weil ich hier wirklich einen Pickel verstecke. Richtig fieser Brummer, sag ich dir.«

Chiara und Fritzi prusten beide los vor Lachen.

Fritzi fängt sich als Erste. »Also wollen wir dann los?«

»Ähm … wie ist das mit meiner Hose?«

»Alles bestens mit Pulli davor.«

»Und wenn ich mich bücke?«

»Mach mal.«

Chiara setzt ihren Rucksack ab und bückt sich. Eine weiße Unterhose mit quietschroten Kussmündern und pinken Herzchen kommt zum Vorschein.

»Bis hier ists in Ordnung, aber wenn du weiter runtergehst, wirds kritisch.«

Kurz darauf betreten die beiden den Klassenraum. Der Unterricht hat längst angefangen.

»Hallo, Frau Fiedelbrecht, entschuldigen Sie bitte die Verspätung, wir hatten einen kleinen Unfall und mussten uns noch verarzten.«

Bei ihrem Anblick wird die zierliche Frau Fiedelbrecht ganz blass im Gesicht. »Wo kommt denn all das Blut her, Fritzi?«

Fritzi hebt den Ellbogen.

»Hier, vielleicht kriegst du deine Blutung damit in den Griff«, tönt Torben aus der letzten Reihe und wirft eine Handvoll Tampons quer durch das ganze Klassenzimmer. Lautes Gelächter ertönt. Ohne darüber nachzudenken, hebt Chiara einen Tampon auf, der genau vor ihren Füßen gelandet ist. Dabei verrutscht der Pullover und die ganze Klasse kann ihren weißen Slip mit den roten Kussmündern darauf sehen.

»Vanzetti hat den Arsch offen!«, grölt Torben begeistert.

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